Bernd Nitzschke Die Bedeutung der Sexualität im Werk Sigmund Freuds 1 Einleitende Bemerkungen Die
Bedeutung der Sexualität im Werk Sigmund Freuds zu bestimmen trifft auf
eine Reihe von Schwierigkeiten, die nur aufzuzeigen, nicht aber zu lösen
sind. Diese Schwierigkeiten sind zunächst einmal unabhängig vom Werk
Sigmund Freuds selbst zu sehen. Der Begriff «Sexualität» wird im
vorwissenschaftlichen wie auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch in
derart vielschichtigem Sinne verwendet, daß es unmöglich erscheint,
ihn exakt einzugrenzen und inhaltlich zu bestimmen. Stoller (1968) meint
sogar, dieser Begriff beziehe sich auf derart viele und unterschiedliche
Erscheinungen, daß er losgelöst von einer exakt bestimmten
Fragestellung - eigentlich überhaupt keinen Inhalt mehr kommuniziere.
Schließlich ist es schwer, die Frage zu beantworten, was unter Sexualität
zu verstehen sei, weil bis heute keine übergreifende wissenschaftliche
Theorie vorliegt, innerhalb derer das Problem der Sexualität
verbindlich darzustellen wäre (vgl. z. B. Schmidt 1975) Nun kann man zwar die von Freud
entwickelte psychoanalytische Theorie u. a. auch als einen - wenngleich
nicht abgeschlossenen - Versuch begreifen, das Problem der Sexualität
innerhalb eines relativ abgegrenzten theoretischen Rahmens darzustellen.
Es zeigt sich aber bei einer genaueren Analyse dieser Theorie, daß
gerade Freuds Versuch, Problem der menschlichen Sexualität näher zu
beschreiben, dazu führte, den Begriff der Sexualität immer mehr
auszudehnen, bis er sich schließlich deutlich philosophischen
Vorstellungen vom «Eros» annäherte. Damit wird aber eine streng
wissenschaftliche Definition des Begriffs «Sexualität» wieder in
Frage gestellt. Freuds Auffassung der Sexualität
zeichnet sich durch eine Widersprüchlichkeit aus, die zwei
unterschiedlichen, einander entgegengesetzten Ausgangspositionen
zuzuschreiben ist. Zum einen versuchte Freud das Problem unter streng
naturwissenschaftlichen Fragestellungen anzugehen. Er sah in der
Biologie und Physiologie eine Grundlage der theoretischen Bemühungen
hinsichtlich des Problems der Sexualität gegeben. Da er aber zum
anderen im wesentlichen an den psychischen Faktoren der Sexualität
interessiert war, versuchte er, eben mit Hilfe der psychoanalytischen
Methode, die Transformationen somatischer in psychische Faktoren
darzustellen. Dies führte ihn in letzter Konsequenz zu einer Art
Triebmythologie, die zwar einen der Grundsteine der von Freud
entwickelten psychoanalytischen Theorie abgibt, die es aber gleichzeitig
sehr erschwert, abgegrenzt zu beschreiben, was nach Ansicht Freuds unter
den Begriff der Sexualität fällt. Insbesondere die im Zusammenhang mit
der Libidotheorie, die ihrerseits das Problem der menschlichen Sexualität
zum Ausgangspunkt hat, entwickelten Konzepte zeigen, in welch weit
verzweigtem Sinn Freud die menschliche Sexualität mit der Entwicklung
der Persönlichkeit verbindet. Die erwähnte Widersprüchlichkeit in
Freuds Auffassung der Sexualität findet eine Art Auflösung im Postulat
des Unbewußten. Freud grenzt, nicht nur hinsichtlich des Problems der
Sexualität, eine eigenständige «psychische Realität» von einer «materiellen
Realität» ab. Er steht damit in einer Tradition, die für die abendländische
Philosophie charakteristisch ist. In dem von Freud angenommenen Unbewußten
überschneiden sich nun beide Arten der Realität. Das Unbewußte
erscheint als eine Form von Grenzbereich zwischen Somatischem und
Psychischem. Das Unbewußte ist nach Auffassung Freuds das eigentlich
reale Psychische, es enthält aber seinerseits Triebrepräsentanzen,
deren Ursprung somatischer Natur ist (Freud 1915 d). In diesem
Zusammenhang weist Erikson (1957) daraufhin, daß Freuds Vorstellungen
vom eigentlich realen Psychischen, vom Unbewußten also, in enger
Beziehung zu der von Schopenhauer angenommenen Kraft des «Willens»
stehen. Da aber die Sexualtriebe in enger Beziehung zum unbewußten
System zu sehen sind, deren «Kraft», die Libido, eine spezifische Form
psychischer Energie, dort eine Reihe charakteristischer Umsetzungen erfährt
und vom unbewußten System aus auch das scheinbar asexuelle Verhalten
des Menschen weitgehend determiniert, muß der psychische Faktor, den Freud
der Sexualität des Menschen zuerkennt, ganz unter dem Blickwinkel des
von Freud angenommenen Unbewußten interpretiert werden. Von der Annahme
der psychischen Realität des Unbewußten zu den bereits erwähnten
triebmythologischen Vorstellungen Freuds im Zusammenhang mit dem Problem
der Sexualität führt somit eine Art zwangsläufiger Verbindung.
Zwischen der anzunehmenden somatischen Grundlage der menschlichen
Sexualität und den von Freud aufgestellten triebmythologischen Hypothesen
besteht, berücksichtigt man das Postulat des Unbewußten, nicht mehr
die direkte Widersprüchlichkeit, die man zunächst zwischen
naturwissenschaftlichen und eher philosophischen Ausgangsfragestellungen
annehmen sollte. Für eine spezifische Abgrenzung des Problems der
Sexualität im Werk Freuds ergeben sich damit aber kaum überwindbare
Schwierigkeiten, weil schwer zu bestimmen ist, wo die Sexualität im
engeren Sinne aufhört eine für das übrige psychische Geschehen
entscheidende Rolle zu spielen. Unter der Voraussetzung der beiden
genannten Aspekte - des naturwissenschaftlichen wie des
triebmythologisch-philosophischen -, die Freuds Auffassung der Sexualität
charakterisieren, läßt sich vorweg sagen, daß für Freud Sexualität nicht
gleichzusetzen ist mit
explizitem sexuellen Verhalten. Freuds Begriff der Sexualität reicht
damit also weit über jenen hinaus, der in Standardwerken der
Sexualforschung (etwa: Ford und Beach 1951; Kinsey u. a. 1948, 1953;
Masters und Johnson 1966) oder in einigen motivationspsychologischen
Theorien über sexuelles Verhalten (Whalen 1966, Hardy 1964) verwendet
wird. Das menschliche Sexualverhalten, das mit
der Reizung und Erregung der Sexualorgane und schließlich mit
irgendeiner Form explizit sexueller Aktivität, im «Normalfall» mit
heterosexuellem Koitus, verbunden ist, steht nicht im Mittelpunkt des
von Freud verwendeten Begriffs der Sexualität. Dies läßt sich in
dieser Ausschließlichkeit vielleicht nicht für manche vor 1900
erschienenen Arbeiten Freuds behaupten, trifft aber auf das Werk Freuds
spätestens seit Erscheinen der «Traumdeutung» (1900) zu, in der Freud
das Problem der menschlichen Sexualität bereits vollständig in seine
Auffassungen über den Aufbau und die Funktionsweise des psychischen
Apparates integriert. Hier beschreibt Freud auch die Ödipuskonstellation
bereits als ein im Kern «sexuelles» Problem. Diese Situation ist wohl
ausgezeichnet durch libidinöses - «sexuelles» - Begehren des Kindes,
nicht aber notwendig verbunden mit tatsächlichen sexuellen Aktivitäten
(im expliziten Sinne) zwischen dem Kind und dem von ihm begehrten
Elternteil (Sexualobjekt). Der psychische Faktor ist im Zusammenhang mit
der Ödipuskonstellation der entscheidende. Freud schlägt später selbst vor, den
Begriff der Sexualität, soweit er innerhalb der psychoanalytischen
Theorie verwendet wird, durch den Begriff «Psychosexualität» zu
ersetzen (1910 d). Dadurch solle vermieden werden, einseitig den
somatischen Aspekt der Sexualität in den Vordergrund zu stellen, da -
insbesondere auch im Zusammenhang der Behandlung psychisch Kranker - der
psychische Aspekt der Sexualität von besonderer Bedeutung sei. Es könne,
so führt Freud aus, z. B. durchaus normaler Sexualverkehr vorliegen und
dabei dennoch seelische Unbefriedigung vorhanden sein. Im
psychoanalytischen Sinne ist daher der psychische Aspekt der Sexualität,
der von Freud bis in die Kindheit, aber auch bis in die Vorgeschichte
des Menschen zurückverfolgt wird, wichtiger, als der im engsten Sinne
zu verstehende somatische Aspekt der Sexualität. «Wer diese Auffassung
der Psychosexualität nicht teilt, hat kein Recht sich auf die Lehrsätze
der Psychoanalyse zu berufen, in denen von der ätiologischen Bedeutung
der Sexualität gehandelt wird. Er hat sich durch die ausschließliche
Betonung des somatischen Faktors am Sexuellen das Problem gewiß sehr
vereinfacht, aber er mag für sein Vorgehen allein die Verantwortung
tragen», wie Freud im Hinblick auf eine ausschließlich somatische
Behandlung psychosexueller Störungen bemerkt (1910 d, 121). Die der
Neurose zugrunde liegende Unterdrückung und Hemmung von Triebimpulsen
ist also nicht dann schon aus der Welt geschafft, wenn beispielsweise
die Erektions- oder Orgasmusfähigkeit vorhanden, bzw. wiederhergestellt
ist. Vielmehr sollen die ursprüngliche Intensität des emotionalen und
affektiven Erlebens und damit verbunden die Liebesfähigkeit des
Patienten wiederhergestellt werden. Dieses therapeutische Ziel mag
erkennen lassen, in welchem Sinn der von Freud verwendete Begriff der
Psychosexualität zu verstehen ist. Darüber hinaus enthält diese
Zielsetzung einen für jede Diskussion des Problems «sexueller
Befreiung» wichtigen Gesichtspunkt. Auf den mit dieser Auffassung der
Psychosexualität verbundenen Problemkreis, der besonders mit der
Umgestaltung der infantilen Sexualität zur reifen Psychosexualität des
Erwachsenen verbunden ist, wird im Verlauf der folgenden Abschnitte
wiederholt zurückzukommen sein. Insofern also Freud das Problem der
Sexualität im umfassenden Sinne unter einer psychologischen
Fragestellung begreift, die auch dort bereits angesprochen wird, wo
Freud - wie vor 1900 - mit Hilfe zum Teil relativ einfacher
mechanistischer Denkvorstellungen etwa frustrane Erregung bzw. sexuelle
Erregungsstauung und psychische Krankheit miteinander zu verbinden
sucht, ist es kaum möglich, Freuds Auffassung der Sexualität ohne Berücksichtigung
fast sämtlicher wichtiger psychoanalytischer Grundkonzepte
darzustellen. Freud hat keine abgeschlossene Sexualtheorie aufgestellt,
die neben oder außerhalb der psychoanalytischen Theorie Gültigkeit besäße
und abzuhandeln wäre. So schreibt Freud im Vorwort zur dritten Auflage
(1914) der «Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie» (1905 a), die
dortigen Ausführungen könnten nicht den Anspruch einer «Sexualtheorie»
erfüllen und ließen sich auch nicht zu einer solchen erweitern.
Ellenberger (1970, dt. Ausg., 691) stellt fest, die «Abhandlungen»
machten den Eindruck, als seien «sie ein Auszug aus einem ausführlichen
Buch und nicht selbst ein Originalwerk». Das «Originalwerk», zu dem
sich die «Abhandlungen» wie ein Auszug verhalten, ist aber die von
Freud entwickelte und im Laufe der Zeit mehrfach modifizierte
psychoanalytische Theorie, wie sie sich im Gesamtwerk Freuds darstellt
und wie sie sich in grundsätzlicher - wenngleich noch nicht voll ausgeführter
- Form bereits im «Entwurf einer Psychologie» (1895; veröffentlicht:
1962) oder in der «Traumdeutung» (1900) erkennen läßt. Diese
Behauptung, daß die «Abhandlungen» nur ein besonderes Stück der übergreifenden
psychoanalytischen Theorie darstellen, läßt sich auch insofern
rechtfertigen, als Freud bei jeder neuen Auflage der «Abhandlungen»
darum bemüht war, den jeweils erreichten Stand der psychoanalytischen
Forschung, soweit er für das Problem der Sexualität relevant war,
einzuarbeiten. Einen systematischen historischen Überblick der von
Freud in den «Abhandlungen» vorgenommenen Ergänzungen gibt Nagera
(1974). Wollte man also die Bedeutung der
Sexualität im Werk Freuds tatsächlich im ganzen Umfange darstellen,
ließe sich eine Diskussion der wichtigsten psychoanalytischen Konzepte
und Begriffe nicht vermeiden. Dies kann aber hier nicht geschehen; im
vorliegenden Beitrag soll dagegen vor allem eine interpretative Verknüpfung
der in Frage kommenden psychoanalytischen Konzepte versucht werden,
woraus dann die Bedeutung der Sexualität im Werk Freuds extrapoliert
werden kann. Was für das Problem der Sexualität
gilt, daß es nämlich ohne Berücksichtigung der psychoanalytischen
Theorie nicht sinnvoll zu begreifen ist, gilt auch umgekehrt: Die
wichtigsten psychoanalytischen Konzepte und Begriffe sind von Freud in
Auseinandersetzung mit dem Problem der Sexualität entwickelt worden.
Die psychoanalytische Theorie ist also in historisch-genetischer wie in
inhaltlicher Hinsicht aufs engste mit Freuds Auffassungen der Sexualität
des Menschen verbunden. Dies gilt vor allem für die von Freud
vertretene Neurosenlehre, für den von Freud angenommenen Gegensatz
zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip, der für die Neurosentheorie
wie für die Entwicklung des Ich eine entscheidende Rolle spielt,
weiterhin für die von Freud angenommene Entwicklung des Charakters und
die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit in die drei Instanzen des
Es, Ich und Über-Ich. Schließlich besitzen Freuds Auffassungen über
die Sexualität des Menschen grundlegende Bedeutung für seine
kulturkritischen Arbeiten. 2 Freuds Konzept der Sexualität Freud entwickelte sein Konzept der
Sexualität zunächst in enger Auseinandersetzung mit der Analyse
neurotischer Erkrankungen und erweiterte und differenzierte es dann im
Kontext seiner Untersuchungen über die Entwicklung der infantilen
Sexualität, die Funktionsweise des psychischen Apparates und den Aufbau
der Persönlichkeit. In einer Darstellung des menschlichen Sexuallebens,
der Freud in den «Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse»
(1916-17) ein eigenes Kapitel einräumt, vertritt Freud die Ansicht, man
könne die «normale» Sexualität nicht verstehen, wenn man die
krankhaften Gestaltungen des Sexuallebens nicht begreife. Wie psychische
Gesundheit und Krankheit im Allgemeinen, so sind nach Ansicht Freuds «normale»
und «abnorme» Manifestationen sexueller Triebregungen auch nicht
prinzipiell zu trennen. Lediglich quantitative, nicht aber originär
qualitative Faktoren sind für psychische Gesundheit und Krankheit -
auch auf dem Gebiet der Sexualität - ausschlaggebend. Mit dieser
Auffassung trat Freud den Entartungs- und Degenerationstheoretikern
des 19. Jahrhunderts entgegen, die beispielsweise zwischen sexuellen
Perversionen und normal genannten Manifestationen der Sexualität des
Menschen eine strikte Trennung vornahmen. Wenn sich Freud dem Problem der Sexualität
zunächst im Kontext der Analyse neurotischer Erkrankungen annähert, so
folgt er damit einer Vorgehensweise, die die wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit der Sexualität im 19. Jahrhundert insgesamt
charakterisiert. Die Sexualität des Menschen rückt im 19. Jahrhundert
unter dem Zeichen der Pathologie in den Blickpunkt des
wissenschaftlichen Interesses. Das epochemachende Werk Krafft-Ebings «Psychopathia
sexualis» (1886) drückt diesen Ausgangspunkt bereits im Titel aus. Dieser Ausgangspunkt ist auch für das
von Freud vertretene Konzept der Sexualität von nicht zu unterschätzender
Bedeutung. Zwar sind Freuds Arbeiten zum Problem der Sexualität weniger
durch die «Krankheits-Stilistik» gekennzeichnet, die Wettley und
Leibbrand (1959) für die wissenschaftliche Betrachtungsweise der
Sexualität im 19. Jahrhundert insgesamt als typisch ansehen, doch
Freuds Auffassungen über das Sexualleben des «Kulturmenschen» lassen
ihre Verwurzelung in der Analyse neurotischer Erkrankungen durchaus
erkennen. Freud charakterisiert die Sexualität des «Kulturmenschen»
wiederholt als eingeschränkte und unterdrückte Ausdrucksform eines
ursprünglich vitaleren und direkteren Trieblebens, das er dem fiktiv
angenommenen «Primitiven» oder «Urmenschen» unterstellt. Die
kulturelle Umformung der nach Freud anzunehmenden ursprünglichen
Triebkonstitution des Menschen trägt also - interpretiert man Freud
extensiv - Zeichen der Einschränkung, des Verfalls, vielleicht sogar
der Krankheit an sich. Die Neurotiker (bzw. Perversen) sind daher als
die Extreme kulturell bedingter Triebunterdrückung (bzw. deren
partieller Negation) anzusehen, die auch für den psychisch Gesunden
anzunehmen ist (vgl. Freud 1910 b; 1912 a). Neben dem genannten Sachverhalt, wonach
die Sexualität als Erkenntnisgegenstand der Wissenschaft - zunächst
der Psychiatrie - im 19. Jahrhundert im Zeichen ihrer Pathologie
auftritt, ist darüber hinaus von Bedeutung, daß die Sexualität des
Menschen im 19. Jahrhundert überhaupt Gegenstand wissenschaftlicher
Betrachtungsweise werden konnte. Offenbar hatte sich in den
Industriegesellschaften aufgrund des vorausgegangenen, die Etablierung
der bürgerlichen Gesellschaften begleitenden Umgestaltungsprozesses der
sozialen Beziehungen zwischen den Menschen das Problem der Sexualität
in dem uns vertrauten Sinne überhaupt erst entwickelt (van Ussel 1970).
Wenn das Triebleben des Menschen zu einem Problem hatte werden können,
dem nur noch durch wissenschaftliche Analyse (und ggf. Therapie) Abhilfe
zu schaffen war, so setzte dies voraus, daß eine völlig neue, der vorbürgerlichen
Gesellschaft noch nicht vertraute, Sichtweise der «Sexualität»
entstanden war. Wird Sexualität unter einer
wissenschaftlichen Perspektive wahrgenommen, so liegt darin ein zunächst
kaum auflösbarer Widerspruch. In der vorwissenschaftlichen Perspektive
repräsentiert die Sexualität des Menschen einen Bereich, der mit der
Vernunft bzw. der rationalen Durchdringung sehr wenig, hingegen mit den
Leidenschaften, dem religiösen Kult und dem «Dämonischen» der
menschlichen Natur sehr viel zu tun hat. Das Triebleben des Menschen zu
«analysieren» und wissenschaftlich zu erklären, setzt voraus, daß
man darauf vertraut, dieser Bereich sei der wissenschaftlichen Vernunft
tatsächlich zugänglich. Dies setzte Freud voraus, wenngleich er bei
einer näheren Analyse des Problems der Triebe doch wieder auf ältere,
vorwissenschaftliche, der analytischen Vernunft an sich nicht
entsprechende Konzepte zurückgegriffen hat, so etwa, wenn er im Spätwerk
die Sexualtriebe mit den platonischen Vorstellungen vom Eros in
Verbindung bringt (Freud 1920). Unter der Voraussetzung eines
historisch-materialistischen Ansatzes meint Dörner (1970, 129), «daß
<Sexualwissenschaft> ein Widerspruch in sich ist; denn schärfer
als sonstwo wird an ihr deutlich, daß der Gegenstand (die Sexualität),
will man ihm gerecht werden, das methodische Bemühen um ihn, also
<Wissenschaft> im konventionellen Sinne, notwendig sprengt». Es
liegt vielleicht im Gegenstand «Sexualität» begründet, daß Freud,
je mehr er sich damit auseinandersetzte, zunehmend mechanistische und
energetische Denkmodelle seiner Zeit, die er im naturwissenschaftlichen
Sinn auf das Problem der Sexualität zu übertragen suchte, aufgeben
oder doch erheblich modifizieren und ergänzen mußte. Seine Erweiterung
des Begriffs Sexualität zum Begriff der Psychosexualität und schließlich
der Übergang zum Begriff des Eros sind womöglich notwendiges Resultat
einer Interpretation der Sexualität, die tiefer reicht als die Erklärungen
der herkömmlichen Sexualforschung. Freuds triebmythologische
Vorstellungen könnten so als geradezu notwendiger Ausdruck der mit dem
Problem der Sexualität verbundenen und in den vorbürgerlichen und «primitiven»
Gesellschaften seit jeher angenommenen Transzendenz des Triebes
verstanden werden. Nicht nur die Sexualforschung, auch der
Begriff «Sexualität» entstand vermutlich erst «im Laufe des 19.
Jahrhunderts in den Industriegesellschaften» (van Ussel 1970, 8).
Bereits im 18. Jahrhundert taucht das Adjektiv «sexuell» auf, das im
damaligen Sprachgebrauch im wesentlichen Phänomene bezeichnet, die mit
dem Unterschied der Geschlechter verbunden sind. Der Begriff der
Sexualität, wie er sich im 19.Jahrhundert herausbildet und bis heute gültig
ist, faßt die «rein» sexuellen Komponenten zahlreicher Verhaltensweisen
und Erscheinungen zusammen, die in dieser - gleichzeitig isolierenden
und komprimierenden - Form zuvor nicht abstrahiert worden waren. Ein dem
Begriff Sexualität entsprechendes Wort, das in reiner Form alles
abstrahiert und zusammenfaßt, was mit der Geschlechtlichkeit des
Menschen verbunden ist, findet sich weder bei Homer noch bei Shakespeare
noch in der Bibel. Das Fehlen eines entsprechenden Wortes in den vorbürgerlichen
Gesellschaften kann jedoch nicht einem Mangel im Wortschatz
zugeschrieben werden (van Ussel 1970). Während
zuvor zwischen explizit sexuellem Verhalten einerseits und Erotik,
Liebe, Zärtlichkeit, Körperlichkeit, Sensualität, Lust, Affektivität
und den Leidenschaften andererseits keine klaren Grenzen zu ziehen
waren, wurde nun im 19. Jahrhundert die Sexualität dingfest
gemacht. Das muß als Resultat eines vorausgegangenen
Entsinnlichungsprozesses verstanden werden. Sowohl die Bildung des
Begriffs Sexualität als auch dessen umfassende Verwendungsmöglichkeiten
deuten denn auch eher auf eine Verdrängung der sexuellen Komponenten
von Verhaltensweisen (die dann asexuell erscheinen), denn auf eine
deutlichere und exaktere Bestimmung des menschlichen Trieblebens hin. Die Entsinnlichung der Realität, die
eine klare Trennung zwischen scheinbar sexuellen und asexuellen
Verhaltensweisen ermöglichte, kann nach van Ussel (1970) mit der
Industrialisierung in Verbindung gebracht werden. Die Arbeitswelt stand
jetzt in einem schroffen Gegensatz zur «Lustwelt»; das Ausleben der
Affekte war den gesitteten Manieren gewichen; zu starke Leidenschaften
gerieten jetzt in die Nähe der Unvernunft (vgl. Foucault 1961). Die
Familie hatte sich von der Großfamilie zur Kernfamilie entwickelt, ein
Vorgang, der eingebettet war in einen umfassenden sozialen
Dissoziationsprozeß, der zu einer bis dahin nicht bekannten Form der
Individualisierung führen sollte. Damit verbunden waren die
Intimisierung der Körperlichkeit und der Geschlechtlichkeit sowie die
von Verinnerlichungsprozessen begleitete Privatisierung des Trieblebens.
So etablierte sich ein isolierter Erlebnis- und Verhaltensbereich, aus
dem dann die Sexualität
abstrahiert werden konnte. Es gehört zu einer der wichtigsten
Leistungen Freuds, diesen engen Sexualitätsbegriff, den er in der
wissenschaftlichen Literatur seiner Zeit vorfand, zunehmend wieder
ausgedehnt zu haben. Damit konnte die Trennung zwischen sexuellen und
a-sexuellen Verhaltensweisen und Erscheinungen wieder in Frage gestellt
werden. So bemühte sich Freud mit Hilfe psychoanalytischer Konzepte,
den sexuellen Aspekt scheinbar asexueller Phänomene aufzuzeigen und in
systematischer Form darzustellen. Das brachte ihm vielfach den Vorwurf
des «Pansexualismus» ein. Der im 19. Jahrhundert übliche Begriff
der Sexualität verdankt sich also der Isolierung der mit dem
Unterschied der Geschlechter, dem Sexualakt und der Fortpflanzung
verbundenen Verhaltensweisen aus dem umfassenden Kontext, in dem das
affektive und soziale Verhalten des Menschen steht. Es stellt sich somit
die Frage, ob dieser abstrakte Begriff nicht eine bloße Schein-Realität
repräsentiert. «Es ist demnach sehr wohl möglich, daß der Begriff
<Sexualität> eine hypothetische Konstruktion ist, die zwar
semantisch besteht, jedoch keine Hinweise auf entsprechende
Gegebenheiten in der ontischen Ordnung enthält. Wenn wir dies nicht
klar erkennen, so besteht die Gefahr, daß wir uns unbewußt einer
Metasprache bedienen» (van Ussel 1970, 9). Ein analoger Gedanke findet
sich bei Freud: «Wir können ahnen, daß in der Entwicklung des
Begriffes <sexuell> etwas vor sich gegangen ist, was nach einem
guten Ausdruck von H. Silberer einen <Überdeckungsfehler> zur
Folge hatte» (1916-17, 314). Mit dem angesprochenen Überdeckungsfehler
ist hier gemeint, daß die Konzentration auf explizite und eindeutig
erkennbare Sexualität die tiefere Verankerung entsprechender
Verhaltensweisen nicht mehr erkennen läßt, während umgekehrt das
sexuelle Moment scheinbar asexueller Verhaltensweisen der bewußten
Wahrnehmung entgeht. Die von Freud vorgenommene Erweiterung des im 19. Jahrhundert
üblichen Sexualitätsbegriffs kann nun aber nicht als eine Neuentdeckung,
sie muß vielmehr als Wiederentdeckung bezeichnet werden, da eine
entsprechende Einengung der «Sexualität» des Menschen in der vorbürgerlichen
Gesellschaft unbekannt war. Freuds erweiterte Sicht der Sexualität führt
zu zwei mit einander verbundenen Folgerungen: Zum einen wird das Phänomen
«Sexualität» von Freud wieder aufgegliedert und in zahlreiche
Komponenten zerlegt; zum anderen werden scheinbar asexuelle
Erscheinungen «resexualisiert», d. h. zum Teil oder ganz auf sexuelle
Triebkräfte zurückgeführt. Damit verliert das Konzept «Sexualität»
seine angestammte Bedeutung: Weder der Gegensatz der Geschlechter noch
der Sexualakt noch das biologische Ziel dieses Aktes - die Fortpflanzung-
genügen nun, den Begriff der Sexualität inhaltlich zu bestimmen. Auch
eine Gleichsetzung von «sexuell» und «genital» lehnt Freud ab. Wie
das Psychische weit über das Bewußte hinausreicht und beide Begriffe
nicht gleichgesetzt werden dürfen, so kann man auch nicht umhin, «ein
<sexuell> gelten zu lassen das nicht <genital> ist, nichts
mit der Fortpflanzung zu tun hat» (Freud 1916-17, 332). Die Sexualität des
Menschen ist damit nicht mehr an die Funktionsfähigkeit der Keimdrüsen
nach der Pubertät gebunden. Vielmehr ist sie schon beim Kind
anzunehmen. In Form einer spezifischen psychischen Energie - der Libido
- ist sie für das Triebleben des Kindes und damit als Ausgangspunk des
Aufbaus des Ich im Kontext der sich entwickelnden Objektbeziehungen
bestimmend. Diese Annahme führt Freud nicht nur zu einer besonderen
Betonung der infantilen Sexualität, sondern auch zur Beachtung und
genaueren Analyse der Schicksale und Umsetzungen der libidinösen
Energie im Individuum. Die Eltern-Kind-Beziehung, die Charakterbildung
und die Ausgestaltung der Intellektualität, schließlich die Affektivität
und deren Manifestationen in Form von Träumen, Phantasien oder
neurotischen Symptomen werden nun von Freud unter dem Gesichtspunkt der
Entwicklung der Libido - und damit unter einem sexuellen Aspekt -
betrachtet. In der Annahme dieser spezifischen
psychischen Energie verknüpften sich nun wiederum der
naturwissenschaftliche und der triebmythologische Aspekt, die Freuds
Auffassungen des Problems der Sexualität kennzeichnen. Soweit die
Libido - wie etwa ab 1920 - als
die dem Eros zukommende Energie begriffen wird, handelt es sich dabei um
eine Kraft, die das Leben erhält und die lebende Substanz zum Eingehen
übergreifender Bindungen befähigt. Die Libido bindet die destruktive
Energie der aggressiven Triebe, die Freud unter dem Begriff Todestrieb
zusammenfaßt. Der naturwissenschaftliche Aspekt, den die Libidotheorie
enthält, verbindet sich mit evolutionistischen und energetischen
Denkmodellen, die Freud aus zeitgenössischen Vorstellungen
(insbesondere Herbarts und Fechners) über den psychischen Organismus übernahm
(vgl. Ellenberger 1970). In der Libidotheorie hatte Freud ein Konzept gefunden, mit dessen Hilfe er
seinen Anspruch einzulösen vermeinte, eine Psychologie auf
naturwissenschaftlicher Grundlage zu erstellen. Bis zuletzt hielt Freud
an diesem Anspruch fest. Noch im «Abriß der Psychoanalyse»
wiederholte er sein Anliegen, «die Psychologie zu einer
Naturwissenschaft wie jede andere auszugestalten» (1940,
80).
Man wird Freuds Konzept der Sexualität
jedoch keinesfalls gerecht, wenn man den im engeren Sinne
naturwissenschaftlichen Aspekt einseitig betont. So ist es fraglich, ob
man Freuds Konzept der Sexualität als «psychohydraulische(s) Modell»
(Schmidt 1975, 31) beschreiben
kann. Zwar spricht Freud von Triebreizen, die im Inneren des Organismus
entstehen und nach Abfuhr verlangen; doch entsprechend einfache
Vorstellungen, die allenfalls für Freuds frühe Arbeiten typisch sind,
werden durch die Annahme des unbewußten Systems, das die Triebrepräsentanzen
enthält, erheblich kompliziert, wenn nicht ganz aufgehoben. So ist es
ein Kennzeichen des entwickelten psychischen Apparates, daß die
Triebenergien nicht unmittelbar abgeführt, sondern zum Teil für immer,
zum Teil vorübergehend gebunden bleiben. Weiterhin bezieht sich Freuds
Begriff der Abfuhr keineswegs direkt auf den Trieb; dieser erfährt
vielmehr komplexe Umformungen, unter deren Voraussetzung Erregungen
abgeführt werden. Im Falle der Neurose werden die Erregungen nicht
abgeführt, sondern in Symptomen inadäquat und für den psychischen
Organismus belastend gebunden. Die Freuds Vorstellungen zum Problem der
Verdrängung widersprechen insgesamten der Annahme eines einfachen
psychohydraulischen Modells der Sexualität. Abschließend bleibt festzustellen, daß
Freud alle psychischen Erscheinungen unter einem sexuellen Aspekt
begreift, «denn wir können kein menschliches Seelenleben glauben, an
dessen Aufbau nicht das sexuelle Begehren im weitesten Sinne, die
Libido, ihren Anteil hätte, mag dasselbe sich auch weit vom ursprünglichen
Ziel entfernt oder von der Ausführung zurückgehalten haben» (Freud
1910 c, 172). Hinsichtlich der von ihm angenommenen umfassenden
Bedeutung der Sexualität für das psychische Leben stützt sich Freud
auf Vorstellungen, die in der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches
vorweggenommen worden sind (vgl. E1lenberger 1970). Freud selbst weist
auf die Identität vieler seiner Konzepte mit den Vorstellungen der
genannten Philosophen hin (Freud 1914 a). Hinsichtlich der Realität des
Triebes heißt es etwa bei Nietzsche: «Gesetzt, daß nichts anderes als
real <gegeben> ist als unsre Welt der Begierden und
Leidenschaften, daß wir zu keiner andern (Realität) hinab oder hinauf
können als gerade zur Realität
unserer Triebe - denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe
zueinander -: ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage
zu fragen, ob dies Gegebene nicht ausreicht, um aus seinesgleichen auch
die sogenannte mechanistische (oder <materielle>) Welt zu
verstehen?» (1886 -zit. n. GW 1967, 38). 3
Sexualität
und Eros Etwa in der Zeit zwischen 1912 und 1915
steht im Mittelpunkt der Neurosenlehre Freuds der Gegensatz zwischen
Sexualtrieben und Ichtrieben (bzw. Selbsterhaltungstrieben). Die
Auffassung der Sexualität, die man aus diesem Triebmodell extrahieren
kann, ist durch ein zunächst befremdlich erscheinendes Merkmal
gekennzeichnet: Sexualität kann zur Gefahr,
genauer: zu einer die
Organisation des Ich bedrohenden Gefahr werden. Freud hatte zwar zu dieser Zeit das «Ich»
als eine der drei psychischen Instanzen noch nicht systematisch
dargestellt - dies geschah erst einige Zeit später (Freud 1923 b); doch
in seiner Schrift «Zur Einführung des Narzißmus» (1914 b) deutet er
später differenziert ausgearbeitete Konzepte bereits an. Das Ich
entwickelt sich nach demnach durch Hemmung, Bindung und Neutralisation
(vgl. Hartmann 1964) der nach dem Primärvorgang ablaufenden Erregungen.
Zum anderen entwickelt es sich auf Kosten libidinöser, ursprünglich
den Objekten zugewandter Besetzungen, wie Freud nach Einführung des
endgültigen Strukturmodells der psychischen Persönlichkeit schreibt:
«Zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, während das Ich noch in
der Bildung begriffen oder schwächlich ist. Das Es sendet einen Teil
dieser Libido auf erotische Objektbesetzungen aus, worauf das erstarkte
Ich sich dieser Objektlibido zu bemächtigen und sich dem Es als
Liebesobjekt aufzudrängen sucht. Der Narzißmus des Ich ist so ein
sekundärer, den Objekten entzogener» (1923 b, 275). Das Ich, das die Aufgaben der
Triebsteuerung und Realitätsbeachtung zu erfüllen hat, kommt also auf
Kosten ursprünglich im Es ablaufender Erregungsprozesse und zum Teil
auf Kosten aufgelassener Objektbeziehungen zustande. Darüber hinaus ist
seine Differenzierung aus dem Es Ausdruck der Not des Lebens und «ein
Schritt zur Selbsterhaltung» (Freud 1926, 229). Entfiele der Kampf um
Selbstbehauptung, der von der herrschenden Realität erzwungen wird, käme,
folgt man Freuds Argumentation, höchstens ansatzweise ein Ich zustande.
Die Ich-Triebe beachten die Realität, sie haben frühzeitig gelernt «sich
der Not zu fügen und ihre Entwicklungen nach den Weisungen der Realität
einzurichten» (Freud 1916-17, 368). Die Sexualtriebe aber widersetzen
sich - im Falle der Neurose zeitlebens (bzw. solange die Neurose
besteht) - «der Unterordnung unter die Realität der Welt» (1916-17,
445). Das «lockere Verhältnis zur äußeren Realität» (1916-17,
370), mit dem sich die Sexualität des Menschen begnügt, stellt die
Integrität des Ich in Frage. Die von der Sexualität ausgehende Gefahr
besteht also in der ungenügenden Beachtung der Realität; die ungenügend
gebändigten Triebe beeinträchtigen die Herrschaft des Ich. Nachdem Freud die Instanz des Es (1923
b) näher beschrieben hatte,
wurde deutlich, daß er eine vollständige und endgültige Bändigung
des Trieblebens bei keinem Menschen als gegeben annahm. Im Es existieren
- auch bei funktionsfähigem Ich - die archaischen Triebimpulse weiter,
die sich nach Auffassung Freuds mit der herrschenden Realität nicht
vereinbaren lassen. «Das Es gehorcht dem unerbittlichen Lustprinzip» (1940,
128). Es beachtet die Realität nicht, hat überhaupt keine Beziehung zur Realität.
Es repräsentiert die ungebändigten, von Freud im anthropologischen
Sinne verstandenen «ungezähmten Leidenschaften» des Menschen (1933,
83). Würde der psychische
Organismus sich ausschließlich nach den im Es geltenden Regeln richten,
so kämen weder der Aufbau des Ich noch die Fähigkeit zur Selbsterhaltung,
noch eine adäquate Beziehung zur Realität zustande. Eine der frühesten und wichtigsten
Aufgaben des seelischen Apparates besteht daher darin, die im Es nach
den Regeln des Primärvorgangs ablaufenden Erregungen zu binden, den
Primärvorgang durch den Sekundärvorgang zu ersetzen. Damit
gehen nach beiden Richtungen - Lust wie Unlust – primäre und das heißt:
intensive Erlebnisweisen verloren. Es «erscheint … denn ganz
unzweifelhaft, daß die ungebundenen, die Primärvorgänge, weit
intensivere Empfindungen nach beiden Richtungen ergeben als die
gebundenen, die des Sekundärvorgangs» (Freud 1920, 68)
Die Leidenschaftlichkeit des Menschen steht nach Freud also in enger Beziehung
zu den Primärvorgängen, während sich die vernünftige Beachtung der
Realität, das Realitätsprinzip, den Sekundärvorgängen verdankt. Der
Verlust an affektiver und emotionaler Intensität, den Freud
insbesondere im Zusammenhang mit dem Sexualleben des «Kulturmenschen»
annimmt, ist damit dem «Vernünftigwerden» des Menschen und dem Aufbau
des Ich parallel zu setzen. Dieser Verlust ist es auch, der das von
Freud postulierte «Unbehagen in der Kultur» (1930)
verständlich werden läßt.
Dieses Unbehagen kommt weniger durch den einen oder anderen Verzicht auf
diese oder jene explizit sexuelle Aktivität zustande, vielmehr durch
den grundsätzlichen Verzicht auf unmittelbare - d. h. nach dem Primärvorgang
ablaufende - Erregungsabfuhr, womit gleichzeitig der Verlust primärer
Erlebnisqualitäten verbunden ist. Die Sexualtriebe widersetzen sich, wie
erwähnt, solange wie möglich ihrer Bändigung - d. h. der Bindung der
primären Erregungsabläufe. «Das Lustprinzip bleibt ... noch lange
Zeit die Arbeitsweise der schwer ... <erziehbaren> Sexualtriebe,
und es kommt immer wieder vor daß es, sei es von diesen letzteren aus,
sei es im Ich selbst, das Realitätsprinzip zum Schaden des ganzen
Organismus überwältigt» (Freud 1920, 6). Damit ist die
von den Sexualtrieben ausgehende Gefahr der Überwältigung des Ich, womöglich
gar der Rücknahme seines Aufbaus, bezeichnet. Ein zweiter Aspekt, warum nach
Auffassung Freuds die Sexualität als Gefahr interpretiert werden kann,
ist eng mit dem soeben genannten verbunden. Die Sexualtriebe sind - wie
die Triebe überhaupt - konservativer Natur: Sie beinhalten eine Tendenz
zur Regression und damit zur Wiederherstellung eines ursprünglichen
Zustandes. Die reife Psychosexualität des Erwachsenen ist somit der
latenten Gefährdung der Rückbildung zur infantilen Sexualität
ausgesetzt, wobei eine Reihe besonderer Faktoren, die in einem späteren
Abschnitt noch zu nennen sein werden, in besonders hohem Maße zu einer
möglichen Rückbildung beitragen kann. Wichtig bleibt vorerst, daß die
Sexualität des Menschen nach Freuds Ansicht zutiefst mit der
Vergangenheit verbunden ist, mit der infantilen, prähistorischen, ja,
sogar animalischen Vorgeschichte des Menschen und mit dem Unbewußten, für
das vergangenes wie gegenwärtiges Erleben erscheint, da es keine
Zeitvorstellungen kennt. Freud (1920) selbst vergleicht seinen
zum Eros erweiterten Begriff der Sexualität einmal mit dem Platonischen
Mythos, der von einem ursprünglich mann-weiblichen Geschlecht
berichtet. Danach wurde dieses Geschlecht in der Vergangenheit von Zeus
getrennt und seither streben die beiden Hälften nach Wiedervereinigung,
nach Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands. In diesem Zwang zur
Wiederholung, zur Regression, kann aber eine latente Gefährdung des Ich
bzw. der psychischen Integrität gesehen werden. Soweit das Individuum
an die Vergangenheit, im spezifischen Falle an die inzestuösen
Liebesobjekte, fixiert bleibt, kann es sich nur unzureichend an die
gegenwärtige Realität anpassen, scheitert es im spezifischen Fall bei
der nach der Reife zu treffenden Objektwahl. Freud selbst
charakterisiert den Koitus einmal als einen Versuch der
Wiedervereinigung mit der Mutter (1933,
94), wobei er sich an
Vorstellungen von Rank (1924) anlehnt.
Der Koitus als Ersatz der Wiedervereinigung mit der Mutter, die
Fixierung an die inzestuösen Liebesobjekte, die Tendenz zur
Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustands, all diese
Vorstellungen zeichnen die Sexualität des Menschen als einen Bereich
aus, der nur schlecht in die gegenwärtige «vernünftige» Realität zu
integrieren ist. Zu jener Zeit, als Freud vom Gegensatz
zwischen Sexualtrieben und Selbsterhaltungstrieben ausging, schreibt er
an einer Stelle: «Der Urkonflikt, aus welchem die Neurosen hervorgehen,
ist der zwischen den das Ich erhaltenden und den sexuellen Trieben»
(1909, 410). Die Sexualtriebe zeichnen sich nun aber nicht nur durch die
genannten Momente aus, die zu einer Gefahr für das Ich werden können;
sie zielen per se über das Individuum hinaus. Ihr Ziel ist in letzter
Konsequenz nicht die Erhaltung des Individuums, geschweige denn die des
Ich, vielmehr dienen sie der Arterhaltung. In diesem Sinn wird das
Individuum von Freud als ein Mittel zum Zweck - zum Zweck der
Arterhaltung - begriffen. Die von Freud getroffene «Unterscheidung von
Ichtrieb und Sexualtrieb …, die uns mit der biologischen
Doppelstellung des Einzelwesens, welche seine eigene Erhaltung wie die
der Gattung anstrebt, übereinzustimmen scheint» (1911, 311),
legt also nahe, die Sexualität des Menschen als ein die Erhaltung der
Gattung intendierendes Phänomen zu begreifen, wobei die individuell
erlebte «Lust» als Prämie und die Erhaltung des Individuums als
notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zum Ziel aufzufassen
wären. Im Triebmodell, das vom Gegensatz
zwischen Sexualtrieben und Selbsterhaltungstrieben ausgeht, erscheint
die Sexualität vor allem noch als eine archaische, das Ich oder die
Ich-Grenzen sprengende und - unter ungünstigen Umständen – die
Neurose fördernde Kraft. Streben nach Lust unter Mißachtung der Realität
ist typisch für die Sexualtriebe. Insofern die Sexualtriebe aber auch
schon in diesem Triebmodell mit der Funktion der Arterhaltung verbunden
werden, sind sie durch Momente gekennzeichnet, die später den Eros
besonders auszeichnen. Eros ist eine lebenserhaltende, auf Vereinigung
der lebenden Substanz abzielende Kraft. In Freuds Begriff garantiert
Eros die Erhaltung der Art, ja die Erhaltung des Lebens überhaupt. Im
Triebmodell, das Freud etwa ab 1920 vertritt, in dem er von einem
Gegensatz zwischen Eros und Thanatos ausgeht, erhält Eros also eine
sehr viel freundlichere Charakterisierung als die Sexualtriebe im früheren
Triebmodell. Eros erscheint jetzt als «pazifizierte» Gestalt der ursprünglich
archaischen Sexualität. Er dient jetzt dazu, die Aggressions- und
Destruktionsneigungen des Menschen in Schach zu halten, die für die Gefährdung
der der individuellen wie kollektiven Existenz verantwortlich gemacht
werden. Über die zwischen dem Eros und den
Destruktionsneigungen des Menschen bestehenden Beziehungen schreibt
Freud: «Einen Anfangsstand stellen wir uns in der Art vor, daß die
gesamte verfügbare Energie des Eros, die wir von nun ab Libido heißen
werden, im noch undifferenzierten Ich-Es vorhanden ist und dazu dient,
die gleichzeitig vorhandenen Destruktionsneigungen zu neutralisieren»
(1940, 72). Freud verbindet hier naturwissenschaftliche Vorstellungen
von der Libido mit dem philosophischen und triebmythologischen
Auffassungen. Der Eros wird nun identisch mit der im weitesten Sinne
verstandenen Liebe: «Den Kern des von uns Liebe Geheißenen bildet natürlich,
das man gemeinhin Liebe nennt, ... die Geschlechtsliebe mit dem Ziel der
geschlechtlichen Vereinigung. Aber wir trennen davon nicht ab, was auch
sonst an dem Namen Liebe Anteil hat, einerseits die Selbstliebe,
andererseits die Eltern- und Kindesliebe, die Freundschaft und die
allgemeine Menschenliebe, auch nicht die Hingebung an konkrete Gegenstände
und an abstrakte Ideen» (1921, 98). Gemäß früherer Triebtheorie ist die
ungebändigte archaisch-infantile Sexualität «allein dem Lustprinzip
unterworfen, an die Vergangenheit des Menschen in mehrfachem Sinne geknüpft,
schwer <erziehbar>». Sie steht «nach den Gesetzen des Primärvorgangs
funktionierend und unaufhörlich von innen das Gleichgewicht des
psychischen Apparates bedrohend» (Laplanche und Pontalis 1967, dt.
Ausg., 472) deshalb im Widerspruch zur Realität. Demgegenüber kann Eros in der späteren
Triebtheorie als eine Form der gebändigten Sexualität verstanden
werden. Insofern Eros das Leben erhält und gegen die Todestriebe schützt,
insofern er auf die Vereinigung der lebenden Substanz und die
Fortsetzung des Lebens abzielt, ist Eros als eine auf die Zukunft
gerichtete Kraft zu verstehen. Eros erscheint damit als die zielgehemmte
Gestalt der archaischen Triebimpulse. Dieser zielgehemmte (von ursprünglichen
Zielen abgelenkte) Trieb befähigt zu überdauernden Bindungen an
Menschen oder Ideen, zur Liebe. Man kann Freuds späte Auffassungen vom Eros auch als den Ausdruck einer
Verschiebung des Interesses weg von der infantilen Sexualität und hin
zur reifen Psychosexualität des Erwachsenen interpretieren. Diese
zeichnet sich durch eine weitgehende Überwindung der infantilen Sexualität aus, als deren
wichtigstes Ergebnis die Fähigkeit zur überdauernden Bindung an ein
nach der Pubertät zu wählendes Sexualobjekt angesehen werden kann.
Damit ist aber die Überwindung der infantilen Sexualität nach Freuds
Ansicht aufs engste mit der Ablösung von den inzestuösen
Liebesobjekten verbunden. Erst die Zielhemmung der auf die primären
Liebesobjekte gerichteten libidinösen Strebungen ermöglicht das
Eingehen einer erfolgreichen postpubertären Objektbeziehung. Die Ablösung
von den inzestuösen Liebesobjekten stellt aber das Kernproblem des von
Freud angenommenen Ödipuskomplexes dar. Ob diese Ablösung gelingt -
oder wie im Falle der Neurose mißlingt -, erweist sich allerdings noch
nicht in der ödipalen Situation selbst, sondern erst in der Pubertät. Betrachtet man die Entwicklung von der
infantilen Sexualität bis zur psychosexuellen Reife unter dem
Gesichtspunkt der Objektwahl, so läßt sich die von Freud angenommene
Zweizeitigkeit der sexuellen Entwicklung wie folgt darstellen:
Dieses Schema wird zwar durch eine Reihe
von Faktoren kompliziert, wie im folgenden noch zu diskutieren sein
wird, läßt aber den Grundgedanken Freuds hinsichtlich des Problems der
Objektwahl erkennen. Am Ausgangspunkt jeder späteren
Objektwahl steht nach Ansicht Freuds für beide Geschlechter die Beziehung
zwischen Mutter und Kind. Hierbei ist unter der Bezeichnung «Mutter»
nichtnotwendig die biologische Mutter zu verstehen, sondern diejenige
Person, die die primitiven animalischen Bedürfnisse des Kindes
hinsichtlich Nahrungsversorgung, Körperpflege und affektiver Zuwendung
befriedigt. Besonderes Gewicht liegt hinsichtlich dieser frühen «Objektbeziehung»
- die insofern nach Freud noch keiner tatsächlichen Objektbeziehung
entspricht, als hier Subjekt und Objekt noch nicht als im psychischen
Sinne getrennt angenommen werden - auf der Objektkonstanz. Darunter ist
zu verstehen, daß nach Möglichkeit während der ersten Lebensjahre
eine dauerhafte und ungestörte Beziehung des Kindes zu ein und
demselben Liebesobjekt, der «Mutter» also, besteht. Während dieser
Phase übernimmt das Kind das mütterliche «Basis-Introjekt» (Lincke
1971), das gleichzeitig die innerste Grundlage seiner späteren
Ich-Identität darstellt. Wird die Beziehung zur Mutter allerdings nicht
zunehmend und altersadäquat umgestaltet, wird sie in symbiotischer Form
aufrechterhalten, so können die spätere Selbständigkeit und Autonomie
gestört oder verhindert werden. Behauptet Freud (1905 a), der
Autoerotismus bilde den Ausgangspunkt der psychosexuellen Entwicklung,
so zeichnet er zum anderen von der Beziehung zwischen Mutter und Säugling,
die durchaus sexuell gefärbt ist, ein Bild, das der Annahme eines ursprünglichen
Autoerotismus direkt zu widersprechen scheint (Spitz 1965). «Die Liebe
der Mutter zum Säugling, den sie nährt und pflegt, ist etwas weit
Tiefgreifenderes als ihre spätere Affektion für das heranwachsende
Kind. Sie ist von der Natur eines voll befriedigenden Liebesverhältnisses,
das nicht nur alle seelischen Wünsche, sondern auch alle körperlichen
Bedürfnisse erfüllt, und wenn sie eine der Formen des dem Menschen
erreichbaren Glückes darstellt, so rührt dies nicht zum mindesten von
der Möglichkeit her, auch längst verdrängte und pervers zu nennende
Wunschregungen ohne Vorwurf zu befriedigen. In der glücklichen jungen
Ehe verspürt es der Vater, daß das Kind, besonders der kleine Sohn,
sein Nebenbuhler geworden ist, und eine tief im Unbewußten wurzelnde
Gegnerschaft gegen den Bevorzugten nimmt von daher ihren Ausgangspunkt»
(Freud 1910 c, 187f.). Freud spricht an dieser Stelle den Ursprung des
Ödipuskomplexes aus der Sicht des Vaters an. Er verlegt ihn zudem in
eine Zeit, die noch weit vor der eigentlichen Ödipusphase liegt. Diese
zeitliche Anordnung entspricht auch dem Verlauf des antiken Ödipus-Mythos.
Die von Freud angenommene Feindschaft und Eifersucht des Vaters dem Kind
(Sohn) gegenüber provoziert demnach dessen spätere feindselige
Impulse dem Vater gegenüber. Hinsichtlich des Problems der Objektwahl
bleibt, wie Freud noch im «Abriß der Psychoanalyse» (1940) betont, «die
einzigartige, unvergleichliche, fürs ganze Leben unabänderlich
festgelegte Bedeutung der Mutter als erstes und stärkstes Liebesobjekt,
als Vorbild aller späteren Liebesbeziehungen bei beiden Geschlechtern»
(1940, 115) erhalten. Das Bild der Mutter als verinnerlichtes, unbewußt
erhaltenes «Klischee» steuert und beeinflußt also die spätere
Objektwahl. Die nach der Pubertät eintretende «Objektfindung ist
eigentlich eine Wiederfindung» (1905 a, 123).
Freud geht an manchen Stellen
sogar so weit, die postpubertäre Objektwahl im Sinne der Wahl eines «Surrogat(s)»
(I912 a, 90) zu interpretieren. Aufgrund der Bedeutung, die Freud der
Beziehung von Mutter und Kind für die spätere Objektwahl bei beiden
Geschlechtern zuschreibt, nimmt er auch an, die Entwicklung zur späteren
Objektwahl falle dem Knaben leichter als dem Mädchen. Der Knabe/Mann
bleibe im «Normalfall» an der Mutter/Frau orientiert, während das Mädchen/die
Frau das Geschlecht des Sexualobjektes wechseln müsse, wenn sie eine
heterosexuelle Partnerwahl treffen wolle. Neuere Untersuchungen haben aber
gezeigt, daß Ausbildung und Entwicklung der psychosexuellen
Geschlechtsidentität, die ja die Richtung der Objektwahl festlegt, beim
Knaben/Mann schwieriger verläuft als beim Mädchen/bei der Frau. So
nimmt Stoller (1908) an, die Herausbildung einer männlichen
Geschlechtsidentität sei schwierigeren Bedingungen unterworfen als die
einer weiblichen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der
Geschlechtsidentität sprechen Money und Ehrhardt von einer erhöhten «psychosexuellen
Verletzbarkeit des Mannes»: «Die meisten Paraphilien findet man bei Männern,
nicht aber oder nur selten bei Frauen. Dies spricht ... dafür, daß die
Natur größere Schwierigkeiten hat, eine männliche Geschlechtsidentität
zu differenzieren, als eine weibliche» (1975, 149). Es steht zu
vermuten, daß die geringere Schwierigkeit der Herausbildung einer
weiblichen Geschlechtsidentität im Zusammenhang damit zu sehen ist, daß
das Mädchen nicht - wie der Knabe - seine in der frühen Beziehung zur
Mutter erworbene «Weiblichkeit» verdrängen muß, diese vielmehr
fortsetzen und weiter entwickeln kann. Der Übergang zur Männlichkeit
setzt dagegen beim Knaben einen Distanzierungsprozeß von der in der frühen
Beziehung zur Mutter erworbenen Basis-Identifikation voraus. Greenson
(1967 - zit. n. Stoller 1968) bezeichnet diesen Vorgang als «dis-identification»
(= De-Identifikation). Zu einem der wichtigsten, die spätere
Objektwahl beeinflussenden Faktoren gehört nach Freud die bei jedem
Menschen anzunehmende ursprüngliche Bisexualität. Es gibt nach
Auffassung Freuds keine «reine» Männlichkeit oder Weiblichkeit (1905
a). Was als solche erscheint, dürfte weitgehend das Produkt der primären
Sozialisation sein, die ihrerseits durch die Institutionalisierung der
Geschlechterrollen gestützt und geschützt wird (vgl. Schelsky 1955). Die reine Homosexualität wie die reine
Heterosexualität des späteren Erwachsenen sind nach Ansicht Freuds
Ausdruck einer sozial entwickelten «Monosexualität» (1905 a, 40). Im
Falle der Homosexualität liegt nach Ansicht Freuds u. a. eine Fixierung
an eine spezifische Phase der normalen Entwicklung zur reifen
Psychosexualität vor oder es kommt zur Rückkehr zu dieser Phase. Eine
entsprechende Regression kann etwa in Folge einer enttäuschenden
heterosexuellen Objektbeziehung eintreten. Darüber hinaus ist Freuds
Begriff der Homosexualität weniger orientiert am expliziten sexuellen
Verhalten, entscheidend ist vielmehr die emotionale Orientierung des
Betreffenden: «Nicht die reale Betätigung, sondern die Einstellung des
Gefühls entscheidet für uns darüber, ob wir irgendjemand die Eigentümlichkeit
der Inversion (Freuds Bezeichnung für Homosexualität - B. N.)
zuerkennen sollen» (1910 c, 156). Die spätere Heterosexualität des
Erwachsenen ist also das Produkt einer normgerecht durchlaufenen
psychosexuellen Entwicklung, in deren Verlauf die bei jedem Menschen
anzunehmenden homosexuellen Strebungen einer anderen Verwendung zugeführt
werden. «Sie treten nun mit Anteilen der Ichtriebe zusammen, um mit
ihnen als <angelehnte> Komponenten die sozialen Triebe zu
konstituieren, und stellen so den Beitrag der Erotik zur Freundschaft,
Kameradschaft, zum Gemeinsinn und zur allgemeinen Menschenliebe dar»
(1911, 297). Diesen Gedanken führt Freud in seiner Schrift «Massenpsychologie
und Ich-Analyse» (1921) weiter aus. Die Herausbildung von Massen, d. h.
von größeren, durchaus strukturell organisierten Gruppen, wie sie
beispielsweise die Kirche oder das Heer darstellen, beruht zum Teil auf
der Verwertung ursprünglich homosexueller Strebungen. Dieser Gedanke
ist auch grundlegend für Freuds Annahmen über die Entstehung der
menschlichen Gemeinschaft (Gesellschaft), die Freud in seiner Arbeit «Totem
und Tabu» (1913 b) darstellt. «Im allgemeinen schwankt der Mensch
sein Leben lang zwischen heterosexuellem und homosexuellem Fühlen, und
Versagung oder Enttäuschung von der einen Seite pflegt ihn zur andern
hinüberzudrängen» (1911, 281). Also auch bei explizit heterosexueller
Objektwahl besteht eine homosexuelle Tendenz latent.
Sie kann im Falle von
realen Enttäuschungen manifest werden. Die latente Homosexualität -
der im Falle der Neurose besonders symptombildende Kraft zukommt - ist
aber nicht nur das Erbe der ursprünglich anzunehmenden menschlichen
Bisexualität. Sie ist auch als Abkömmling der infantilen
gleichgeschlechtlichen Objektwahlen zu begreifen, bzw. erfährt durch
diese eine entsprechende Verstärkung. Da im Normalfall jeder Mensch
durch Objektbeziehungen zu beiden Geschlechtern/Elternteilen
sozialisiert wird, bleiben Niederschläge und damit verbundene Triebwünsche
aus beiden Arten von Beziehungen erhalten. Freud spricht daher vom «vollständigen
Ödipuskomplex» (1923 b, 202) nur unter Einbeziehung der Bisexualität,
d. h. unter Berücksichtigung bei der sexueller Objektwahlen zum
Zeitpunkt der infantilen Frühblüte der Sexualität. Der Vater tritt
beispielsweise dem Knaben gegenüber nicht nur als Rivale, sondern auch
als Liebesobjekt, das sexuell begehrt wird, auf. Entsprechende Verhältnisse
sind beim Mädchen hinsichtlich der Mutter zu erwarten. Beim späteren
Neurotiker besteht nach Auffassung Freuds eine konstitutionell besonders
stark ausgeprägte Bisexualität, die dann die für jeden Menschen
anzunehmende Ödipusproblematik noch verschärft. Der Gedanke einer Zielhemmung
homosexueller Triebimpulse entspricht analogen Überlegungen, die Freud
hinsichtlich der auf die inzestuösen Liebesobjekte gerichteten
sinnlichen Strömung allgemein anstellt. Auch diese sinnliche Strömung
wird zielgehemmt und damit im Normalfall an ihrem direkten Ausdruck
gehindert: «Die dem Ödipuskomplex zugehörigen libidinösen Strebungen
werden zum Teil desexualisiert
und sublimiert, … zum Teil zielgehemmt und in zärtliche Regungen
verwandelt» (1924, 399). Die Zielhemmung der auf die inzestuösen
Liebesobjekte gerichteten sexuellen Strebungen stellt dann nach Ansicht
Freuds die Grundlage der späteren Liebe dar. «Die Vergeistigung der
Sinnlichkeit heißt Liebe
... » (Nietzsche 1889 - zit. n. G.W. 1967, 343). Der Gedanke einer Zielhemmung nicht
realisierbarer Triebwünsche ist schließlich grundlegend für Freuds
Sublimationstheorie, wonach die dem ursprünglichen Triebziel zugewandte
libidinöse Energie auf andere, kulturell akzeptierte Ziele übertragen
werden kann. Freud nimmt an, daß gerade die Zielhemmung eines Triebes
oder Triebanteils zur dauerhaften Bindung führt, während der Trieb,
der sich unmittelbar befriedigen kann, über kurz oder lang das
Interesse am Objekt verliere. Aus den bisherigen Erörterungen der die
Objektwahl beeinflussenden Faktoren geht bereits hervor, daß die frühe
Beziehung zwischen Mutter und Kind zwar von entscheidender Bedeutung
ist, nicht aber die einzig ausschlaggebende Bedingung darstellen kann.
Alle wichtigeren Objektbeziehungen der frühen Kindheit determinieren
bis zu einem gewissen Grade die späteren Objektbeziehungen des
Erwachsenen. «Schon in den ersten sechs Jahren der Kindheit hat der
kleine Mensch die Art und den Affektton seiner Beziehungen zu Personen
des nämlichen und des anderen Geschlechts festgelegt, er kann sie von
da an entwickeln und nach bestimmten Richtungen umwandeln, aber nicht
mehr aufheben. Die Personen, an welche er sich in solcher Weise fixiert,
sind seine Eltern und Geschwister. Alle Menschen, die er später
kennenlernt, werden ihm zu Ersatzpersonen
dieser ersten Gefühlsobjekte»
(1915 a, 206 - Herv.: B. N.). Damit ist aber gleichzeitig gesagt, daß
ein gewisses Maß an unbewußter «Fixierung» der Libido an die ursprünglichen
Liebesobjekte bei allen Menschen, nicht nur beim späteren Neurotiker,
anzunehmen ist. Außerdem belegt diese Auffassung die große Bedeutung,
die Freud der frühen Kindheit für das spätere Schicksal des
Erwachsenen beimißt. Von der frühen Beziehung zur Mutter bis
zur Ödipussituation werden also die späteren Objektbeziehungen
weitgehend vorbereitet und auch festgelegt. Im Ödipuskomplex «gipfelt
die infantile Sexualität, welche durch ihre Nachwirkungen die Sexualität
des Erwachsenen entscheidend beeinflußt. Jedem menschlichen Neuankömmling
ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen; wer es
nicht zustande bringt, ist der Neurose verfallen» (1905 a, 127, Anm.2).
Das will heißen, daß Freud die Neurose als eine unvollkommene oder überhaupt
nicht zustande kommende Lösung von den inzestuösen Liebesobjekten
begreift. Der Ödipuskomplex wurzelt aber seinerseits in der Beziehung
zur Mutter, denn an die «Wahl der Mutter zum Liebesobjekt knüpft ...
alles an, was unter dem Namen des <Ödipuskomplexes> zu so großer
Bedeutung gekommen ist ...» (1916-17, 341). Freuds Bild der Beziehung zwischen
Mutter und Kind enthält gewiß eine sehr «romantische» Färbung. Auch
seine Theorie einer «glücklichen Liebe», deren Vorbild die Beziehung
zur Mutter abgibt, erinnert an romantische Vorstellungen der
Wiederherstellung eines glücklichen, aber verlorenen Urzustandes.
Insbesondere der Mangel an adäquaten emotionalen und sozialen
Beziehungen während der Kindheit, wobei nicht nur die Beziehung zur
Mutter diesbezüglich eine Rolle spielt, kann das spätere sexuelle
Verhalten des Erwachsenen, das aus dem affektiv-emotionalen Kontext ja
nicht zu lösen ist, beeinflussen und stören (Spitz 1965; Bowlby 1951).
Es ist anzunehmen, «daß jede Störung dieser Kindheitsbeziehungen die
schwersten Folgen für das Sexualleben nach der Reife zeitigt ... »
(Freud 1905 a, 130). Nun muß sich der angesprochene Mangel
nicht notwendig im tatsächlichen Fehlen eines oder beider Elternteile
ausdrücken. Er kann auch dann bestehen, wenn beide Eltern vorhanden
sind, die notwendige affektive Zufuhr aber unterbleibt. Deren Fehlen
kann sich auch in kaschierter Form ausdrücken. Während das Kind auf
einer tieferen emotionalen Ebene abgelehnt wird, wird es gleichzeitig
auf einer zweiten, mehr äußerlichen Ebene
mit übertriebener Zuwendung bedacht Diese Überzärtlichkeit kann dann
Ausdruck einer latenten Feindseligkeit gegen das Kind sein. Prugh und
Harlow (1962) sprechen in diesem Zusammenhang von maskierter emotionaler
Deprivation, die auch bei äußerlich intakter Eltern-Kind-Beziehung
bestehen kann. Nachdem Freud das Konzept des Narzißmus
eingeführt hatte (Fremd 1914 b), gab er zu erkennen, daß eine spätere
Objektwahl nicht nur nach dem Leitbild der Mutter, d. h. nach dem «Anlehnungstyp»
erfolgen kann. Diesem Typus der Objektwahl stellt Freud jetzt die «narzißtische»
Objektwahl» gegenüber. Im Falle einer narzißtischen Objektwahl liebe
man «streng genommen nur sich selbst» (1914 b, 155). Man liebt dabei
das Liebesobjekt gerade um der Züge willen, die man an sich selber oder
an seinem Ideal schätzt. Wesentlich am Anlehnungstyp der Objektwahl
ist, daß man selbst aktiv liebt, während man beim Typus der narzißtischen
Objektwahl geliebt werden will. Die Frage soll hier offen bleiben, ob
die von Freud beschriebene Objektwahl nach dem narzißtischen Typus
nicht bereits als Ergebnis emotionaler Deprivation - in offener oder
versteckter Form - während der Kindheit aufzufassen sei. Wenn insbesondere die Mutter, aber auch
die übrigen Objektbeziehungen während der Kindheit vorbildhaften
Charakter für die Objektwahlen des späteren Erwachsenen besitzen, so
zeigt sich in dieser Annahme wiederum der bereits angesprochene «regressive»
Zug, den die Sexualität des Menschen besitzt. Diese regressive
Komponente hat neben Freud vor allem Ferenczi (1922) betont. Nach
Ferenczi ist der Geschlechtsakt als ein Ersatz des Wunsches aufzufassen,
in den Mutterleib zurückzukehren,. Dieser Gedanke findet sich, wie
bereits erwähnt, auch bei Freud. Wenn Freud allerdings davon spricht,
die Vagina trete «das Erbe des Mutterleibes an» (1923 c, 298), so ist
diese Annahme weitgehend einer Sicht des Koitus durch den Mann
verpflichtet. Es wird bei Freud nicht weiter ausgeführt, inwieweit
entsprechende Annahmen auch in für die Frau zutreffen. Nun geht Freud nicht davon aus, daß
jede spätere heterosexuelle Objektbeziehung tatsächlich das ursprüngliche
Vorbild wieder erreicht, einen vollgültigen Ersatz der einst zwischen
Mutter und Kind bestehenden Beziehung, also eine «glückliche Liebe»
darstellt. Er schildert - beispielsweise in seiner Arbeit «Zur Einführung
des Narzißmus» (1914 b) - den späteren Erwachsenen vielmehr im Sinne
eines relativ abgeschlossenen psychischen Systems. Die im Verlauf der
Reife etablierten Ich-Grenzen stehen einer Transzendierung des Ich, die
Voraussetzung einer «glücklichen Liebe» wäre, entgegen. Das
psychische System, das den Erwachsenen charakterisiert, beschreibt Freud
mit Hilfe des bekannten Bildes vom «Protoplasmatierchen», das sich dem
Objekt mit Hilfe der «von ihm ausgeschickten Pseudopodien» (1914 b,
141) annähert. Freud verwendet dieses Bild auch noch in späteren
Schriften (1917; 1940). Er will damit zum Ausdruck bringen, daß die
Libido sich nur sehr begrenzt und nur unter der Bedingung, ins
Subjekt/Ich zurückgenommen werden zu können, auf das Objekt richtet.
Nur im Falle der Verliebtheit werde, so meint Freud, die Grenze zwischen
Subjekt und Objekt vorübergehend aufgelöst. Dies entspricht dem frühinfantilen
Vorbild der Beziehung zwischen Mutter und Kind. Die Auflösung der
Ich-Grenzen ist denn auch nach Freud Kennzeichen sowohl der Verliebtheit
als auch tiefer, psychotischer Störungen, die einer Regression auf frühinfantile
Stadien der Entwicklung entsprechen. Der Verliebte verhalte sich wie der
Psychotiker, meint Freud, wenn er leugne, daß zwischen Ich und Du eine
Grenze bestehe, und sich benehme, als seien Ich und Du eins (Freud
1930). Hier nähert sich Freud, ohne dies zu erkennen, der Ich-Theorie
von Paul Federn. Das Ausmaß, in welchem sich der Erwachsene dem Liebesobjekt öffnet, in
welchem er seine Libido dem postpubertären Objekt zuwenden kann, hängt
nach Freud davon ab, wieweit unbewußte Fixierungen an die infantilen
Objekte gelöst worden sind, wieweit also Libido überhaupt «frei
beweglich» ist und damit für neue Objektbesetzungen
zur Verfügung steht. Beim Neurotiker ist die freie Beweglichkeit der
Libido stark eingeschränkt. Neurotische Objektwahlen zeichnen sich
deshalb vor allem dadurch aus, daß das gewählte Liebesobjekt im
schlechten Sinne «Ersatz» der ursprünglichen Liebesobjekte ist, also
eine Ersatzfunktion erfüllt, während im tieferen Sinne nach wie vor
die infantilen Objekte intendiert werden (vgl. Freud 1910 b; 1912 a). Eine erfolgreiche Objektwahl nach der
Pubertät setzt also eine weitgehende Ablösung von den Eltern voraus.
Dabei steht der Pubertierende «vor der Aufgabe, seine Libido von den
Eltern abzuziehen und neue Objekte außerhalb der Familie zu besetzen.
Dabei ist ein gewisses Maß von Trauer um den Verlust der alten Objekte
unvermeidlich» (Freud, A. 1964, 81). Die Ablösung der Libido von den
infantilen Objekten kann aus verschiedenen Gründen erschwert sein oder
ganz mißlingen. Einer dieser Gründe kann in einer inadäquaten «Sexualisierung»
des Kindes gesehen werden. Dabei wird das Kind von einem Elternteil als
Partnerersatz verwendet. Freud geht wiederholt auf das Problem der Wahl
des Sohnes als Partnerersatz für die Mutter ein. Eine entsprechend frühzeitige
und inadäquate Sexualisierung des Kindes, die unbewußt erfolgen kann,
ist nach Auffassung Freuds typisch für Fälle einer unbefriedigenden
Ehe: «Die von ihrem Manne unbefriedigte neurotische Frau ist als
Mutter überzärtlich und überängstlich gegen das Kind, auf das sie
ihr Liebesbedürfnis überträgt, und weckt in demselben die sexuelle Frühreife.
Das schlechte Einverständnis zwischen den Eltern reizt dann das Gefühlsleben
des Kindes auf, läßt es im zartesten Alter Liebe, Haß und Eifersucht
intensiv empfinden» (1908 a, 165). Mit dieser inadäquaten
Emotionalisierung und Sexualisierung werden die im Zusammenhang mit dem
Ödipuskomplex relevanten Probleme erheblich verschärft. Die Gefahr
einer zu weitgehenden Fixierung der Libido ist unter dieser Bedingung
besonders groß. Aber auch eine repressive Sexualmoral,
die dem Pubertierenden die jetzt notwendigen neuen Objektbeziehungen
erschwert oder unmöglich macht, behindert die Ablösung von den Eltern
und verstärkt eine nachträgliche inzestuöse Bindung. Können nach der
Pubertät keine befriedigenden Objektbeziehungen eingegangen werden, so
besteht dir Gefahr, daß die inzestuösen Liebesobjekte auf regressivem
Wege neu besetzt werden. Diesen Gedanken führt Freud bereits in seiner
1908 erschienenen Arbeit «Die <kulturelle> Sexualmoral und die
moderne Nervosität» aus. Freud greift die sexuelle Unterdrückung und
Zwangsabstinenz auch als solche an, er erkennt als deren wesentliches
Moment aber die zwangsweise Fixierung an die inzestuösen Objekte.
Ohnehin ist der «Kultur» nach Auffassung Freuds ganz allgemein
vorzuwerfen, daß sie die Entwicklung zur reifen Psychosexualität
erheblich erschwert. Entwicklungshemmung und psychischer Infantilismus -
gerade auch auf sexuellem Gebiet - sind nach Ansicht Freuds bis zu einem
gewissen Grad für alle «Kulturmenschen» typisch. Freud lehnt in diesem Zusammenhang auch
eine zu lange fortgesetzte Masturbation nach der Pubertät ab. Dabei
wendet er sich nicht gegen die Selbstbefriedigung an sich oder gegen
eine zeitweise notwendige und zu tolerierende «Not-Onanie». Kommt es
aber nach der Pubertät über lange Zeit hinweg zur Masturbation, so können
die inzestuösen Liebesobjekte nicht verlassen werden. Sie werden
vielmehr in der Phantasie neu besetzt. Dabei wendet sich der Trieb
gleichzeitig von der Außenwelt ab. «Es ändert nichts an dem
Sachverhalt, wenn der Fortschritt (zur Objektwahl - B. N.) nun in der
Phantasie vollzogen wird, der in der Realität mißglückt ist, wenn in
den zur onanistischen Befriedigung führenden Phantasiesituationen die
ursprünglichen Sexualobjekte durch fremde ersetzt werden. Die
Phantasien werden durch diesen Ersatz bewußtseinsfähig, an der realen
Unterbringung der Libido wird ein Fortschritt nicht vollzogen. Es kann
auf diese Weise geschehen, daß die ganze Sinnlichkeit eines jungen
Menschen im Unbewußten an inzestuöse Objekte gebunden, oder, wie wir
auch sagen können, an unbewußte inzestuöse Phantasien fixiert wird»
(1912 a, 81f). Freud begreift die Masturbation nach der
Pubertät als ein Stück der «infantilen Sexualbetätigung» (1912 c,
341). Ihre Gefahr besteht in der «Fixierung
infantiler Sexualziele» und in der «psychischen Vorbildlichkeit»
(1912 c, 342). Unter psychischer Vorbildlichkeit ist zu verstehen, daß
in den die Masturbation begleitenden Phantasien Wünsche aktiviert und
Idealisierungen vorgenommen werden, die im realen Kontakt zum
Liebesobjekt nicht einzulösen sind oder aber einem späteren realen
Liebesobjekt einen Platz zuweisen, der in der Phantasie bereits
abgesteckt worden ist. Das reale Liebesobjekt wird dann zum
Ersatzobjekt, und in der Beziehung zu ihm werden nur mehr die infantilen
Klischees wiederholt, während neuer Kontakt weitgehend ausgeschlossen
bleibt. Psychosexuelle Reife drückt sich dagegen darin aus, daß
Phantasien durch vollgültige, reale Beziehungen abgelöst werden bzw. in
ihnen aufgehen. Nun haben die sexuellen Phantasien in
der Pubertät allerdings nicht nur den von Freud angesprochenen
negativen Aspekt. Sie sind vielmehr auch Ausdruck der Geschlechtsidentität
des Betreffenden und können - je nach ihrem Inhalt - auch als Zeichen
einer erfolgreich durchlaufenen sexuellen Sozialisation verstanden
werden. «Die erotischen Phantasien in der Pubertät sind sozusagen ein
Kernstück der Geschlechtsidentität. Sie machen klar, was sich vorher
nur andeutete: Sie bestätigen die Geschlechtsidentität eines
Jugendlichen als männlich, weiblich oder uneindeutig und widersprüchlich
und lassen erkennen, ob und inwieweit paraphile Tendenzen bestehen oder
nicht. Die Inhalte dieser Phantasien sind weder bei Jungen noch bei Mädchen
durch die Pubertätshormone bedingt; sie werden aber durch diese Hormone
aktiviert. Die Phantasien werden unter dem Einfluß der Hormone häufiger,
länger, lebendiger und führen nun regelmäßiger zu sexueller Erregung
und Orgasmus. Diese Phantasien, die sich in der Pubertät als sexuell
stimulierend erweisen, haben ihren Ursprung sehr früh in der
Lebensgeschichte, lange vor der Pubertät» (Money, Ehrhardt 1975, 150).
Nicht das Vorhandensein sexueller Phantasien ist Ausdruck einer
psychosexuellem Entwicklungshemmung, sondern der psychische Stellenwert,
den diese Phantasien, die zu sexueller Erregung und Orgasmus führen,
einnehmen, und das Maß, in dem sie sich von der Realität abkehren, können
als Ausdruck der Infantilität begriffen werden. Ein letztes Moment, das für die
Objektwahl und die Entwicklung zur reifen Psychosexualität von
Bedeutung ist, kann hier nur kurz angesprochen werden. In Freuds später
Triebtheorie, die von einem Gegensatz zwischen den auf Bindung
abzielenden Sexualtrieben (Eros) und den auf Zerstörung abzielenden
Destruktionstrieben (Thanatos) ausgeht, wird von einer Triebmischung
gesprochen. Psychosexuelle Reife würde sich demnach darin ausdrücken,
daß die libidinösen Triebe die destruktiven binden und neutralisieren
können. Kommt es zu einer Triebentmischung, verselbständigen sich also
die aggressiv-destruktiven Triebe, ist ein hoher Grad von Ambivalenz in
den Objektbeziehungen zu erwarten. Es werden dann auf das Sexualobjekt,
weitgehend unverbunden und nebeneinander bestehend, sowohl libidinöse
als auch aggressiv-destruktive Impulse gerichtet. Reife Psychosexualität
zeichnet sich aber gerade durch eine entsprechend geringere Ambivalenz
aus. Das heißt, es fehlen stärkere Ausprägungen von Konkurrenz und
Dominanzstreben und die bei Vorliegen von zu hoher Ambivalenz reaktiv
notwendige Abwehr, die sich sowohl auf libidinöse
als auch auf destruktive Impulse beziehen kann. Eine entsprechende
Auffassung der reifen Psychosexualität, die gleichzeitig als das
Fundament einer integrierten Gesamtpersönlichkeit verstanden werden
kann, vertritt Hettlinger (1970). Von anderen Autoren, wie
beispielsweise Winnicott, werden allerdings divergierende Vorstellungen
vertreten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß
der von Freud angenommene Prozeß der Entwicklung zur reifen
Psychosexualität einer Vielzahl möglicher Störungen ausgesetzt ist
und nach Freuds Auffassung in der Regel auch nie in idealer Weise
durchlaufen wird. Dabei wird die psychosexuelle Reife von Freud nicht
begriffen als ein jemals endgültig zu erreichendes Resultat, sie bleibt
vielmehr auch dann, wenn sie genug etabliert ist, der Gefahr einer Rückbildung
ausgesetzt. 4 Die infantile Sexualität Die infantile Sexualität, wie sie Freud
in den «Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie» (1905 a) darstellt,
zeichnet sich durch eine extrem «analytische» Interpretation aus. Nach
Freud ist die infantile Sexualität kein in sich abgeschlossenes und
einheitliches Phänomen, sie zerfällt vielmehr in zahlreiche
Komponenten («Partialtriebe»), ist an unterschiedliche «erogene Zonen»
gebunden und durchläuft verschiedene, bei jedem Menschen anzunehmende
«Phasen». Die «Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie» zerfallen in die Abschnitte über «sexuelle
Abweichungen» (Perversionen), über die «infantile Sexualität» und
über die «Umgestaltungen der Pubertät», also über die Veränderungen,
die die Sexualität zur Zeit der Reife erfährt. Es wird durch Freuds
Argumentation aber klar, daß das in den «Abhandlungen» erörterte
Kernproblem die infantile Sexualität darstellt. In den sexuellen
Abweichungen drückt sich nach Auffassung Freuds weitgehend psychischer
Infantilismus aus, während die Umgestaltungen in der Pubertät im
wesentlichen durch die Schicksale der infantilen Sexualität vorbereitet
und determiniert werden. Die sexuellen Deviationen unterteilt
Freud nach Objekt und Ziel, eine Unterscheidung, die er von Krafft-Ebing
(1886) übernimmt. Überschreitungen hinsichtlich des Objektes sieht
Freud in der Homosexualität und in der Wahl von Kindern und Tieren als
Sexualobjekten. Auffassungen über Abweichungen in Bezug auf das
Sexualziel (z. B. Cunnilingus, Fellatio oder Fetischismus, die Freud als
sexuelle Abirrungen begreift), lassen erkennen, wie stark Freud trotz
aller aufklärerischen Intentionen an zeitbedingte Moralvorstellungen
gebunden blieb. Dennoch sieht Freud keine scharfe Grenze
zwischen den Deviationen und der normalen Sexualität gegeben. Beide
sind zur Zeit der infantilen Sexualität noch gar nicht voneinander zu
trennen. Das Kind ist «polymorph pervers» veranlagt, seine Sexualität
steht nicht im Zeichen der Fortpflanzungsfunktion. Der Verzicht auf die
Fortpflanzung als eigentlichem Ziel der menschlichen Sexualbetätigung,
wie er im Falle der Perversionen vorliegt, ist denn auch das inhaltlich
übereinstimmende Merkmal zwischen infantiler Sexualität einerseits und
devianten sexuellen Verhaltensweisen andererseits. Aber, so bemerkt
Freud, die Perversion zeichne sich normalerweise durch die Tyrannis
eines Partialtriebes aus, der das gesamte sexuelle Verhalten des
Betreffenden beherrscht und zentriert, während eine entsprechende
Organisation beim Kind nicht vorliege, weshalb der Vergleich zwischen
Perversion und infantiler Sexualität nur eingeschränkte Gültigkeit
besitze. Erst durch die Erziehung werden beim
Kind «seelische Dämme» errichtet - Freud nennt hier die Moral, die
Scham und den Ekel -, die allerdings nicht nur restriktive Bedeutung
haben. Sie tragen vielmehr auch dazu bei, die reife, heterosexuell
orientierte und auf Fortpflanzung ausgerichtete Psychosexualität des
Erwachsenen vorzubereiten. Auch der Erwachsene besitzt in der Regel eine
organisierte und zentrierte Form der Sexualität, die sich durch den
Primat der Genitaltät auszeichnet. Diese Organisation wird durch den
Verzicht auf eine Reihe von ursprünglichen Triebzielen erworben und
durch Moral, Scham und Ekel in ihrem Bestand gesichert. Im Zustand der
Verliebtheit werden die kulturell bedingten Hemmungen allerdings
teilweise und vorübergehend wieder aufgehoben; Moral, Scham und Ekel
werden durch die «libidinöse» Überschätzung des Sexualobjektes»
eingeschränkt. Diese Barrieren haben die Funktion, die sozialen
Beziehungen der Menschen zu entsexualisieren, während sie beim Eingehen
leidenschaftlicher Beziehungen teilweise suspendiert werden. Die Sexualität des Neurotikers
kennzeichnet Freud vor allem durch drei Merkmale: (1) Weiterbestehen
einer noch dezentrierten, infantilen Sexualität; (2) Vorherrschen
perverser, wenngleich unbewußter oder nur in der Phantasie ausgelebter
Triebimpulse; (3) Bestehen einer starken Verdrängung von Triebimpulsen,
die eine Realisierung entsprechender Wünsche auf der Handlungsebene in
sozialen Beziehungen unmöglich macht und zur neurotischen Abwehr, zum
neurotischen Konflikt und damit verbunden zur psychischen Abspaltung führen
kann. Triebe und Triebanteile, die in dieser Weise abgespalten werden, können
in den vom Ich gesteuerten psychischen Integrationszusammenhang nicht
mehr aufgenommen werden und unterliegen damit einer Entwicklungshemmung.
Je umfassender die Verdrängung ausfällt, desto größer muß also der
Bereich werden, der auf diese Weise infantil bleibt. Der Verdrängungsprozeß setzt an den
verschiedenen psychosexuellen Phasen an, die jeder Mensch zu durchlaufen
muß und deren Bewältigung von jedem Menschen ein Stück Triebverzicht
erfordert, soll die durch die Erziehung angestrebte «Kulturfähigkeit»
erreicht werden. Allerdings ist zu weitgehende Verdrängung kein zur
Reife prädestinierender psychischer Mechanismus, vielmehr wird durch
diesen Mechanismus die notwendige Triebsteuerung durch das Ich
(Einsicht) unmöglich. Die der Verdrängung unterliegenden Triebe und
Triebanteile bleiben unsozialisiert, archaisch, in ursprünglicher Form
im unbewußten System erhalten - und damit potentiell bedrohlich.. In den verschiedenen psychosexuellen
Phasen steht jeweils eine erogene Zone im Vordergrund des sexuellen
Interesses des Kindes, und damit verbunden gewinnt der jeweilige
Partialtrieb vorübergehend Dominanz. Außerdem werden in den einzelnen
Phasen grundlegende Polaritäten herausgebildet, die für das spätere
sexuelle Leben des Erwachsenen kennzeichnend sind. Während der oralen
Phase, die noch ganz von der Beziehung zwischen Mutter und Kind bestimmt
wird, bilden sich die grundlegenden Fundamente der späteren
Ich-Organisation. Diese Phase steht damit im Zeichen der Polarität von
Subjekt und Objekt, bzw. ermöglicht eine erste Differenzierung
hinsichtlich dieser Polarität. In der sadistisch-analen Phase steht
nach Auffassung Freuds die Polarität «aktiv-passiv», in der
phallischen Phase der Gegensatz «männlich-kastriert» im Vordergrund.
Erst mit Erreichen der Pubertät bildet sich die Polarität «männlich-weiblich»
endgültig heraus; heute würde man sagen: findet die psychosexuelle
Geschlechtsidentität ihren endgültigen Ausdruck (vgl. Freud 1923
c). Der Sexualtrieb ist zunächst
autoerotisch und findet seine erste Betätigung in Anlehnung an die
lebenswichtige körperliche Funktion des Saugens an der Mutterbrust.
Damit tritt der Mund als erogene Zone während der oralen Phase in den
Vordergrund. In der analen Phase kommt dem Stuhlgang besondere Bedeutung
zu, womit der Anus zur dominierenden erogenen Zone wird. Ein Höhepunkt der infantilen Sexualität
wird schließlich während der prägenitalen Phase erreicht. Freud
spricht deshalb von prägenitaler Phase, weil hier das Primat der
Genitalität noch nicht umfassend verankert ist. Er kennzeichnet diese
Phase auch als die phallische, weil hier der Phallus bzw. die Klitoris
als korrespondierendes Organ - und damit die «männliche» Sexualität
bei beiden Geschlechtern - im Mittelpunkt des sexuellen Interesses
stehe. Diese infantile Sexualität nähert sich schon weitgehend der
Sexualität des Erwachsenen an, vor allem deshalb, weil das Kind in der
jetzt eintretenden Ödipussituation bereits eine - sexuell zu
interpretierende - Objektwahl trifft: «Die Annäherung des kindlichen
Sexuallebens an das der Erwachsenen geht viel weiter und bezieht sich
nicht nur auf das Zustandekommen einer Objektwahl. Wenn es auch nicht zu
einer richtigen Zusammenfassung der Partialtriebe unter das Primat der
Genitalien kommt, so gewinnt doch auf der Höhe des Entwicklungsganges
der infantilen Sexualität das Interesse an den Genitalien und die
Genitalbetätigung eine dominierende Bedeutung, die hinter der in der
Reifezeit wenig zurücksteht. Der Hauptcharakter dieser <infantilen
Genitalorganisation> ist
zugleich ihr Unterschied von der endgültigen Genitalorganisation der
Erwachsenen. Er liegt darin, daß für beide Geschlechter nur ein
Genitale, das männliche, eine Rolle spielt. Es besteht also nicht ein
Genitalprimat, sondern ein Primat des Phallus» (1923 c, 294f). An diese
Annahme knüpft Freuds Behauptung des «Penisneides» an, den er dem Mädchen
unterstellt, eine Behauptung, die vielfach kritisiert und als Ausdruck männlichen
Chauvinismus interpretiert worden ist (vgl. z. B. Millett 1970). Auch
Freuds Annahme, die Dominanz der Klitoris bei der erwachsenen Frau sei
Ausdruck eines Festhaltens an der infantilen Sexualität und mit dem
Wunsch nach «Männlichkeit» verbunden, ist im Kontext von Freuds
Theorie der phallischen Phase zu interpretieren und ebenfalls wiederholt
als Ausdruck einer zu einseitigen oder falschen Interpretation der
weiblichen Sexualität kritisiert worden (vgl. z. B. Sherfey 1972). Auf dem Höhepunkt der infantilen
Sexualität muß das Kind dann einsehen, daß es das gewünschte
Sexualobjekt - im Regelfall den gegengeschlechtlichen Elternteil - nicht
für sich gewinnen kann. Damit kommt die infantile Sexualentwicklung zum
Stillstand, «der in den kulturell günstigsten Fällen den Namen einer
Latenzzeit verdient. Die Latenzzeit kann auch entfallen, sie braucht
keine Unterbrechung der Sexualbetätigung und der Sexualinteressen auf
der ganzen Linie mit sich bringen» (Freud 1916-17, 337f). Die Bedeutung der von Freud angenommenen
Latenzzeit liegt also darin, daß während dieser Zeit der Beruhigung
der sexuellen Interessen des Kindes die Libido des Kindes von den Eltern
allmählich abgelöst werden kann. Ob dies, die Bewältigung des Ödipuskomplexes,
gelingt, zeigt sich dann aber erst beim Erreichen der Pubertät. Die
nach der Pubertät zu treffende Objektwahl erweist dann auch, ob die
psychosexuellen Phasen erfolgreich durchlaufen worden sind. Ist dies der
Fall, so ist der Autoerotismus weitgehend überwunden und die
Partialtriebe - Schau- und Zeigelust, sadistische und masochistische
Komponenten - sind unter dem Primat der Genitalität zusammengefaßt
worden. Die Vorherrschaft einzelner erogener Zonen wird damit endgültig
gebrochen. Allerdings bleibt fraglich, ob beim Kind tatsächlich eine
derart eindeutige Konzentration auf einzelne erogene Zonen anzunehmen
ist, wie Freud dies behauptet. Im «Abriß der Psychoanalyse» bemerkt
er nämlich, eigentlich sei «der ganze Körper eine solche erogene Zone»
(1940, 73). Dies dürfte bei dem auf sinnlichen Kontakt zur Umwelt noch
besonders stark angewiesenen Kind in besonderer Weise zutreffen. Die Lehre der psychosexuellen Phasen hat
in der psychoanalytischen Forschung eine noch weit differenziertere
Ausgestaltung erfahren, als hier referiert worden ist (z. B. bei Abraham
1949). Es ist auch versucht worden, spezifische neurotische Störungen
mit Traumen und Konflikten in einer jeweils spezifischen psychosexuellen
Phase in Verbindung zu bringen. Entsprechend einfache Reduktionsmodelle
werden jedoch heute nur noch als Teilhypothesen zur Erklärung
psychischer Krankheit herangezogen. Weiterhin hat die Annahme der
psychosexuellen Phasen zu Hypothesen hinsichtlich der
Charakterentwicklung geführt. Je nachdem, in welcher psychosexuellen
Phase der Betreffende aufgrund konstitutioneller oder akzidenteller
Momente mit überdurchschnittlichen Schwierigkeiten konfrontiert werde,
entwickle sich reaktiv hierzu seine Charakterstruktur. Bei Freud heißt
es über den «Charakter» in allgemeiner Form: «Was wir den
<Charakter> eines Menschen heißen, ist zum guten Teil mit dem
Material sexueller Erregungen aufgebaut und setzt sich aus seit der
Kindheit fixierten Trieben, aus durch Sublimierung gewonnenen und aus
solchen Konstruktionen zusammen, die zur wirksamen Niederhaltung
perverser, als unverwendbar erkannter Regungen bestimmt sind» (1905 a,
140 f). Freuds Schüler Wilhelm
Reich (1933) hat sich mit den Beziehungen zwischen Sexualität, Abwehr
und Charakterbildung besonders ausgiebig auseinandergesetzt. Die in den «Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie» (1905 a) dargestellte Sicht der infantilen Sexualität
ist, so kann man abschließend zusammenfassen, zergliedernd und
analysierend. Durch dieses Vorgehen konnte Freud Verbindungen zwischen
Erscheinungen aufzeigen, die zuvor weitgehend als schroffe,
unverbundene Gegensätze angesehen wurden. So erklärte Freud:
Freud war nun aber keineswegs der erste
Wissenschaftler, der sich eingehender mit Problemen der Sexualität
beschäftigte. Freuds Abhandlungen zur Sexualtheorie erschienen inmitten
einer Vielzahl von Arbeiten zum Problem der Sexualität, die ab 1880
immer zahlreicher wurden. Das wissenschaftliche Interesse am Thema
Sexualität gehörte zum Zeitgeist. Offenbar waren die einschlägigen
Arbeiten zum Thema so bekannt, daß Freud in den «Abhandlungen» die
entsprechenden Autoren - Krafft-Ebing, Moll, Moebius, Ellis,
Schrenck-Notzing, Löwenfeld. Eulenburg, Bloch und Hirschfeld - nur
schlagwortartig nennt und hinzufügt, «da an diesen Stellen auch die übrige
Literatur des Themas aufgeführt ist, habe ich mir detaillierte
Nachweise ersparen können» (1905 a, 33, Anm. 1). Freud kann also
keineswegs als erster oder gar einziger Autor aufgefaßt werden, der
sich mit dem Problem der Sexualität wissenschaftlich beschäftigt und
engagiert für sexuelle Aufklärung eingesetzt hätte (vgl. Ellenberger
1970). So erschien im gleichen Jahr wie Freuds «Abhandlungen» «Die
sexuelle Frage» von Auguste Forel (1905), der als Direktor am Zürcher
«Burghölzli» Vorgänger von Eugen Bleuler war. Im 18. Jahrhundert hatte vor allem die
Frage der Masturbation in der wissenschaftlichen Literatur zum Problem
der Sexualität eine Rolle gespielt. Man war darum bemüht, alle möglichen
körperlichen und geistigen Leiden auf die Masturbation zurückzuführen
(Bekker 1710; Tissot 1764). Im 19. Jahrhundert stand dann das Problem
der Perversionen im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses (z. B.
Kaan 1844; Moreau 1880), und man argumentierte vielfach, Perversionen
seien als Degenerationserscheinungen aufzufassen. Gegen Ende des 19.
Jahrhunderts und mit Beginn des 20. Jahrhunderts bemühte man sich
zunehmend, das Problem der Sexualität unter weniger ideologischen
Voraussetzungen abzuhandeln. Dabei wurde - wie bei Freud - die bürgerliche
Moral selbst zum Gegenstand der Kritik, nachdem sie zuvor noch oft als
impliziter Bestandteil der «wissenschaftlichen» Theorien erschienen
war. 1889 gründete Magnus Hirschfeld die erste Fachzeitschrift für
Sexualforschung, das «Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen». 1906 prägte
Iwan Bloch im deutschen Sprachraum den Begriff «Sexualwissenschaft»
(nach Wettley und Leibbrand 1959). Moll hatte «Untersuchungen über die
Libido sexualis» (1898) veröffentlicht, ein Werk, aus dem Freud nach
eigenen Angaben den Terminus Libido übernehmen konnte. Die Theorie der
Bisexualität des Menschen war schließlich bereits von Weininger (1903)
und vor dem Erscheinen der «Abhandlungen» Freuds populär. Freud
konnte sich also auf eine Fülle von Material beziehen, das unabhängig
von der psychoanalytischen Forschung erarbeitet worden war. Als wichtigsten Beitrag Freuds zur
zeitgenössischen Sexualforschung muß man wohl seine Auffassung der
infantilen Sexualität und der ihr zugeschriebenen determinierenden
Kraft für die reife Psychosexualität des Erwachsenen anerkennen. Freud
verknüpfte diese Bedeutung der infantilen Sexualität im Zuge der sich
mehr und mehr entfaltenden psychoanalytischen Theorie mit allgemeinen
Annahmen über die Kindheit, die weit über den Problembereich der
Sexualität hinausreichten. Als besonderes Merkmal der «Kindheit»
erschienen die Prägbarkeit und Beeinflußbarkeit, denen das Kind
unterliegt. So können infantile Erlebnisse und Eindrücke, die im
Unbewußten verankert sind, über Jahrzehnte hinweg das Verhalten
determinieren, ohne daß der Betreffende diese Basis-Motivation zu
erkennen braucht. Entsprechende Erlebnisse müssen nach Freud nicht
notwendig eine unmittelbare Wirkung zeigen, diese kann vielmehr erst
nach einer Periode der Latenz eintreten. Die Annahme einer Latenzphase, die Freuds Auffassung der menschlichen
Sexualentwicklung auszeichnet, kehrt deshalb auch in Freuds allgemeiner
Neurosenlehre wieder. In seiner Arbeit «Der Mann Moses und die
monotheistische Religion» (1937-39) - in der letzten großen Schrift, die zu Freuds Lebzeiten
erschienen ist - faßt Freud noch einmal zusammen, «daß die Genese der
Neurose überall und jedesmal auf sehr frühe Kindheitseindrücke zurückgeht» (1937-39,
177 - Herv.: B. N.). Für
den Verlauf der Neurose wird folgendes allgemeines Schema aufgestellt:
«Frühes Trauma - Abwehr - Latenz - Ausbruch der neurotischen
Erkrankung - teilweise Wiederkehr des Verdrängten» (1937-39,
185). Das ist genau das Schema, das Freud für die menschliche
Sexualentwicklung annimmt: Infantile Sexualität - Abwehr archaischer
und primitiver Triebimpulse - Latenz - Pubertät (= erneuter «Ausbruch»
der Sexualität) - teilweise Wiederkehr der infantilen Sexualität (etwa
im Zusammenhang mit der Objektwahl). Wie eng Freud die Verbindung zwischen seinen Annahmen über die
Sexualentwicklung des Menschen einerseits, seinen Annahmen zur
Entstehung der Neurosen andererseits selbst sieht, geht auch aus dem
Aufbau der «Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse» (1916-17)
hervor. Hier widmet er dem Problem der Sexualität - im
Unterschied zu den Themen «Fehlleistungen» und «Traum» - keinen
eigenständigen Abschnitt, vielmehr gliedert er die Ausführungen zur
Sexualität in den dritten Teil der «Vorlesungen», in die allgemeine
Neurosenlehre, ein. In den folgenden Abschnitten werden abschließend weitere Gesichtspunkte der «Kindheit», der «Animalität» und der «Kultur» des Menschen erörtert, die dann noch genauer erkennen lassen, warum Freud solch enge Beziehungen zwischen Sexualität und Neurose angenommen hat. 5 Das Problem der «Kindheit» Freud schrieb 1920, im Vorwort
zur vierten Auflage der «Abhandlungen», diese hätten überhaupt nicht
geschrieben werden müssen, «verstünden es die Menschen, aus der
direkten Beobachtung der Kinder zu lernen» (1905
a, 32).
In dieser vielleicht etwas überpointierten Formulierung
kommt die Bedeutung zum Ausdruck, die Freud der Kindheit beimißt. Man könnte
die gesamte psychoanalytische Theorie, soweit sie von Freud selbst
stammt, interpretieren als einen groß angelegten Versuch, zu
rekonstruieren, was unter Kindheit zu verstehen sei und wie deren Folgen
sich im psychischen Leben des Erwachsenen manifestieren. Dabei wäre «Kindheit»
allerdings sowohl im ontogenetischen wie auch im phylogenetischen Sinne
zu begreifen; auf die von Freud angenommenen Wechselbeziehungen zwischen
beiden Formen der Kindheit wird im Abschnitt über die «Animalität»
des Menschen noch zurückzukommen sein. Die Gegensätze von Primärvorgang und Sekundärvorgang, Affekt und
Vernunft, Unbewußtem und Bewußtem, Es und Ich, Traum und Wachleben,
schließlich von infantiler Sexualität und reifer Psychosexualität des
Erwachsenen reflektieren die angenommene Ausgangsfragestellung. Die
Kindheit des Menschen im anthropologischen Sinne wird bei Freud durch
die Annahme einer archaischen Triebkonstitution repräsentiert, der dann
die später zu erreichende «Kulturfähigkeit» des Erwachsenen gegenübersteht.
Auch hier sind Parallelen zur Philosophie Nietzsches unverkennbar.
Wittels (1931)
hat darauf hingewiesen, daß die für die psychoanalytische
Theorie grundlegende Einteilung in primäre und sekundäre Funktion mit
Nietzsches (1872)
Einteilung in Dionysisches und Apollinisches Prinzip übereinstimmt.
Das Dionysische Prinzip repräsentiert bei Nietzsche den Rausch, die
Archaik der Triebe, denen eine eigene Form der Vernunft zukommt, also
die Transzendenz des Ich und weitere Merkmale, die von Freud dem unbewußten
System, bzw. dem Es zugeschrieben werden. Im «Traum» wird der Mensch nach Auffassung Freuds wieder zum Kind,
arbeitet der psychische Apparat im wesentlichen nach der primären
Funktion. Auch das «Spiel» benutzt das Kind dazu, sich dem Druck der
vernünftigen Realität zu entziehen. Andererseits ist es das Ziel der
Erziehung, beim Kind einen zweckgerichteten, identischen Charakter zu
erreichen, die Fähigkeit aufzubauen, Wunsch und Wirklichkeit, Phantasie
und Realität zu unterscheiden, kurz, die Realität zu beachten. Dabei
wird das Kind großen «Einschränkungen» (Freud 1905
b, 141) unterworfen, «und darum ist die Auflehnung gegen den
Denk- und Realitätszwang eine tiefgreifende und lang anhaltende» (1905
b, 141). Nicht nur die Sexualität im engeren Sinne widersetzt
sich ihrer realitätsgerechten Umformung, bleibt also schwer erziehbar,
sondern das Vernünftig- und Erwachsenwerden überhaupt und die damit
verbundenen Umgestaltungsprozesse fordern nach Freud Widerstand heraus.
Der Traum und die Phantasie bleiben dann als Reste der einstigen «Freiheit»
erhalten; sie entziehen sich dem Realitätszwang. Also auch bei einem erfolgreichen Durchlaufen des Erziehungsprozesses
bleibt das Ursprüngliche, das Infantile, bis zu einem gewissen Grade
erhalten. Es bleibt in den tiefsten Schichten der Persönlichkeit
verankert. Von hier aus sind Freuds Hypothesen über das Unbewußte zu
verstehen: «Das Infantile ist nämlich die Quelle des Unbewußten, die
unbewußten Denkvorgänge sind keine anderen, als welche im frühen
Kindesalter einzig und allein hergestellt werden» (1905 b, 194). Beim «normalen» Erwachsenen sind diese infantilen psychischen Phänomene
vielfach überlagert und umgeformt und daher kaum noch direkt
beobachtbar. Erst unter der Voraussetzung einer spezifischen Methode -
eben der psychoanalytischen - können diese Vorgänge wieder zu neuer
Aktivität angeregt und dann auch erkannt werden. «Leichter zu fassen
sind die Charaktere dieser unbewußten Denkvorgänge in den Äußerungen
der Kranken bei manchen psychischen Störungen. Es ist sehr
wahrscheinlich, daß wir nach des alten Griesinger Vermutung imstande wären,
die Delirien der Geisteskranken zu verstehen und als Mitteilungen zu
verwerten, wenn wir nicht die Anforderungen des bewußten Denkens an sie
stellen, sondern sie mit unserer Deutungskunst behandeln würden wie
etwa die Träume. Auch für den Traum haben wir ja seinerzeit die <Rückkehr
des Seelenlebens auf den embryonalen Standpunkt> zur Geltung gebracht»
(1905 b, 194f). Wichtig für die von Freud aufgestellten Hypothesen hinsichtlich des Übergangs
von der infantilen Sexualität zur Psychosexualität des Erwachsenen
sind nun einige der Auffassungen Freuds über die Qualität des Unbewußten.
Es geht dabei um die tatsächlich vorgefallenen Ereignisse sowie um die
Art und Weise, in der sie vom Kind erlebt worden sind. Hier wären auch
die von Freud behauptete Unzerstörbarkeit und Unvergänglichkeit der im
unbewußten System festgehaltenen Eindrücke - seien sie ontogenetischer
oder phylogenetischer Abkunft – zu berücksichtigen. «Es ist sogar
eine hervorragende Besonderheit unbewußter Vorgänge, daß sie unzerstörbar
bleiben. Im Unbewußten ist nichts zu Ende zu bringen, ist nichts
vergangen oder vergessen» (1900, 583). Da aber die infantile Sexualität zunächst noch ganz
mit dem unbewußten System und den Primärvorgängen verbunden ist, wird
von hier aus erklärbar, wieso Freud gerade den infantilen sexuellen
Erlebnissen und den in ihnen enthaltenen Objekten einen derart starken,
die Sexualität des Erwachsenen determinierenden Einfluß zuschreibt. Denn die infantilen Triebwünsche «stellen für alle späteren seelischen
Bestrebungen einen Zwang dar» (1900,
609). Und weiterhin können «die primitiven Zustände immer
wieder hergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne
unvergänglich» (1915 f, 337). Wiederholungszwang
und Regression sind aber ihrerseits, wie bereits gezeigt, eng mit Freuds
Auffassungen der Sexualität verbunden. Hinsichtlich der Gefahr der
Regression in Verbindung mit der Sexualität heißt es bei Freud: «Aus
der infantilen Sexualität geht die normale des Erwachsenen hervor durch
eine Reihe von Entwicklungsvorgängen, Zusammensetzungen, Abspaltungen
und Unterdrückungen, welche fast niemals in idealer Vollkommenheit
erfolgen und darum die Disposition zur Rückbildung der Funktion in
Krankheitszuständen hinterlassen» (1913 a, 409). Aber nicht nur im Krankheitsfall, sondern auch im Normalfall kommt es im
«Liebesleben» des Erwachsenen
zur Wiederbelebung infantiler Momente. Wiederbelebt werden nach Freud
vor allem die Gefühlsrelationen, die im Zusammenhang mit der Ödipussituation
eine Rolle spielten. Zu jener Zeit war das Kind bereits «ein bis auf
die Fortpflanzungsfähigkeit fertiges Liebeswesen» (1907
a, 22). Es zeigte die für
seine Entwicklungsgeschichte typischen psychischen Leistungen der Zärtlichkeit,
der Hingabe, der Eifersucht und des Hasses, eben die
psychischen Phänomene, die nach Freud beim Erwachsenen nicht neu
auftreten, vielmehr als Wiederholungen zu interpretieren sind.
Entsprechende Wiederholungen wurzeln zum Teil in der ontogenetischen
Entwicklungsgeschichte des Individuums, zum Teil aber auch in der prähistorischen
Vorzeit der Art und reichen letztlich bis in die animalische
Vergangenheit des Menschen zurück. Freud sieht das Kind also weder asexuell noch leidenschaftslos; er
nimmt im Gegenteil an, daß das Kind zu den stärksten Affekten fähig
ist. Damit steht er in deutlichem Widerspruch zur Ideologie vom reinen,
liebenswürdigen und unschuldigen Kind. Auch der Auffassung, der an sich
«gutartige» Charakters des Kindes werde erst durch schädliche
Umwelteinflüsse und Erfahrungen verdorben, widerspricht Freud. Wenn es
überhaupt sinnvoll ist, Wertmaßstäbe an das kindliche Verhalten
heranzutragen, so kann - nach Meinung Freuds - das Kind hinsichtlich der
Durchsetzung seiner Triebwünsche als
egoistisch und rücksichtslos gelten.
Freud spricht in diesem Sinne von einer «morallosen Kindheitsperiode» (1900,
256), die
mit der «polymorph perversen» Veranlagung des Kindes in Beziehung zu
setzen wäre. Allgemein stellt Freud über das «primäre Ich», den
Charakter des Kindes, fest: «Das Kind ist absolut egoistisch, es
empfindet seine Bedürfnisse intensiv und strebt rücksichtslos nach
ihrer Befriedigung, insbesondere gegen seine Mitbewerber, andere Kinder,
und in erster Linie gegen seine Geschwister» (1900,
256). In dieser Feststellung ist Freuds
Auffassung vom noch nicht gebändigten Trieb, der impulsiv und gewalttätig
nach direkter Abfuhr und unmittelbarem Lustgewinn strebt, deutlich zu
erkennen. Auch Freuds Annahmen über den fiktiven «Urmenschen» (1913 b) zeigen eine Parallele zu
diesem Bild des Kindes. Dennoch betont Freud, es gebe an sich weder
einen «guten» noch einen «bösen» Trieb, entsprechend wertende
Klassifikationen seien kulturell bedingt: «Die psychologische - im
strengen Sinne die psychoanalytische - Untersuchung zeigt ..., daß das
tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer
Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf Befriedigung
gewisser ursprünglicher Bedürfnisse
zielen. Diese Triebregungen
sind an sich weder gut noch böse. Wir klassifizieren sie und ihre Äußerungen
in solcher Weise, je nach ihrer Beziehung zu den Bedürfnissen und
Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft. Zuzugeben ist, daß alle
Regungen, welche von der Gesellschaft als böse verpönt werden ...,
sich unter diesen primitiven befinden» (1915
f, 331 - Herv.: B. N.). Das Bild vom unschuldigen,
leidenschaftslosen und asexuellen Kind, das man vor den «Gefahren» der
Welt der Erwachsenen behüten und abschirmen müsse, entstand zwischen
dem 16.
und 18. Jahrhundert. Van
Ussel (1970, 95)
spricht in diesem
Zusammenhang von der «Infantilisierung des Kindes». Das Kind wurde in
eine eigene, «künstliche», eben infantile Welt eingeschlossen und,
soweit es in der bürgerlichen Schicht aufwuchs und für einen länger
andauernden Schulbesuch vorgesehen war, losgelöst von der Realität -
insbesondere von der Realität der Arbeitswelt - erzogen. « Der Schüler
an einer höheren Schule war historisch gesehen das erste <große>
Kind … » (van Ussel 1970,
97). Das
Kind wurde nun zunehmend verniedlicht und verzärtelt, seine
Leidenschaften wurden nicht mehr ernst genommen. Dieser
Infantilisierungsprozeß, der weittragende Auswirkungen auf den
emotionalen und besonders auf den sexuellen Sozialisierungsprozeß haben
musste - Auswirkungen, wie sie dann unter den Stichworten «Entwicklungshemmung»
und «psychischer Infantilismus» in Freuds Neurosenlehre beschrieben
werden -, griff von der Erziehung des Kindes über auf den Umgang mit
Jugendlichen. Die länger gewordene Schul- und Ausbildungszeit
prolongierte den Status des «Jungseins». Die Schulen, die sich nach
dem Vorbild der Klosterschulen organisiert hatten, existierten jenseits
der übrigen gesellschaftlichen Realität. Die Jugendlichen pflegten nun
ihre eigenen Ideale und hatten Vorstellungen, die zum Teil erheblich an
der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbeizielten. «Sturm und Drang»
oder die «Romantik» können vor dem Hintergrund dieser
Umstrukturierungsprozesse, die mit der Etablierung der bürgerlichen
Gesellschaft einhergehen, besser verstanden werden. In der vorbürgerlichen Gesellschaft war
die Kluft zwischen dem Kind und dem Erwachsenen, vor allem was den
psychischen Habitus anging, bei weitem nicht so groß, wie zur Zeit
Freuds oder auch heute. Nach van Ussel ist diese Kluft, die durch den
Infantilisierungsprozeß entstand, dem Kinder und Jugendliche
unterworfen wurden, Voraussetzung der psychischen Organisation des «modernen»
Menschen. «Auch das sexuelle Verhalten des Schülers und des Studenten
wurde infantilisiert. Man widersetzte sich in dieser Hinsicht allem, was
man beim Jungen Arbeiter geflissentlich übersah» (van Ussel 1970,
97). In der vorbürgerlichen
Gesellschaft wurden die Kinder dagegen noch als «kleine Erwachsene»
angesehen, denen man in sexueller Hinsicht dieselben Gefühlsregungen
und Begierden zuerkannte wie Erwachsenen. Die Kinder hatten in der häuslichen
Gemeinschaft einen Platz inne, der sich vom Status der Erwachsenen nur
bedingt unterschied, und sie wurden in einer Umgebung sozialisiert, in
der es wenig(er) Trennung zwischen «Heim» und Arbeit gab. Folgt man van Ussel, dann war die vorbürgerliche Gesellschaft durch
prosexuelle Einstellungen und Lebensweisen ausgezeichnet. Die Sexualität
des Kindes war noch nicht tabuiert. «Die Körperlichkeit wurde in einer
Weise praktiziert, die wir heute verlernt haben. Man berührt sich,
streichelt und umarmt sich, küsst sich; Ammen und Eltern masturbieren
kleine Kinder, um sie ruhig zu halten. Ältere Menschen haben Kontakte
zu Jugendlichen, die wir heute als sexuell bezeichnen würden. Die
Selbstbefriedigung wird erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts von
Medizinern und viel später von Geistlichen bekämpft. Die vorehelichen
geschlechtlichen Beziehungen sind institutionalisiert, desgleichen in
einigen Schichten auch der außereheliche Geschlechtsverkehr
... Daheim schläft man nackt, die ganze Familie und die Bediensteten
gemeinsam in einem Raum ... Die jungen Menschen brauchen keine sexuelle
Aufklärung, da sie aus der
Welt der Erwachsenen sehen, fühlen und lernen können, was sie wissen müssen»
(1970, 25). Die Kindheit (einschließlich der
Problematik der infantilen Sexualität), die im Werk Freuds als «prähistorische»
Epoche erscheint, die verdrängt, vergessen und verloren ist und die mühsam
zu rekonstruieren bleibt, dürfte zum Teil
das Ergebnis
der zwischen dem 16. und
18. Jahrhundert erfolgten Umstrukturierungsprozesse sein. Die strikte
Trennung zwischen der Kindheit einerseits und dem Status des
Erwachsenseins andererseits dürfte dem zukünftigen Erwachsenen auf
lange Sicht keine Konflikte ersparen, sondern diese im vollen Umfang
erst entstehen lassen. Damit verbunden wäre auch die von Freud betonte
Ablösungsproblematik, die ja dann verschärft auftreten muß, wenn
zwischen der Kindheit und dem späteren Leben des Erwachsenen ein kaum
zu überbrückender Gegensatz besteht. Wenn das Kind die Freiheiten der
«Unvernunft» genießen kann, der Erwachsene aber vernünftig,
diszipliniert, beherrscht zu sein hat und seine Leidenschaften und
Affekte kontrollieren muß, wird der «Widerstand» erklärbar, den nach
Freud jeder Mensch gegen diesen Umstrukturierungsprozeß zeigt; und zum
anderen wird auch verständlich, warum die Kindheit als Vorbild eines «Glückes»
verklärt werden kann, das später kaum wieder zu erreichen ist. 6 «Das Unbehagen in der Kultur» Das von Freud angenommene Unbehagen in
der Kultur enthält, wie im vorausgegangenen Kapitel angedeutet,
durchaus eine historisch-gesellschaftliche Dimension. Der «Verlust der
Kindheit» kann bis zu einem gewissen Grad historisch interpretiert
werden. Allerdings erscheint im Werk Freuds die anthropologische
Dimension als die wichtigere. Jede
Kultur impliziert nach
Auffassung Freuds Triebverzicht – und damit eine Überwindung der
Kindheit und der «Animalität» des Menschen. Diese notwendigen
Verzichtsleistungen kennzeichnen das Schicksal der Sexualität des
Kulturmenschen und tragen nach Auffassung Freuds einen wesentlichen Teil
zur Neurosenbildung bei. Die Neurose ist nach Freud ohnehin als Preis
der Kulturentwicklung aufzufassen. Nachfolgend sollen einige Thesen
Freuds zum Problemkreis von Kultur, Neurose und Sexualität dargestellt
werden, wobei es unumgänglich sein wird, Freuds Ansichten über die «animalische»
Natur des Menschen mit zu berücksichtigen. In einer allgemeinen Umschreibung
kennzeichnet Freud die Kultur durch «all das, worin sich das
menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat und
worin es sich vom Leben der Tiere unterscheidet» (1927,
326). An anderer Stelle heißt es bei Freud, man könne die Kulturentwicklung
des Menschen mit der Domestikation gewisser Tierarten vergleichen. Vier
wesentliche Folgen ergeben sich aus dieser «Selbst-Domestikation» des
Menschen:
Wenn Freud das Problem des
Triebverzichts anspricht, betont er meist, daß sich der kulturell
erzwungene Triebverzicht sowohl auf sexuelle wie aggressive Triebwünsche
bezieht. Die Einschränkung der Aggression stellt sogar «das erste,
vielleicht das schwerste Opfer, das die Gesellschaft vom Einzelnen zu
fordern hat» (1933 a, 118), dar. Grundsätzlich sind vom Triebverzicht
Triebimpulse betroffen, die für den «animalischen Urzustand» (1927,
331) charakteristisch
sind. Dabei handelt es sich vor allem um die Triebimpulse «des Inzests,
des Kannibalismus und der Mordlust» (1927,
331). Da
jeder Mensch - zumindest unbewußt - gegen diese Unterdrückung
rebelliert, bleibt jeder Mensch «virtuell ein Feind der Kultur» (1927,
327). Freud nimmt nun einen sehr engen
Zusammenhang zwischen der Sexualität des Menschen und dessen Animalität
an, die im Verlauf der Sozialisation zur «Kulturfähigkeit» umgeformt
werde. Sexualität und Animalität sind beispielsweise durch das «Exkrementelle»
miteinander verbunden. Die Körperausscheidungen und die Sexualität
sind weiterhin durch die «Riechlust» miteinander verbunden, die beim
Kulturmenschen einer besonders starken Verdrängung unterliegt (1912 a).
Bei Freud heißt es zu diesem Problemzusammenhang weiter: «Ganz
allgemein möchte ich die Frage aufwerfen, ob nicht die mit der Abkehr
des Menschen vom Erdboden unvermeidlich gewordene Verkümmerung der
Riechlust einen guten Anteil an seiner Befähigung zu neurotischen
Erkrankungen haben kann. Es ergäbe sich ein Verständnis dafür, daß
bei steigender Kultur gerade das Sexualleben die Opfer der Verdrängung
bringen muß. Wir wissen ja längst, welch inniger Zusammenhang in der
tierischen Organisation zwischen dem Sexualtrieb und der Funktion des
Riechorgans hergestellt ist» (1909, 462). Aus diesem Zitat geht
zweierlei hervor: Zum einen sieht Freud in der Kulturentwicklung eine
Abkehr von der ursprünglichen tierischen Vergangenheit des Menschen -
die allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, im unbewußten System
erhalten bleibt; zum anderen führt er aus, daß diese Abkehr womöglich
zutiefst mit der Befähigung zur Neurose verbunden ist. Dieser Gedanke,
daß sich psychische Krankheit auf die Verdrängung der Animalität zurückführen
lasse, findet sich in der Psychiatrie des 17. und 18. Jahrhunderts häufig
(vgl. Foucault 1961). Demnach wäre der Wahnsinn als allgemeine
Ausdrucksform psychischer Krankheit durch das «Milieu» möglich
geworden, durch die «Zivilisation», die zur Entfremdung von der
animalischen Natur geführt hat, die dem Menschen ursprünglich zukam. Für
Freuds Kulturtheorie wie auch für seine Neurosenlehre ist also ein
angenommener prinzipieller Widerspruch zwischen «Natur» und «Kultur»
konstitutiv. Bei aller kultureller Umgestaltung, die
die Triebkonstitution des Menschen erfahren hat, erinnern die Genitalien
doch weiterhin an die animalische Abkunft des Menschen. «Sie haben die
Entwicklung der menschlichen Körperformen zur Schönheit nicht
mitgemacht, sie sind tierisch geblieben, und so ist auch die Liebe im
Grunde heute ebenso animalisch, wie sie es von jeher war» (Freud 1912
a, 90). Es ist sicher kein Zufall, daß Freud in
diesem Zusammenhang von «Liebe» spricht, also nicht nur die Sexualität
im engeren Sinne auf die Animalität des Menschen bezieht. Die Liebe und
die mit ihr verbundenen Leidenschaften, Affekte und Gefühle wurzeln
nach Auffassung Freuds in der Animalität des Menschen. Diese Annahme
vorausgesetzt, muß dann eine zu weit gehende Unterdrückung der
animalischen Natur, eine zu umfangreiche Verdrängung des «Triebes»,
auch zu einer eingeschränkten Liebesfähigkeit führen. Eine Einschränkung
der Liebesfähigkeit ist deshalb besonders beim Neurotiker, der stark
verdrängt, aber grundsätzlich auch bei jedem Kulturmenschen
anzunehmen, der, um geistig «normal» zu bleiben, ebenfalls bis zu
einem gewissen Grade, wenngleich in weniger umfassender Form, verdrängen
muß. Der primitive Mensch steht, wie das
Kind, der Natur und damit seiner eigenen Animalität näher als der
Kulturmensch. Daher muß er, wie Freud in «Totem und Tabu» (1913 b)
ausführt, im Vergleich zum Kulturmenschen, der viele Triebwünsche gar
nicht mehr wahrnimmt, die der Primitive noch unmittelbar empfindet, auch
zu besonders rigiden Abwehrmaßnahmen greifen. Er sucht Zuflucht beim
Tabu, um seine soziale Organisation aufrecht zu erhalten (vgl. auch:
Freud 1918 b). Andererseits hat der Primitive, wie Freud meint, ein
ursprünglicheres und positiveres Verhältnis zur Geschlechtlichkeit. So
erweist er den Genitalien mit Hilfe von Fruchtbarkeitsriten
(Phalluskult) göttliche Verehrung (Freud 1910 c), während die
Genitalien für den Kulturmenschen zum Objekt der Geringschätzung und
u. U. sogar des Ekels geworden sind. Ohnehin bestand nach Ansicht Freuds
ursprünglich ein sehr enger Zusammenhang zwischen Religion und
Geschlechtlichkeit (vgl. Pfürtner 1972). Göttliches und Heiliges seien
ursprünglich aus der Geschlechtlichkeit des Menschen extrahiert worden,
meint Freud. Im Verlaufe der Kulturentwicklung habe sich dieser
Zusammenhang immer mehr aufgelöst, bis der «erschöpfte Rest (der
Geschlechtlichkeit - B. N.) der Verachtung verfiel» (1910 c, 167).
Ursprünglich, so schreibt Freud in den «Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie» (1905 a), sei der Trieb verehrt und geheiligt worden, während
das Objekt des Triebes weniger
gegolten habe und erst durch den Trieb aufgewertet worden sei. Unter der
Bedingung der Kulturentwicklung habe sich dieses Verhältnis umgekehrt.
Jetzt gelte der Trieb als solcher wenig und werde erst durch das Objekt
(die Liebe zum Objekt) erhöht und gewürdigt. Diese durch die
Kulturentwicklung eingetretene Abwertung des Triebes kann als
Bestandteil der umfassenden Abwertung der Animalität des Menschen
verstanden werden. Wie Freud in der Arbeit «Über die
allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens» (1912 a) ausführt, hängt
die weit verbreitete Liebesunfähigkeit, die bis zu einem gewissen Grade
bei jedem Kulturmenschen anzunehmen sei, mit den durch die
Kulturentwicklung geschaffenen Bedingungen zusammen. Zu diesen
Bedingungen gehört, wie ausgeführt, die Verdrängung der animalischen
Natur. «Psychische Impotenz» ist so gesehen eine der Folgen des durch
die Kulturentwicklung erzwungenen Verdrängungsprozesses. Denn die
Beeinträchtigung der Potenz und der Fähigkeit zum Orgasmus beruhen auf
der Unterdrückung der Affekte. Sexuelle Aktivitäten laufen beim
Kulturmenschen also unter eingeschränkter emotionaler Beteiligung ab.
Freud geht in der zitierten Arbeit so weit zu behaupten, «daß das
Liebesverhalten des Mannes in unserer heutigen Kulturwelt überhaupt den
Typus der psychischen Impotenz an sich trägt» (1912 a, 85). Von dieser
psychischen Impotenz des Mannes ist dann reaktiv auch das Liebesleben
der Frau betroffen, die darüber hinaus in besonders hohem Maße ungünstigen
Einflüssen der Kultur und Erziehung unterworfen sei (Freud 1912 a). Die besonders beim Neurotiker
anzunehmende Liebesunfähigkeit, der allerdings letztlich ein erhöhtes
Bedürfnis nach Liebe, Zuwendung und Abhängigkeit entspricht, verdankt
sich ausgedehnten Verdrängungen, denen die Emotionalität des Kranken
und insbesondere die mit der Sexualität verbundenen Affekte unterliegen
(Freud 1914 b). In der Arbeit «Der Wahn und die Träume in W. Jensens
<Gradiva>» (1907 b) schildert Freud anhand eines zeitgenössischen
Romans den Zusammenhang zwischen Verdrängung, «Flucht vor der Liebe»
(1907 b, 96) und Flucht in die Krankheit. Auch dabei zeigt Freud wieder
die große Bedeutung der Kindheit für den Verdrängungsprozeß. Und er
stellt die affektive Erinnerung an die Kindheit, deren emotionale
Wiedergewinnung, als Ausgangspunkt der Heilung dar. Der von Jensen
(1903) geschilderte Romanheld, mit dem sich Freud - so wird hier
unterstellt - identifiziert, wird durch eine Liebesbeziehung von seinen
Wahnvorstellungen geheilt, wobei die Heilung auf der Wiedererweckung
verdrängter Gefühle beruht. Dies aber sei, so meint Freud, das Endziel
jeder psychoanalytischen Behandlung. «Jede psychoanalytische Behandlung
ist ein Versuch, verdrängte Liebe zu befreien» (1907 b, 118). Das Instrument, mit dessen Hilfe die
Liebesfähigkeit des Kranken wieder hergestellt werden soll, ist die Übertragung,
wie Freud in späteren Schriften systematisch ausführt (Freud 1912 b;
1915 e). Die Übertragungbeziehung stellt eine künstliche Beziehung dar
- «künstlich» deshalb, weil die auf den Therapeuten übertragenen Gefühle
den inzestuösen Liebesobjekten gelten, nicht dem Therapeuten, der sich
(vorübergehend) als «Ersatzobjekt», als «Surrogat» der inzestuösen
Liebesobjekte bzw. eines bestimmten infantilen Liebesobjektes zur Verfügung
stellt. Mit Hilfe der Übertragung sollen die inzestuös gebundenen Gefühle
reaktiviert, aber auch von den mit ihnen verbundenen Objekten abgelöst
werden. Die so befreiten Gefühle sollen dann - nach gelungener Therapie
- für eine neue Objektwahl zur Verfügung stehen. Anders ausgedrückt
hieße dies: die Fixierungen der Libido werden aufgehoben, nachdem die
Verdrängungen rückgängig gemacht worden sind und der Patient Zugang
zur Kindheit und zu den mit ihr verbundenen Erlebnis- und
Erfahrungsqualitäten gefunden hat. Bestehende Verdrängungen führen nach
Freud zu einer weitgehenden Einschränkung der Emotionalität. Sie
zwingen zur Wahl von «Ersatzobjekte(n) und (zu) Ersatzhandlungen»
(1913 b, 40). Schließlich können sie auch eine «täuschende Triebstärke»
(1915 c, 251) zur Folge haben.
Hypersexualität - das Ausleben sexueller Triebbedürfnisse im expansiven
Sinne - ist nach Ansicht Freuds
weit eher Zeichen des unterdrückten, denn des befreiten Triebes. Es ist
also «nicht die Rede davon, daß der Rat, sich sexuell auszuleben, in
der analytischen Therapie eine Rolle spielen könnte» (1916-17, 449).
Wie für den Neurotiker reale Liebesunfähigkeit und womöglich - zumindest
hinsichtlich des Phantasielebens- täuschende Triebstärke
charakteristisch sind, so zeichnet sich das Sexualleben der meisten
Kulturmenschen durch eine «Vereinigung von Prüderie und Lüsternheit»
(1910 a, 42) aus. Dabei bezieht sich die Prüderie, folgt man der
Argumentation Freuds, im wesentlichen auf die tieferen Emotionen und
Leidenschaften, die der Verdrängung unterliegen, weshalb sie
gleichzeitig Angst erregen, während sich die Lüsternheit auf die
verselbständigte sinnliche, d. h. explizit sexuelle Komponente der
menschlichen Sexualität bezieht (vgl. Freud 1912 a). Triebunterdrückung
und Sexualisierung sind also nach Auffassung Freuds miteinander
verbunden. Viele Mißverständnisse hinsichtlich
des von Freud angenommenen Gegensatzes von Trieb und Kultur ergeben sich
dann, wenn man diesen letzten Punkt nicht berücksichtigt. Das
Wesentliche an dem von Freud angenommenen kulturell notwendigen
Triebverzicht ist nicht die Unterdrückung der Sexualität im
expansiven, sondern im intensiven Sinne. Wird der Trieb gebändigt, müssen
nämlich nicht nur ursprüngliche Ziele aufgegeben werden, die sich im
Falle der Perversionen verselbständigen und im Falle der Neurosen zur
Phantasiebildung beitragen; vielmehr gehen dabei auch primäre Glücksmöglichkeiten
(intensive Erlebnisweisen) verloren. Durch den Fortschritt der Kultur tauscht der Mensch ursprüngliche
Glücksmöglichkeiten gegen Sicherheit und abgedämpfte
Leidenschaftlichkeit ein. Freud stellt unter diesem Gesichtspunkt den
fiktiven «Urmenschen» dem - an sich ebenfalls nur prototypisch zu
verstehenden - «Kulturmenschen» gegenüber. «Wenn die Kultur nicht
allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen
so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, daß es dem
Menschen schwer wird, sich in ihr beglückt zu finden. Der Urmensch
hatte es in der Tat darin besser, da er keine Triebeinschränkungen
kannte. Zum Ausgleich war seine Sicherheit, solches Glück lange zu
genießen, eine sehr geringe. Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit
ein Stück Sicherheit eingetauscht» (1930, 474). Die hier von Freud erwähnten
Triebeinschränkungen beziehen sich - denkt man an den beim Übergang
vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip zu leistenden Verzicht auf
unmittelbare und direkte Triebbefriedigung, der andererseits eine
gesicherte Form der Triebbefriedigung erst ermöglicht - nicht allein
auf bestimmte Triebäußerungen. Die Beachtung der Realität, der Übergang
zum Realitätsprinzip, der Aufbau des Ich sind verbunden mit einer
weitgehenden Abkehr vom primärprozeßhaften Erleben, der psychischen «Primitivität»,
haben also einen Verlust an Unmittelbarkeit, die Freud dem fiktiven
Urmenschen zuschreibt, zur Folge. Man kann in Freuds Auffassungen über
den Fortschritt der Kultur und den Aufbau des psychischen Apparates also
dieselben Grundannahmen erkennen. Wenn Freud einerseits ausführt, eine
bestimmte Art «täuschender Triebstärke» sei auf zugrunde liegende
Verdrängungsleistungen zurückzuführen, so betont er andererseits, daß
«die späteren Neurotiker sehr häufig einen besonders starken
Geschlechtstrieb und eine Neigung zur Frühreife ... in ihrer
Konstitution» (1908 b, 173) mitbrächten. Die Gültigkeit dieser
Annahme vorausgesetzt, hieße das, daß der spätere Neurotiker ebenso
wie der Primitive der «animalischen» Natur nähersteht und daher in
besonders hohem Maße abwehren, d. h. verdrängen muß, um sich in der
gesellschaftlichen Realität wenigstens mit Hilfe «mißglückter»
Kulturfähigkeit zu behaupten. Daß Freud tatsächlich zwischen dem
Primitiven und dem Neurotiker weitgehende Ähnlichkeiten annimmt, geht
aus seiner Arbeit «Totem und Tabu» (1913 b) hervor. Man könnte den von Freud angenommenen
«besonders starken Geschlechtstrieb» des Neurotikers aber auch als
Ergebnis ungenügender sexueller Sozialisation, als Ausdruck
nicht-integrierter archaischer Triebströmungen begreifen. Soweit die
Erziehung im 19. Jahrhundert von der Asexualität des Kindes überzeugt
war und Äußerungen der infantilen Sexualität unterdrückte und
denunzierte, mußte der Trieb unsozialisiert bleiben. Mangelnde sexuelle
Sozialisation, insbesondere mangelnde Eingliederung des Triebes in das
übrige affektive und emotionale Geschehen, könnte dann irrtümlich zur
Annahme eines besonders stark ausgeprägten Triebes führen. Jedenfalls nimmt Freud eine ungenügende
Sozialisation - über die Sexualität hinaus - beim Neurotiker an. Der
Neurotiker bleibt gewissermaßen der ungezähmten «Natur», der «Animalität»
verfallen. In seiner Isolierung versucht er dann «mit privaten Mitteln
zu leisten, was in der Gesellschaft durch kollektive Arbeit entstand»
(1913 b, 91). Seine Symptome gleichen «Zerrbildern» der religiösen
und künstlerischen Werke, die die Menschheit insgesamt hervorgebracht
hat, indem sie - durch die Entwicklung der Kultur - einen wesentlichen
Teil der archaischen Triebkonstitution umgeformt, Triebe und
Triebanteile sublimiert hat. Die von Freud beim Neurotiker angenommene
Asozialität legt, bezogen auf die Sexualität, eine mehr oder weniger
starke narzißtische Orientierung nahe. Autoerotismus und
Selbstbezogenheit sind aber nach Freud wesentliche Kennzeichen der
infantilen, perversen und neurotischen Sexualität. Die Neurose ist nun aber nicht allein
durch konstitutionelle Triebstärke oder aufgrund von Triebregungen
bedingt, die durch ungenügende Sozialisation verstärkt wurden; ein
weiterer Faktor - die Zurückweisung der Triebwünsche, die Ablehnung
der sexuellen Bedürftigkeit, der «gemeine(n) animalische(n) Not»
(1910 a, 171) – muß vorhanden sein, damit es zum neurotischen
Konflikt kommen kann. Ohne Ablehnung der Triebwünsche, die auf
archaische und daher ungenügend sozialisierte Triebimpulse zurückgehen,
käme keine Neurose, vielmehr eine Perversion zustande. Die während der Therapie intendierte «Bändigung» des Triebes kann als
nachträgliche Anerkennung dieser Triebwünsche aufgefaßt werden. Indem
sie anerkannt werden, können sie in das übrige psychische Geschehen
eingegliedert werden. Freuds Konzept der Therapie wäre demnach zu
begreifen als Reintegration und Resozialisation verselbständigter
Triebe, als eine Form der Nacherziehung, der kulturell notwendigen
Umgestaltung des archaischen Trieblebens, womit gleichzeitig die Liebesfähigkeit
hergestellt werden soll, die sich ja nach Freuds Argumentation einer
Zielhemmung der sinnlichen Strömung verdankt. Das soll heißen, «daß
der Trieb ganz in die Harmonie des Ich aufgenommen, allen
Beeinflussungen durch die anderen Strebungen im Ich zugänglich ist,
nicht mehr seine eigenen Wege zur Befriedigung geht» (1937,
69). Ziel der Therapie
ist es also, die «Neurosen durch die Sicherung der Triebbeherrschung» (1937,
74) zu heilen. Dies
gelingt aber nicht immer in ausreichendem Maße. Freud schreibt an
derselben Stelle weiter: Wenn «bei übergroßer Triebstärke ... dem
gereiften und von der Analyse unterstützten Ich die Aufgabe»
misslingt, dann wir «die Triebbeherrschung … besser, aber sie bleibt
unvollkommen» (1937, 74). Freuds Kritik der Kultur und des mit ihr verbundenen Triebverzichts läßt
eine Reihe von Fragen offen. Warum können die Sexualität und die mit
ihr verbundenen Triebwünsche so schlecht integriert werden? Warum muß
sich der Trieb bis zu einem gewissen Grade verselbständigen? Und warum
muß ein erheblicher Anteil des mit dem Triebleben verbundenen
emotionalen Erlebens verdrängt, abgespalten, dissoziiert werden? Freuds
Sicht der archaischen, animalischen Triebkonstitution des Menschen
liefert natürlich eine Antwort auf diese Fragen. Wenn der Mensch tatsächlich
über eine entsprechende Triebkonstitution verfügt, dann ist
Triebverzicht unter allen gesellschaftlichen Bedingungen eine conditio sine qua non.
Freud gibt jedoch auch Hinweise, wenngleich er sie nicht systematisch
verfolgt, wonach der notwendige Triebverzicht - wenigstens zum Teil -
auch unter anderen als anthropologischen Gesichtspunkten zu sehen ist. Kultur, das ist, wie bereits erwähnt, nach Ansicht Freuds all das, worin
sich das menschliche Leben von seinen animalischen Ausgangsbedingungen
unterscheidet. Die Voraussetzungen der Kultur sind aber - nach Freud -
«Arbeitszwang und Triebverzicht» (1927,
331). Weiterhin sind
die Kultur wie der Aufbau des Ich Ausdruck der Selbsterhaltung. Die
Selbsterhaltung ist aber nichts anderes als Ausdruck des ökonomischen
Prinzips, der Notwendigkeit, durch Arbeit
zu überleben. Das Problem des Triebverzichts muß zwangsläufig
unter ökonomischen Gesichtspunkten diskutiert werden, «weil die
gegenseitigen Beziehungen der Menschen durch das Maß der
Triebbefriedigung, das die vorhandenen Güter ermöglichen, tiefgreifend
beeinflußt werden» (1927, 326). Die Überwindung der Animalität, die Menschwerdung des Menschen, sieht
Marx in der Notwendigkeit zur materiellen Reproduktion, in der Arbeit
also begründet, wobei die gesellschaftliche Organisation der Arbeit
Ausdruck und Mittel des Prozesses der Entwicklung des Menschen zu sich
selbst darstellt. Die Herstellung der zur Triebbefriedigung notwendigen
Güter setzt aber Triebaufschub und die Fähigkeit voraus, Ziele über längere
Zeit hinweg zweckvoll zu verfolgen. Der von Freud angesprochene
Arbeitszwang kann also nicht nur im äußerlichen Sinne verstanden
werden, als Zwang zur Reproduktion, sondern muß auch im psychischen
Sinne interpretiert werden. Die Fähigkeit zur Arbeitsleistung setzt
eine Umstrukturierung ursprünglicher Reaktions- und Erlebnisweisen
voraus. Das ist wohl der Kern des von Freud wiederholt angesprochenen «Realitätszwangs».
Freud ist - und dies wäre wohl auch im Zusammenhang mit den Bedingungen
zu sehen, unter denen heute gearbeitet wird - hinsichtlich der
freiwilligen Bereitschaft des Menschen zur Arbeit skeptisch. Würde der
Zwang zur Arbeit wegfallen, sei die Mehrzahl der Menschen nicht mehr
bereit, die notwendige Arbeit zu leisten (Freud 1927). Allerdings sieht
Freud die Arbeit auch unter positiven Aspekten. Sie sei ein Mittel, den
einzelnen in die Gesellschaft zu integrieren und an die «Realität» zu
binden. Außerdem könnten Triebwünsche befriedigt werden, da die
Arbeitsleistung «ein starkes Ausmaß libidinöser Komponenten, narzißtische,
aggressive und selbst erotische» (1930,
438 Anm.) besitze. Der nach Freud kulturell notwendige Triebverzicht wäre also in
systematischer Form mit dem gesellschaftlich notwendigen Arbeitszwang in
Verbindung zu setzen. Marcuse (1957;
1968) weist daraufhin,
daß die Abrichtung zur Arbeit unter der Bedingung der herrschenden
gesellschaftlichen Realität den von Freud postulierten Triebverzicht
erst vollständig begreifbar mache. Marcuse interpretiert in diesem
Zusammenhang psychische «Normalität» in Abhängigkeit von der
Bereitschaft zur Arbeit und meint, diese Form der Normalität laufe auf
«eine Verzerrung und Verstümmelung des menschlichen Wesens» (Marcuse 1968,
135) hinaus. Obgleich Freud im Arbeitszwang und damit in der Arbeit ein konstitutives
Moment der «Kultur» sieht, ist er nicht bereit, darin eine letzte Begründung
für seine Theorie vom Triebverzicht anzuerkennen. Auch wenn man den
Arbeitszwang berücksichtige, so sei doch bei einer genaueren Analyse
der Kultur «das Schwergewicht vom Materiellen weg aufs Seelische» (1930, 328) zu verlegen. Am
Beginn der menschlichen Gesellschaft, in der Urhorde, sei die Unterdrückung
unter psychischen Gesichtspunkten, unter Aspekten sexueller und
aggressiver Triebwünsche im Zusammenhang mit dem angestrebten Besitz
des Sexualobjektes zu sehen (Freud 1913
b). Das Streben nach materiellen Gütern - sieht man von
elementaren Mitteln zur Reproduktion ab - erscheint bei Freud, wie auch
das Streben nach Macht, Einfluß oder Ruhm, häufig nur als eine Art
Zwischenschritt, hinter dem sich das Streben nach dem Sexualobjekt
verbirgt. Der Verzicht auf die animalische Organisation, auf die unmittelbare
Realisierung von Triebwünschen, steht am Ausgangspunkt der
Kulturentwicklung, der Arbeitszwang ist ein abgeleitetes Moment: «Wir
sind unversehens aus dem Ökonomischen ins Psychologische hinübergeglitten.
Anfangs waren wir versucht, den Kulturbesitz in den vorhandenen Gütern
und den Einrichtungen zu ihrer Verteilung zu suchen. Mit der Erkenntnis,
daß jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht und damit
unvermeidlich eine Opposition bei den von diesen Anforderungen
Betroffenen hervorruft, wurde es klar, daß die Güter selbst, die
Mittel zu ihrer Gewinnung und Anordnungen zu ihrer Verteilung nicht das
Wesentliche oder Alleinige der Kultur sein können» (1926, 330f). Die durch die Kulturentwicklung bei den Betroffenen hervorgerufene
Opposition erscheint also, folgt man Freuds Argumentation, verständlich
und geradezu unumgänglich. Die Neurotiker stellen eine Klasse von
Menschen dar, die aufgrund ihrer Opposition gegen den notwendigen
Triebverzicht asozial reagieren und schließlich der Krankheit verfallen
(Freud 1927). So sehr Freud den kulturell notwendigen Triebverzicht
kritisiert und auch für möglichst weitgehende Verringerung dieses
Verzichts plädiert, ist er von einer vollständigen Aufhebung des
Verzichts nicht überzeugt. Freud plädiert im Gegenteil für eine
Anerkennung der Realität und damit des notwendigen Verzichts. Diese
Anerkennung soll mit Hilfe der «Vernunft» erfolgen. In der letzten Vorlesung der «Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung
in die Psychoanalyse» (1933)
plädiert Freud für eine «Diktatur der Vernunft». Die Vernunft
solle das menschliche Seelenleben beherrschen und den Leidenschaften,
Gefühlen und Triebwünschen den ihnen zuzubilligenden Platz sichern.
Diese Diktatur der Vernunft sei zwar eine Illusion, wie Freud in seiner
Arbeit «Die Zukunft einer Illusion» (1927)
ausführt, sie sei dennoch anzustreben. Der Gedanke einer Diktatur der Vernunft - soll heißen: die Forderung
einer vernünftig begründeten Anerkennung der Realität und einer vernünftigen
Form der Triebsteuerung - findet auch in Freuds Therapiekonzeption Raum.
Beim Kranken wie auch beim Gesunden sind längst nicht alle Verdrängungen
aufzuheben, bzw. können nicht alle der Verdrängung unterliegenden
Triebwünsche realisiert werden. Die therapeutische Vernunft kann zwar
einen Teil der Triebwünsche, die der Verdrängung unterliegenden,
befreien und integrieren, sie muß aber einen anderen Teil, der in zu
enger Beziehung zum «animalischen Urzustand» steht, zurückweisen, da
er kulturfeindlich wäre. Dabei ist der Mechanismus der Verdrängung
durch die Verurteilung zu ersetzen, die auf vernünftiger Einsicht in
die Notwendigkeiten des Lebens beruht. Freuds Plädoyer für eine Herrschaft der Vernunft, das ganz
offensichtlich an der Philosophie der klassischen Aufklärung orientiert
ist, bezieht sich einmal auf die Gesellschaft als Ganzes, die sich vernünftig
organisieren soll. Dieses Plädoyer bezieht sich zum anderen auf das
Individuum und besonders auf den psychisch Kranken, der seinen
Widerstand gegen die Realität aufgeben soll, um zu einer vernünftigen
Anerkennung der Realität zu gelangen. Freud übersieht dabei jedoch, daß
das Konzept der Vernunft selbst nicht losgelöst vom realen
gesellschaftlichen Kontext und damit von der realen Organisation der
Arbeit zu interpretieren ist (Horkheimer, Adorno 1947). Wenn Freud für eine Diktatur der Vernunft plädiert, so plädiert er
letztlich für eine Diktatur jener Vernunft, die für die bürgerliche
Gesellschaft typisch ist und vieles von dem, was Freud in anderen
Zusammenhängen angreift, erst ermöglicht hat. Bevor es überhaupt im
Verlauf eines historischen Prozesses zur Herausbildung dieser Art der
Vernunft hatte kommen können, mußten die Leidenschaften, die Affekte,
die Sinne, die Körperlichkeit und, damit verbunden, die «Triebe», die
Sexualität, als «vernunftlos-unvernünftig» denunziert werden (vgl.
Foucault 1961). Der Trieb und dessen Verankerung im
Unbewußten repräsentieren somit gerade jenen Bereich, der von der
aufklärerischen Vernunft zurückgewiesen und damit zur Verselbständigung
gezwungen worden ist. Nietzsches Kritik am «Sokratismus», an der «falschen»
Form der Vernunft, die sich dem Trieb gegenüberstellt, um diesen zu
beherrschen, weil sie in ihm eine «Gefahr» sieht, liest sich denn auch
wie eine vorweggenommene Kritik an Freuds Plädoyer für eine Diktatur
der Vernunft: «Wenn man nötig hat, aus der Vernunft
einen Tyrannen zu machen, wie
Sokrates es tat, so muß die Gefahr nicht klein sein, daß etwas anderes
den Tyrannen macht. Die Vernünftigkeit wurde damals erraten als Retterin ... Der
Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken auf die Vernünftigkeit
wirft, verrät eine Notlage: man war in Gefahr, man hatte nur eine
Wahl: entweder zugrunde zu
gehn oder - absurd-vernünftig
zu sein ... Vernunft =
Tugend = Glück heißt bloß: man muß es dem Sokrates nachmachen und
gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz herstellen
- das Tageslicht der Vernunft. Man muß klug, klar, hell um jeden Preis
sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, ans Unbewußte führt hinab»
(Nietzsche 1889 - zit. n.
G.W. 1967, 135). Das Unbewußte, das - insbesondere
verbunden mit den sexuellen Trieben - eine regressive Anziehung ausübt
und die Vernunft und die Ich-Organisation des Menschen in Gefahr zu
bringen droht - das sind Gedanken, die sich bei Nietzsche wie bei Freud
wiederfinden, wenngleich beide unterschiedliche Schlußfolgerungen
ziehen. Auch Freud setzt das Unbewußte mit den
Instinkten des Menschen in Verbindung, mit dessen ursprünglicher
animalischer Natur. «Wenn es beim Menschen ererbte psychische
Bildungen, etwas dem Instinkt der Tiere Analoges gibt, so macht das den
Kern des Unbewußten aus» (1915 d, 294). Im Unbewußten erhält sich
also die «Natur», die im Verlauf der Kulturentwicklung scheinbar überwunden
worden ist. Das Infantile stellt somit nur die Nahtstelle zu einer noch
tieferliegenden Vergangenheit des Menschen dar; das Infantile wurzelt im
Animalischen der menschlichen Natur. In einer prägnanten
Zusammenfassung beschreibt Freud dies bei der Diskussion einer
infantilen Neurose wie folgt: «Gäbe es ... einen instinktiven Besitz
auch beim Menschen, so wäre es nicht zu verwundern, wenn er die Vorgänge
des Sexuallebens ganz besonders beträfe, wenngleich er auf sie
keineswegs beschränkt sein kann. Dieses Instinktive wäre der Kern des
Unbewußten, eine primitive Geistestätigkeit, die später durch die zu
erwerbende Menschheitsvernunft entthront und überlagert wird, aber so
oft, vielleicht bei allen, die Kraft behält, höhere seelische Vorgänge
zu sich herabzuziehen.
Die Verdrängung wäre die
Rückkehr zu dieser instinktiven Stufe, und der Mensch würde so mit
seiner Fähigkeit zur Neurose seine große Neuerwerbung bezahlen und
durch die Möglichkeit der Neurose die Existenz der frühen
instinktartigen Vorstufe bezeugen» (1918 a, 156 - Herv.: B. N.). Die hier von Freud angenommene primitive
Geistestätigkeit ist aber gerade das Wesentliche an der Traumbildung.
Der Traum kommt zustande durch eine Rückkehr auf primitive Stufen der
menschlichen Geistestätigkeit. Analoge Überlegungen stellt Freud
hinsichtlich der Symptombildung an. Drückt sich Freud in den oben angeführten
Zitaten hinsichtlich eines womöglich anzunehmenden «Instinkts» beim
Menschen noch relativ vorsichtig aus, so äußert er sich in manchen
Schriften seines Spätwerkes weniger zurückhaltend. In seiner Arbeit «Der
Mann Moses und die monotheistische Religion» (1937-39) betont Freud
wiederholt, wie eng die Beziehung zwischen Mensch und Tier sei. Sie sei
jedenfalls weit enger, als gemeinhin aufgrund kultureller Überzeugung
und Überheblichkeit angenommen werde. Die archaische Erbschaft des
Menschen, seine ursprüngliche Triebkonstitution, gehört in ihrer
untersten Schicht dem Tierreich an und läßt die Distanz, die der
Mensch zwischen sich und das Tier gelegt hat, künstlich erscheinen. «Wir
erfahren, daß unsere Kinder in einer Anzahl von bedeutsamen Relationen
nicht so reagieren, wie es ihrem eigenen Erleben entspricht, sondern
instinktmäßig, den Tieren vergleichbar, wie es nur durch
phylogenetischen Erwerb erklärlich ist» (1937-39, 241). Und über die Beziehungen zwischen
Mensch und Tier schreibt Freud in derselben Arbeit: «Wir verringern die
Kluft, die frühere Zeiten menschlicher Überhebung allzu weit zwischen
Mensch und Tier aufgerissen haben. Wenn die sogenannten Instinkte der
Tiere, die ihnen gestatten, sich von Anfang an in der neuen
Lebenssituation so zu benehmen, als wäre sie eine alte, längst
vertraute, wenn dies Instinktleben der Tiere überhaupt eine Erklärung
zuläßt, so kann es nur die sein, daß sie die Erfahrung ihrer Art in
die neue eigene Existenz mitbringen, also Erinnerungen an das von ihren
Voreltern Erlebte in sich bewahrt haben. Beim Menschentier wäre es im
Grunde auch nicht anders. Den Instinkten der Tiere entspricht seine
eigene archaische Erbschaft, sei sie auch von anderem Umfang und Inhalt»
(1937-39, 207f). Die Entwicklungslinie in umgekehrter
Richtung: reife Psychosexualität des Erwachsenen - infantile Sexualität
findet also, da die Sexualität des Menschen nach Freud zutiefst mit dem
Unbewußten und damit womöglich mit den «Instinkten» verbunden ist,
ihren Abschluß nicht in der je individuellen Kindheit, auch nicht in
der endlichen Historie des Menschen, sondern reicht bis in die Tierheit
des Menschen zurück. Die «Liebe» bleibt damit im tiefsten Sinne «animalisch».
Auch wenn der Trieb in vielfacher Weise
kulturell umgeformt und überlagert, unterdrückt und auf neue Ziele
abgelenkt werden kann, besitzt er nach Auffassung Freuds doch stets eine
biologische Verankerung, als deren Ausgangspunkt die archaische
Triebstruktur des Menschen
anzunehmen ist. Trotz der großen Plastizität des Triebes und trotz der
Schicksale, denen er ausgesetzt sein mag, bleibt dessen biologische
Verankerung - zumindest mit Hilfe der analytischen Methode - erkennbar.
Am Ausgangspunkt der Kulturkritik Freuds wie der psychoanalytischen
Neurosenlehre und der Beiträge Freuds zur Sexualtheorie steht demnach
ein Gegensatz zwischen «Natur» und «Kultur», der überbrückbar,
nicht aber aufhebbar erscheint. Zuletzt bleibt noch ein Problem zu erwähnen,
das mit dem von Freud angenommenen Gegensatz zwischen Natur und Kultur
eng verbunden ist. Die Überwindung der infantilen Sexualität, deren
Umgestaltung zur reifen Psychosexualität des Erwachsenen, kommt durch
eine Bändigung des archaischen Triebes zustande. Verliert jedoch
andererseits die Sexualität des Menschen ihren Rückhalt in der «Animalität»,
wird sie von ihrer Wurzel zu stark abgeschnitten, zu weitgehend «domestiziert»,
so sind, wie Freud hinsichtlich des «Liebeslebens» des Kulturmenschen
ganz allgemein annimmt, psychische Impotenz und Liebesunfähigkeit bzw.
Einschränkung der Fähigkeit zur Liebe die Folgen. Die kulturell
notwendige Bändigung des Triebes kann also u. U. auch zu einer zu
weitreichenden Einschränkung der Emotionalität führen. 7 Schlußbemerkungen Freuds Konzept der Sexualität ist in
negativer Hinsicht relativ leicht einzugrenzen: Es stützt sich nicht
ausschließlich auf jene Faktoren, die mit dem Unterschied der
Geschlechter, der Genitalität und der Fortpflanzung verbunden sind.
Eine positive Bestimmung fällt dagegen schwerer. Freuds Konzept der Sexualität ist
verbunden mit der Annahme einer spezifischen psychischen Energie, der
Libido, und steht in enger Beziehung zum «Unbewußten». In das
Postulat des Unbewußten gehen infantile, archaische, prähistorische
und animalische Bestimmungen ein. Das Es, das die Leidenschaften und
Affekte des Menschen repräsentiert, stellt jenen Bereich der
psychischen Persönlichkeit dar, der die Sexualität des Menschen
grundlegend determiniert. Die Sexualität ist nach Freud an allen
seelischen Regungen beteiligt. Sie trägt zum Aufbau der Persönlichkeit
und zur Entwicklung des Charakters bei. Sie ist in allen sozialen
Beziehungen involviert, auch wenn diese Beziehungen nicht explizit
sexueller Natur sind. Freuds Auffassungen über das
menschliche Sexualleben sind also für die psychoanalytische Theorie von
kaum zu überschätzender Bedeutung. Die wichtigeren psychoanalytischen
Konzepte sind ohne Freuds Bestimmung der Sexualität nicht zu verstehen.
Dabei erscheint die Sexualität im Werk
Freuds relativ wenig durch explizit sexuelles Verhalten definiert zu
werden. Man wird Freuds Sexualitätsbegriff wohl am ehesten gerecht,
wenn man ihn mit den Auffassungen über die Geschlechtlichkeit
vergleicht, die für die vorbürgerlichen Gesellschaften typisch sind.
Danach zeichnet sich die Geschlechtlichkeit des Menschen vor allem durch
eine Beziehung zur Transzendenz aus; sie wurzelt in einem Bereich, der
weniger der Ratio als dem religiösen (therapeutischen) Kult zugänglich
ist. Die der Sexualität von Freud
zugeschriebene Bedeutung verliert sich in der Tiefenpsychologie nach
Freud zusehends. So erklärte sich Freud schon den Abfall C. G. Jungs:
Dieser sei nicht bereit gewesen, die sexuelle Basis des Ödipuskomplexes
und damit die Bedeutung der inzestuösen Objektwahl anzuerkennen. Jung
habe die sexuelle Bedeutung des Familienkomplexes vielmehr nur in übertragener,
symbolischer Form anerkannt (Freud 1914 a). Damit habe Jung die
ethischen und religiösen Leistungen der Menschen vor dem schnöden
Vorwurf bewahren wollen, auch sie verdankten sich den «gemeinsten»
Trieben des Menschen. Freud bemerkt: «In Wirklichkeit hatte man aus der
Symphonie des Weltgeschehens ein paar kulturelle Obertöne herausgehört
und die urgewaltige Triebmelodie wieder einmal überhört» (1914 a,
108). Gemeinsam ist vielen neoanalytischen
Schulen und nach-freudianischen Fraktionen innerhalb der
mainstream-Psychoanalyse die Einschränkung der Bedeutung der Sexualität
- vor allem auch hinsichtlich der Ätiologie der Neurosen - und damit
verbunden eine weitgehende Zurückweisung der Hypothesen Freuds über
das Unbewußte. Aber auch in der Entwicklung der Psychoanalyse selbst
vollzog sich eine zunehmende Abwendung von der Psychologie des Unbewußten
hin zur Psychologie des Ich. Wenn man das Unbewußte und die Sexualität
vom Ich aus betrachtet, gerät man hinsichtlich der aufgestellten
Theorien leicht in die Gefahr, einer - bei der Traumbildung analog
vorhandenen - «sekundären Bearbeitung» zu unterliegen, wie
Freud (1914 a) dies bereits bezüglich der Lehrsätze Adlers kritisiert
hatte. Den wichtigsten Beitrag zur
psychoanalytischen Sexualforschung lieferte neben Freud später dessen
Schüler Wilhelm Reich. Er hat eine eigene Theorie des Orgasmus
aufgestellt, zeigte die Bedeutung der Sexualität für die
Charakterentwicklung im einzelnen und verband schließlich seine
sexualpolitischen Vorstellungen mit der Theorie des historischen
Materialismus. Bevor er die Sexualität mit Hilfe der Orgon-Theorie in
nahezu mystischer Weise mit der den Kosmos durchdringenden Lebensenergie
verband, dachte Reich vor
allem praxisbezogen: Er erörterte das Problem der Sexualität nicht nur
unter psychologischen Gesichtspunkten - wie größtenteils Freud -,
sondern verwies darauf, daß Faktoren wie Wohnungsnot, Abtreibung, ungenügende
soziale Versorgung, mangelnde Empfängnisverhütung, Prostitution usw.
entscheidend für das «sexuelle Elend» seien. Reich gehörte damit
zeitweise einer sexualreformerischen Bewegung an, die sich in den 1920er
Jahren durchgesetzt hatte. Die von Magnus Hirschfeld initiierte «Weltliga
für Sexualreform», die zwischen 1920 und 1930 Kongresse in Berlin,
Kopenhagen, London und Wien abhielt, kann als bedeutendster Ausdruck
dieser Reformbestrebungen angesehen werden. Freud hielt sich von einer entsprechend
praxisbezogenen Diskussion des Problems der Sexualität weitgehend fern,
vernachlässigt man einmal seine Forderung nach Aufklärung der Kinder
oder seine eher allgemeine Kritik der bürgerlichen Sexualmoral, an der
er vor allem die Zwangsabstinenz bei Jugendlichen und Unverheirateten
angriff. Auch die bereits seit dem 19. Jahrhundert bestehende
Frauenrechtsbewegung (vgl. Merfeld 1972), die für die
Gleichberechtigung der Frau auch auf sexuellem Gebiet stritt und - in
ihrem sozialistisch orientierten Flügel - diese Themen mit der ökonomischen
Unterdrückung der Frau in Verbindung brachte, wurde von Freud
weitgehend ignoriert. Freuds Auseinandersetzung mit dem Problem der
Sexualität muß also in erster Linie als eine psychologische verstanden
werden. Hatte Freud die Trennung von sinnlicher
und zärtlicher Strömung, die Unterscheidung von expliziter Sexualität
und «Liebe» als einen charakteristischen Ausdruck der
Kulturentwicklung angeprangert, so ist diese Trennung bei Reik
(1950) geradezu eine anthropologische
Tatsache: «Die Unterschiede zwischen Liebe und Sexualität sind so
entscheidender Art, daß die Behauptung der Psychoanalytiker, beide hätten
denselben Ursprung und denselben Charakter, sehr unwahrscheinlich ist.
Diese Unterschiede sind am reinsten zu erkennen, wenn beide Phänomene
in ihrer reinsten Form einander gegenübergestellt werden. Ein paar
Beispiele: Liebe ist ein emotionaler, starker Wunsch, eine Schöpfung
der persönlichen Phantasie. In der Sexualität besteht der Trieb, sich
einer organischen Spannung zu entledigen; in der Liebe besteht das Bedürfnis,
sich von seiner eigenen Unzulänglichkeit zu befreien. Beim ersten sucht
der Mensch nach körperlicher Befriedigung, beim zweiten strebt er nach
Glück. Beim ersten handelt es sich um die Wahl eines Körpers, beim
zweiten um die Wahl einer Persönlichkeit» (1950, 24). Freud hatte sich in seinem Werk nun
gerade zunehmend darum bemüht, die scheinbare Nichtidentität von
Sexualität und Liebe mit Hilfe komplexer theoretischer Modelle zu erklären
und sie - interpretiert man Freud extensiv - als Ausdruck einer
repressiven Sexualmoral und der ihr zugrunde liegenden kulturellen
Realität zu erklären. Im erwähnten Zitat Reiks erscheint Sexualität
hingegen unter einem extrem somatischen Gesichtspunkt, während
gleichzeitig - und wahrscheinlich notwendig, setzt man eine entsprechend
einseitige somatische Orientierung voraus - die Liebe stark romantisiert
und vergeistigt wird. Für Reiks Auffassung der Sexualität trifft in etwa ein «psychohydraulisches
Modell» zu, nach dem Triebreize abzuführen sind, andernfalls sie zu
Spannungen führen. Dieses Modell war für Freuds frühe Theorien und in
der Anfangsphase der Entwicklung psychoanalytischer Konzepte ebenfalls
charakteristisch. Es kann aber als eine der großen Leistungen Freuds
aufgefaßt werden, daß er versuchte, dieses Modell durch komplexere
Denkvorstellungen zu ersetzen und die explizite Sexualität wieder mit
dem übrigen affektiv-emotionalen Geschehen zu verbinden. Im Begriff der
Psychosexualität versuchte Freud, die Trennung von Sexualität und
Liebe aufzuheben. Man kann nun nicht behaupten, daß sich diese Auffassung der Sexualität
in der sexualwissenschaftlichen Literatur durchgesetzt hätte.
Einerseits sind die Auffassungen Freuds - und das mag mit dem Gegenstand
selbst verbunden sein - zu wenig «wissenschaftlich», d. h. sie
entziehen sich zum Teil einer streng methodischen Überprüfung.
Andererseits spricht die «Realität», sprich: die gesellschaftliche
Entwicklung, selbst gegen eine Reihe der von Freud vertretenen
Auffassungen. Im Zuge der sexuellen «Befreiung», die etwa Ende des 19.
Jahrhunderts begann, in Deutschland durch den Faschismus und dessen
Auswirkungen vorübergehend allerdings unterbrochen worden ist, trat
eine weitgehende Verselbständigung der Sexualität ein, die dem
Sexualitätskonzept Reiks weit mehr entspricht als dem Freuds. Nach
Marcuse (1957) zeichnen sich in den westlichen Industriegesellschaften
schließlich folgende allgemeine Tendenzen ab (vgl. Schelsky 1955):
Wenn die Sexualität in dieser Weise gleichzeitig isoliert und aus dem übrigen emotionalen Kontext ausgegliedert werden kann, dann müssen jene Merkmale verlorengehen, die Freud veranlaßten, in ihr einen Gegensatz zur Kultur, d. h. zur gesellschaftlichen Realität zu sehen, sie als eine gefahrdrohende, die Grenzen des Individuums sprengende Macht zu begreifen. Die «befreite» Sexualität verliert damit die wesentlichen Bestimmungen, die der Sexualität nach Freud zukommen. Sie gewinnt damit aber auch nicht jene Merkmale, die Freud im Begriff des Eros zusammengefasst hat. Eine bisher noch kaum wieder erreichte Radikalität der Kritik an dieser Art des repressiven «Fortschritts» zeichnet sich im Werk Freuds durchgängig ab. Literaturverzeichnis Abraham,
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Beitrag ist erstmals erschienen in: Die
vorstehende Fassung folgt der überarbeiteten
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