Bernd Nitzschke

Männerhelden - die einsamen Rächer

Über das Verhängnis, sein eigener Vater werden zu wollen

und dabei zu scheitern

 

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Psychologie der Rache

Wenn ich den Versuch, das Psychogramm des männlichen Helden zu erstellen, mit Skizzen aus der Lebensgeschichte einer jungen Frau beginne, mag dies paradox erscheinen. Es geht dabei anhand eines Beispiels darum, Mechanismen der versuchten Bewältigung eines Traumas aufzuzeigen, die geschlechtsunabhängig sind. Die Weiterverarbeitung traumatischen Erlebens kann den Zwang ergeben, als Held weiter (über-)leben zu müssen. Das ist das Schicksal vieler Männern – das kann aber auch zum Schicksal einer Frau werden, wie das folgende Beispiel zeigt.

Nachdem der Vater plötzlich und unerwartet einem Herztod erlegen war, begann die - damals zehnjährige - Tochter ein Leben zu führen, das vom geheimen Wunsch bestimmt blieb, sich als Heldin zu erweisen und eines Tages für das erlittene Unrecht, als das der Tod des Vaters erlebt worden war, Wiedergutmachung zu erhalten. Ein solcher Wiedergutmachungswunsch nötigt in seiner passiven Gestalt dazu, auf einen Helden als Erlöser zu warten; in seiner aktiven Gestalt führt dieser Wunsch zum Versuch der Selbsterlösung, das heißt dazu, sich selbst als Held zu phantasieren. Beide Wünsche sind Reparationsversuche: Aufgehoben werden soll die Kränkung, die infolge des Traumas erlebt worden ist. Das ist nun aber auch das Ziel der Rache. Der Rächer will eine passiv erlittene Verletzung aktiv gegen jene wenden, die ihm als Verursacher der Tat oder als deren heimliche Verbündete und Unterstützer gelten. So kommt es zur Wiederholung der Tat, bei der sich das Opfer in Identifikation mit dem Täter zum Täter wandelt oder eben - in seiner Phantasie - in einen aktiven Helden verwandeln will.

Anstatt sich nach dem Tod des geliebten Vaters der Trauer hinzugeben, zwang sich die Tochter, keinen Schmerz zu empfinden. »Ein Indianer kennt keinen Schmerz.« Dieser Spruch wurde ihr zum Trost in einer trostlosen Situation. Die Tochter mußte nun ohne Vater auskommen und die zurückgebliebene Mutter trösten, anstatt von ihr Hilfe und Trost zu erhalten. Die Abwehr schmerzlicher Gefühle, zu denen Angst, Schuld, Scham und Wut zählten, war so erfolgreich, daß die junge Frau schließlich überhaupt keine Gefühle mehr zu haben schien. Daraus resultierten Zustände der Depersonalisation und Derealisation, Entfremdungsgefühle, unter denen sie litt, bis sie sich endlich entschloß, doch therapeutische Hilfe zu suchen.

Wenn ich sagte, die jungen Frau habe sich erfolgreich gegen jedes Erleben immunisiert, das mit dem Tod des Vaters zusammenhing, so ist das nicht ganz richtig. Sie erlebte wiederkehrende, ihr jedoch unerklärliche, weil mit dem Tod des Vaters nicht mehr in einen Zusammenhang zu bringende Angstattacken und »Heulkrämpfe«, derentwegen sie sich genauso schämte, wie sie sich wegen ihrer Vaterlosigkeit schämte, die sie in ihren Augen Gleichaltrigen gegenüber unterlegen gemacht hatte.

Den Tod des Vaters hatte sie als narzißtische Kränkung erlebt. Doch jenseits ihrer im Alltag zur Schau gestellten Empfindungslosigkeit konnte sie in einer abgeschirmten Phantasiewelt auch euphorische Glückszustände erleben. In diesen die Realität korrigierenden Phantasien kehrte der Vater zurück – als sei er nie „wirklich“ gestorben. Und dann war alles wieder so schön, wie es vor dem traumatischen Ereignis gewesen war. Ja, es gelang sogar, die Realität noch weitergehend zu korrigieren. So träumte die junge Frau von einer idealen Beziehung zu einem idealen Vater, den es so früher in ihrem Leben nie gegeben hatte. Denn der reale Vater war ein jähzorniger Mann, der seine Kinder verprügelt hatte und vor dem die Kinder Angst gehabt hatten. Auch die Tochter war öfter wütend auf den Vater gewesen und hatte sich als Kind bisweilen gewünscht, er möge verschwinden. Die Erfüllung dieses kindlichen Wunsches war durch den realen Tod des Vaters - so schien es nachträglich - eingetreten. Peinigende Schuldgefühle der Tochter waren eine Folge dieser scheinbare Wunscherfüllung, die nun mit Hilfe magischen Wunschdenkens wieder rückgängig gemacht werden sollten.

Auf den Tod des Vaters hatte die Tochter mit einer Spaltung reagiert: Mit einem Teil ihres Bewußtseins erkannte sie die Realität des Todes des Vaters und die damit verbundene (oder ihr dadurch bewußt gewordene) Einsamkeit an; und gleichzeitig verleugnete sie mit Hilfe von Phantasien die Realität dieses Verlustes und ihre Verlassenheit. Mit Hilfe sadomasochistischer Phantasien, in denen sie von einem Mann ohne Gesicht geschlagen wurde, bestrafte sie sich selbst und besänftigte so ihre Schuldgefühle. Diese Schlagephantasien erregten sie auch sexuell. Soweit sie solche Masturbationsphantasien in der Beziehung zu einem Mann auslebte, erlebte sie sich als »pervers« - nämlich als masochistisches Opfer eines sadistischen Täters. Das aber wollte sie nicht. Also mied sie intime Beziehung, durch die sie - ihren Ängsten (und Wünschen) entsprechend - zur Realisierung sadomasochistischer Phantasien gezwungen werden konnte.

Die junge Frau hatte sich nach dem Tod des Vaters in die Einsamkeit, in ein selbstkonstruiertes psychisches Kloster zurückgezogen, in dem sie nun wie eine Nonne lebte, abwechselnd von euphorischen und sadomasochistischen Phantasien heimgesucht wurde, während sie in der Außenwelt an eine Mutter gebunden blieb, von der sie sich emotional ausgebeutet fühlte, von der sie sich jedoch nicht lösen konnte. Sie wartete auf die Ankunft eines Erlösers, eines phantasierten Geliebten, der die Züge des idealisierten Vaters trug, und von dem sie hoffte, er werde sie eines Tages aus der Bindung an die Mutter befreien.

Wie im Hitchcock-Film »Psycho«, in dem der Held den Tod der Mutter verleugnet, deren Leiche er im Keller konserviert, während er die Wut auf die Mutter, die ihn daran hindert, sich trauernd von der Mutter zu lösen, stellvertretend an anderen Frauen abreagiert, so konservierte die junge Frau im Keller ihres Unbewußten eine Leiche: die Leiche ihres Vaters, die sie mit Hilfe von Phantasien lebensecht schminkte. Gleichzeitig begann sie, sich an Männern, die sich ihr zu nähern versuchten, dem phantasierten Idealbild des Vaters, auf dessen Wiederkehr sie wartete, jedoch nicht glichen, durch Verachtung zu rächen. Schließlich richtete sie ihre Wut auch gegen sich selbst. Sie warf sich vor, am Tod des Vaters „schuld“ zu sein. Denn der Vater hätte sie nie verlassen, wenn sie immer gut zu ihm gewesen wäre. Da sie ihn jedoch nicht nur geliebt, sondern auch gehaßt hatte, litt sie nun unter Schuldgefühlen. Vielleicht ist mit jedem Schmerz, der dem - sei es durch Tod, sei es durch Trennung verursachten - Verlust eines geliebten Menschen folgt, die unbewußte Illusion verbunden, der Geliebte hätte uns nicht verlassen, wären wir nur immer gut genug zu ihm gewesen? In manchen Augenblicken steigerte sich die Wut der jungen Frau so sehr, daß sie daran dachte, sich umzubringen. Dann wieder fand ihre Wut Ausdruck in Phantasien, in denen sie die ganze Welt vernichten konnte, in der sie sich so unwohl fühlte, während es allen anderen scheinbar soviel besser ging als ihr. In solchen Phantasien war sie der Held, der Übermensch, der es mit allen aufnehmen konnte. Solche Reaktionen treten bei pathologischer Trauer auf, in deren Verlauf das verlorene Objekt idealisiert und in dieser Gestalt konserviert wird, wobei das ideale Selbst mit dem phantasierten idealen Objekt verschmilzt, während das nicht-ideale Selbst, der nicht-ideale Andere und schließlich die ganze nicht-ideale Außenwelt jeden Wert verlieren.

In den »Studien über Hysterie« (1895) definieren Breuer und Freud ein Erlebnis, das den Betroffenen in einem Zustand der Hilflosigkeit begegnet oder in einen solchen Zustand versetzt, als Trauma. Infolge eines Schocks kann es dabei zu einem lähmenden, tranceartigen Bewusstseinszustand kommen. Die mit dem Erlebnis verbundenen Affekte bleiben abgespaltenen. Schließlich werden Phantasien entwickelt, mit deren Hilfe das Erlebte korrigiert werden soll. Damit ist eine Tendenz zur Wiederholung fixiert: das Erlebnis wird innerlich, in Träumen, oder äußerlich, in Form von Handlungen, reinszeniert, um überwunden oder gar ungeschehen gemacht zu werden. Solchen Reinszenierungen liegt der Wunsch zugrunde, das Erlebnis der Hilflosigkeit, Verletztheit und Demütigung in ein Erleben des Triumphes zu verwandeln. Der traumatisch Geschädigte kehrt innerlich so zum kränkenden Erlebnis zurück, durch das der Einriß im Ich, die Spaltung, initiiert wurde, um den Riß, die Spaltung zu überwinden. Daß auf diese Weise nur phantasiertes Heil, aber keine Heilung zu erreichen ist – gegen diese Einsicht sperrt sich dem Wunsch-Denken. Die Einsicht, daß die wunscherfüllenden Illusionen der Wiederherstellung (Wiedergutmachung) nicht zur Befreiung vom traumatisch Erlebten führen können, wäre deshalb ein Ziel therapeutischer Behandlung.

Heilung bestünde demnach darin, den Wunsch nach Wiederherstellung zugunsten einer Versöhnung mit dem verletzten Selbst, bzw. mit demjenigen aufzugeben, der als Urheber der Verletzung angesehen wird. Darüber hinaus hätte Psychotherapie Bewältigungsmöglichkeiten zu eröffnen, mit deren Hilfe künftige Beeinträchtigungen, Verletzungen und Verlusterlebnisse anders als nur mit hilfloser Wut und fixierten Wünschen nach Rache und Wiedergutmachung zu begegnen wäre. Solche Wünschen, die der pathologischen Trauer zugrunde liegen, behindern die Therapie, deren Ziel es ist, Wut zu besänftigen und nötigen Trost zu vermitteln. Die Verletzung, das Leid sind aber nicht ungeschehen zu machen. Die Selbstachtung hingegen kann und soll unter Anerkennung des Leidens wiederhergestellt werden.

Diesem Ziel widerspricht nun allerdings der »triebhaft« erlebte Wunsch, das verletzende Ereignis aus der Welt zu schaffen oder - falls dies nicht gelingt - das Leid mit der Welt zu vernichten. Die Therapie, durch die eine Akzeptanz des schmerzhaften Ereignisses erreicht werden soll, steht damit im Widerspruch zu den wunscherfüllenden Phantasien,  mit deren Hilfe das schmerzliche Ereignis geleugnet wird oder – wenigstens – nachträglich ungeschehen gemacht werden soll. Die therapeutische Zielsetzung provoziert also Widerstand, der sich gegen die Anerkennung der unerwünschten (verletzenden) Realität richtet und von eben jenen Wunschphantasien unterhalten wird, die zu überwinden wären. Diese Phantasien werden in die therapeutische Beziehung übertragen. So finden die Wünsche nach Selbstidealisierung und nach einem idealen Objekt ihren Platz in der Übertragungsbeziehung – ein Platz, der dann allerdings schrittweise einzugrenzen wäre. Denn Therapie bedeutet nachholende Trauerarbeit, also jenes Stück Arbeit, das infolge des Traumas unterblieben ist. So gesehen wäre Therapie das Gegenstück zur Rache. Gemeinsam ist beiden - der Rache wie der Therapie (als Trauerarbeit) - die Wiederholung; der Ausgang aber ist verschieden: im einen Fall wird die Verletzung desintegriert und zwanghaft wiederholend ausagiert; im anderen Fall wird sie ins Bewusstsein zurückgeholt und affektiv integriert. Die infolge des Traumas eingetretene pathologische Entwicklung einer innerseelischen Spaltung konserviert die vermeintliche vortraumatische Unversehrtheit - und zwingt zur Wiederherstellung dieses Zustands mit Hilfe von Helden-Taten, die als rastlose Wiederholungen der Tat zu verstehen sind. Therapie verlangt hingegen Verzicht - Verzicht auf den Wunsch nach Unversehrtheit und Wiederholung der Tat.

»Eine Schädigung im Kampfe abzuwehren und dabei den Gegner zu schädigen ist der adäquate, präformierte psychische Reflex. Ist er nicht oder ungenügend vollzogen worden, so wird er durch die Erinnerung immer wieder ausgelöst und es entsteht der >Rachetrieb< als irrationaler Willensimpuls wie alle >Triebe<«, schreibt Breuer in dem von ihm verfaßten theoretischen Teil der »Studien über Hysterie« (1895, 223, Anm. 1). Der Rächer versucht später also gerade jene Reaktionen nachzuholen, die im Augenblick der Schädigung adäquat gewesen wären, jedoch unterblieben sind, weil Schreck und Ohnmacht, Hilflosigkeit und Lähmung keine adäquate Reaktion erlaubten. In den »Studien über Hysterie« heißt es dazu: »Die Reaktion des Geschädigten auf das Trauma hat eigentlich nur dann eine völlig >kathartische< Wirkung, wenn sie eine adäquate Reaktion ist; wie die Rache.« Schließlich werde »eine Beleidigung, die vergolten ist, (...) anders erinnert als eine, die hingenommen werden mußte« (Breuer, Freud 1895, 32). Deshalb ist das Opfer nachtragend. Es vergilt Gleiches mit Gleichem, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Tod um Tod, weil es glaubt, daß es sich so von der Wunde befreien kann, die ihm geschlagen worden ist und die in ihm weiter blutet. Der Versuch, auf diese Weise Gerechtigkeit herzustellen, ist jedem Menschen verständlich. Weniger verständlich ist die Einsicht, daß auf diese Weise altes Unrecht durch neues Unrecht ersetzt und so fortgesetzt wird. Rache wäre also ein Versuch, die in der traumatischen Situation unterbliebene Gegenwehr nachzuholen. Sie wäre eine - zeitlich verschobene - »adäquate Reaktion«, die jedoch inadäquat ist, weil die vortraumatischen Realität nachträglich nicht wieder herzustellen ist. Der Verzicht auf Rache ist deshalb die unabdingbare Voraussetzung jeder Versöhnung. Darin zeigt sich die Kultur, die dem urtümlichen Gesetz der Rache, den archaischen Gerechtigkeitsvorstellungen, widerspricht.

Auch wenn in den »Studien über Hysterie« noch nicht ausdrücklich von narzißtischer Kränkung und narzißtischer Wut die Rede ist, so sprechen Breuer und Freud im Zusammenhang mit dem Trauma doch immer wieder von »Beleidigung«, also von einer Verletzung des Selbstwertgefühls. Das konkrete Trauma mag unterschiedlich sein - es mag sich als Mißbrauch, Vergewaltigung oder Folter, als Verlassenwerden durch Trennung oder Tod darstellen oder in einer subtil organisierten emotionalen Interaktion verbergen, durch die das Opfer gedemütigt und erniedrigt, manipuliert und ausgebeutet wird; das Gemeinsame bleibt die Beschämung. Die Zerstörung der Selbstachtung des Opfers ist der Grund der Rache. Sie ist der Ausdruck verletzten Stolzes, ein Mittel, die Schmach zu tilgen, die Scham zu überwinden und die Selbstachtung zurückzugewinnen.

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Psychologie des Helden

Kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück: zum Psychogramm des Helden. Das vornehmste Ziel des Helden ist die Heilung. Der Held will dieses Ziel gegen die Einsicht in die Unmöglichkeit einer Wiederherstellung der vortraumatischen Unverletztheit erreichen. Also besteht er auf der Verwirklichung einer wunscherfüllenden Phantasie. Das heißt: der Held will keine Heilung - er will das Heil. Er will keine Versöhnung - er will die Erlösung. Also darf er die Endlichkeit und die Verletzlichkeit des Menschen nicht akzeptieren. Er darf kein Mensch bleiben, er muß er zum Übermenschen werden. So wird der verletzte und leidende Mensch zum Illusionisten, dem es gelingt, die Realität des Leidens in der Phantasie zu überwinden. So wird der Mensch zum illusionären Schöpfer seiner selbst als unverletzter Mensch. So wird der Held zu seinem eigenen Vater. So wird er zum Gott. Denn nur Götter können sich selbst erschaffen.

Otto Rank (1909) hat die Gemeinsamkeiten der Mythen von der Geburt des Helden untersucht und dabei solch unterschiedliche Gestalten wie Moses, Ödipus, Perseus, Herakles, Gilgamesch, Romulus, Lohengrin und schließlich Jesus berücksichtigt. Rank meint, die Analyse kollektiver Heldenphantasien lasse folgendes Grundmuster erkennen: Der spätere Held wird als Kind vornehmer Eltern geboren. Damit ist das Thema der grandiosen Ausgangssituation, die mit der Geburt in Frage gestellt wird, bezeichnet. Der Mythos von der Geburt des Helden setzt also an einer vortraumatischen Ausgangssituation an - doch dann folgt das Kontrastprogramm, dessen Inhalt die Erniedrigung des Kindes beinhaltet. Das Kind wird durch Verfolger bedroht, die behaupten, seine Geburt bedeute Unheil. So lautet die Vorhersage etwa, der Sohn werde versuchen, sich an die Stelle des Vaters, des Herrschers, zu setzen. Der »Vater« greift daraufhin - wie etwa der König Herodes in der biblischen Geschichte – zu Gegenmaßnahmen, die aufgrund der unheilvollen Prophezeiung als Notwehr erscheinen.

Im typischen Fall schildert das Heldenepos den Entwicklungsprozeß des Kindes, das einer tödlichen Bedrohung entkommen ist. Später wird das gerettete Kind die psychischen Folgen der traumatischen Erfahrung der Verfolgung ausagieren. Es wird versuchen, das Trauma rückgängig zu machen. In dem Maße, in dem ihm dies zu gelingen scheint, wird aus dem hilflosen Kind ein Held, der alle Gefahrensituationen meistert und für andere Menschen, die an einem ähnlich ungerechten Schicksal leiden, zum Vorbild, ja zum Erlöser wird. Die Bedrohung ist eines Hilflosen, der auf Hilfe (Rettung) angewiesen ist - das ist das Ursprungstrauma, aus dem sich die Heldenbiographie entwickelt. Der Wunsch nach Wiedergutmachung für die erlittene Demütigung - das ist der Sinn des Dramas. Der Mythos zeigt jedoch auch, daß alle Anstrengungen vergeblich sind. Denn jeder Held besitzt eine »Achillesferse«. Dieses Zeichen der schwärenden Wunde symbolisiert die anhaltende Wirkung des Traumas, das trotz heldenhafter Anstrengungen nicht ungeschehen zu machen ist. Und so mündet der Mythos vom Helden in eine Tragödie ein, die über die Vergeblichkeit der Rache belehrt.

Der Heldenmythos von Jesus weicht von diesem gängigen Muster des Werdegangs des Helden als Rächer allerdings in einem entscheidenden Punkt ab: Jesus predigt Verzicht auf Rache. Damit ist er ein Anti-Held, ein Sohn, der die Konkurrenz mit dem Vater zurückweist und die Versöhnung mit dem Vater anstrebt. Dieser Sohn begnügt sich mit einem Platz an der Seite des Vaters, anstatt - wie Ödipus - den Vater zu erschlagen und sich an dessen Stelle zu setzen. Die symbolische Wunde des vom Vater verlassenen und vom Herrscher bedrohten Gottessohnes aber blutet noch am Kreuz. Und noch mit seinen letzten Worten ruft er nach dem Vater: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« In diesem Sonderfall besteht der Sieg des Helden in der Selbstüberwindung, in der Akzeptanz der Niederlage, in der Einsicht, daß menschliches Leiden durch Rache nicht wieder gutzumachen ist, in der Bereitschaft, den Wunsch nach Rache (Auge um Auge, Zahn um Zahn) aufzugeben und durch Nichtvergeltung der Tat zu ersetzen (schlägt man dich auf die eine Wange, halte auch die andere hin). Demut als Tugend: die narzißtische Verletzung soll nicht gerächt werden. Das ist die Umwertung aller (heldenhaften) Werte: Seligsprechung der Schwäche anstelle der Glorifizierung heldenhafter Stärke. Damit gibt es auch im christlichen Mythos ein Versprechen der Erlösung, das jenseits des Todes nach einem Leben als Leiden eingelöst werden soll.

In Ranks (1909) Arbeit ist eine längere Passage (S. 64-68) eingefügt, die von Freud stammt. >Vater< Freud und >Sohn< Rank arbeiteten also an einem gemeinsamen Werk, bevor es später zum Bruch, zur Trennung von >Vater< und >Sohn< kam, woraufhin Freud seinen Beitrag zu Ranks Schrift unter dem Titel »Der Familienroman der Neurotiker« eigenständig publizierte (Freud 1909). In der ursprünglich dem Buch Ranks hinzugefügten Passage analysiert Freud den kollektiven Tagtraum vom Helden individualpsychologisch. Freud meint, der Wunsch, so »groß zu werden wie Vater und Mutter« (S. 64), sei bei allen Kindern vorhanden. Dieser Wunsch werde im Falle neurotischer Entwicklungshemmung jedoch nicht erfüllt: das Kind könne (psychisch) nicht erwachsen werden. Anstatt innere Autonomie zu erreichen, bleibe es an die elterliche Autorität gebunden (fixiert), gegen die es zugleich rebelliert (um sich doch noch zu lösen). Neurotiker können die elterliche Autorität deshalb weder akzeptieren noch überwinden. Im Konflikt zwischen Abhängigkeits- und Selbständigkeitswünschen gefangen, führen sie als autoritätsfixierte >antiautoritäre< Rebellen einen lebenslangen Kampf gegen sich selbst. Sie übertragen ihre Ambivalenzkonflikte in die Beziehung zu Ersatzeltern, ohne ihre inneren Konflikte zu verstehen. Sie suchen nach Autoritäten, die sie bewundern, und finden in neuen Führergestalten, von denen sie sich erlösen lassen wollen, die alten Eltern wieder, von denen sie sich vergebens zu lösen versuchen.

Kinder sind während langer Zeit von ihren Eltern abhängig. Sie erleben sich in der Beziehung zu ihren Eltern häufig hilfsbedürftig und oft hilflos. In jeder Eltern-Kind-Beziehung kommt es deshalb zu Kränkungen und Enttäuschungen. Jedes Kind wird daher versuchen, sich mit Hilfe von Phantasien über Ohnmacht und Hilflosigkeit und über die Verletzung der eigenen Vollkommenheit hinwegzutrösten. Es wird in der Phantasie ideale – das heißt: das Kind niemals enttäuschende - Eltern finden. Die schrittweise Einschränkung dieser und anderer Allmachtsphantasien des Kindes und der Erwerb von Fähigkeiten, durch die das Kind von der Hilfe und Unterstützung der Eltern tatsächlich unabhängig wird, sind allgemeine Erziehungsziele. In tieferen Schichten jedoch überleben die idealen Elternbilder und das grandiose Selbstbild des Kindes, das (nach seiner Rettung) keine fremde Hilfe (mehr) braucht. Der kollektive Heldenmythos stellt diese idealen Eltern oft als Pflegeeltern dar, die das das Kind vor Verfolgern (den leiblichen Eltern) schützen und es an deren Stelle aufziehen. Manchmal übernehmen diese Aufgabe auch Tiere, die das von den Eltern in der Wildnis ausgesetzte Kind versorgen.

In der Regel kann das Kind die Kränkungen, die es infolge seiner Abhängigkeit von den Eltern erlebt, bewältigen und die Enttäuschungen, die infolge der Unzulänglichkeit seiner Eltern eintreten, für die Entwicklung zur Selbständigkeit nutzen. Dabei wird das Kind realistischere Selbst- und Elternbilder entwickeln. Es wird Schritt für Schritt gewahr, daß weder das Kind noch die Eltern vollkommen sind, und mit dieser Realität leben lernen. Im Kontext pathologischer Eltern-Kind-Beziehungen (in denen das Kind zum Beispiel zulange festgehalten = verwöhnt oder zu früh weggestoßen = entwöhnt wird) kommt es hingegen zur Fixierung an ideale Elternbilder und an ein ideales Selbst-Bild, in dem sich das Kind als Held darstellt, der die Kraft besitzt, Niederlagen in Siege zu verwandeln. So werden Hilflosigkeit, Ohnmacht und Minderwertigkeitsgefühle, Verletzungen und Enttäuschungen, Traumatisierungen und Fixierungen in phantastischer Weise ins Gegenteil verkehrt und überwunden.

Freud (1909, S. 66) meint, das »Motiv der Rache und Vergeltung« sei im kollektiven wie im individuellen Heldenmythos (dem Familienroman des Neurotikers) nachzuweisen. Bereits die Ersetzung der realen Eltern durch Phantasie-Eltern ließe sich demnach als Racheakt deuten: Das Kind beseitigt die enttäuschenden Eltern und ersetzt sie durch Eltern, von denen es niemals enttäuscht werden kann. Wenn man »die häufigste dieser Romanphantasien, den Ersatz beider Eltern oder nur des Vaters durch großartige Personen, im Detail durchgeht«, entdeckt man allerdings auch, »daß diese neuen (...) Eltern durchwegs mit den Zügen ausgestattet sind, die von realen Erinnerungen an die wirklichen (...) Eltern herrühren, so daß das Kind den Vater eigentlich nicht beseitigt, sondern erhöht. Ja, das ganze Bestreben, den wirklichen Vater durch einen vornehmeren zu ersetzen, ist nur der Ausdruck der Sehnsucht des Kindes nach der verlorenen glücklichen Zeit, in der ihm sein Vater als der vornehmste und stärkste Mann, seine Mutter als die liebste und schönste Frau erschienen ...« (S. 67).

Die symbolische Rache, die das Kind an den realen Eltern nimmt, wäre demnach als Versuch zu deuten, die ideale Welt, in der das Kind bis zur Enttäuschung zu leben glaubte, in der Phantasie festzuhalten bzw. wiederherzustellen. Diese (scheinbar) ideale Welt wird im Verlauf der Entwicklung des Kindes sukzessive entzaubert. Dafür sorgen die unausweichlichen Enttäuschungen, die jedes Kind erlebt. Diese Desillusionierung (bzw. deren Bewältigung) ist eine wichtige Voraussetzung des sich entwickelnden Wirklichkeitssinns des Kindes. Der Verabschiedung kindlicher Heldenphantasien entspricht die Zunahme realistischer Autonomie, die mit der inneren Ablösung des Kindes von den - ideal phantasierten – Eltern einhergeht. So wird der Zwang, sich selbst oder andere als Helden phantasieren zu müssen, überwunden. Unter dieser Voraussetzung können dann Beziehungen zu Menschen eingegangen werden, die frei sind vom Wunsch Erlöser zu finden oder selbst als Held aufzutreten.

»Erinnern wir uns nur, daß ja der Mythus durchgängig das Bestreben verrät, die Eltern loszuwerden, und daß derselbe Wunsch in den Phantasien des kindlichen Individuums zu einer Zeit erwacht, wo es seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu erlangen sucht. Das Ich des Kindes benimmt sich dabei wie der Held der Sage (...)« (S. 68), der den väterlichen Rivalen, von dem er sich bedroht fühlt, beseitigen will. Das Schicksal dieses Helden hat Freud seiner Entwicklungs- und Neurosentheorie zugrunde gelegt. Die Geschichte des Ödipus ist jedoch mehrschichtig: Sie zeigt nämlich, daß der Sohn die Befreiung vom Vater nicht nur deshalb anstrebt, weil er sich vom Vater bedroht fühlt, sondern auch deshalb, weil er die Ablösung von der Mutter nicht leisten konnte. Ödipus, der vermeintliche Held, liebt die Mutter wie ein Kind, das die Mutter noch immer ganz für sich allein haben will; ein Kind, das sich von der Mutter nicht lösen konnte, weil es der Mutter in grauer Vorzeit traumatisch entrissen worden ist. Die »Achillesferse« des hinkenden Ödipus ist die frühe Mutterentbehrung, die durch den Tod des Vaters endgültig zur unaufgelösten Mutterbindung wird. Ödipus überschreitet zwei Grenzen, deren Beachtung das Fundament jeder Kultur sichert: Er mißachtet das Verbot des Mordes (des Vaters) und das Verbot des Inzests (mit der Mutter). Ödipus durchbricht die Generationenschranke und wird so - im übertragenen Sinn – zu seinem eigenen Vater. Diese scheinbar progressive Tat wird als Erfüllung eines regressiven Wunsches erkennbar, der sich im Augenblick der Erfüllung als tragischer Irrtum erweist. Denn der Sohn verliert mit dem Vater auch die Mutter als eine mit dem Vater verbundene und deshalb vom Sohn abgegrenzte Person. Damit verliert sich der Sohn selbst, der nun keine von Vater und Mutter abgegrenzte Identität mehr besitzt. So scheitert der Held am Erfolg.

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Psychologie des Helden-Films

Im dritten Teil meines Versuchs, das Psychogramm des Helden zu erhellen, gehe ich auf filmische Versionen des Heldenepos ein. Ich konzentriere mich dabei in erster Linie auf Heldengeschichten, die in den als »Western« bezeichneten Filmen erzählt werden. Bei dieser Betrachtung abstrahiere ich von allen Variationen, die in diesen Filmen vorkommen, um das typische Grundmuster aufzuzeigen, das im »Western« bzw. im Italo-»Western« reproduziert wird.

Die Posen heldenhafter Männlichkeit, die im klassischen Hollywood-»Western« zu bewundern sind, unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von jenen, die im Italo-»Western« der 1960er und 1970er Jahre dargestellt wurden. Anhand der Analyse dieser Unterschiede werde ich den Wandel des Heldenbildes vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen diskutieren, wodurch den individualpsychologischen und familiären Motiven des Helden-Daseins eine weitere Dimension hinzugefügt wird. Helden leben schließlich nicht nur in unserer Phantasie. Wir begegnen ihnen auch im öffentlichen Raum, in dem sie vorbildlich Unverletztheit und Unverwundbarkeit unter Beweis stellen - etwa als infantile Formel-1-Rennfahrer, die sich bis zum Abwinken im Kreise drehen.

Im klassischen Hollywood-»Western« sind das Gute und das Böse klar geschieden. Diese Grenze wird im Italo-»Western« aufgehoben. Zwar werden im Italo-»Western« auch bevorzugt Rachegeschichten erzählt, doch der Italo-»Western«held beansprucht - anders als das Hollywoodvorbild, das er karikiert - nicht mehr, das Gute im Namen des Gesetzes gegen das Böse zu verteidigen. Der Italo-»Western«held durchläuft - anders als sein klassisches Vorbild - auch keine Entwicklung mehr, in deren Verlauf er sich von seinem Schicksal als Einzelgängers befreien und in die Sicherheit des Kollektivs zurückfinden könnte. Vielmehr nimmt er dieses Schicksal an. Er verkörpert es. Er ist ein statischer Held, der aus dem Nichts kommt und im Nichts verschwindet, sobald er seinen Job erledigt hat. Der nächste Job wartet schon.

So bleibt dieser Held, was er immer war - ein einsamer Rächer, der den Glauben an die Rückkehr in die vortraumatische Welt verloren hat. Psychologisch interpretiert verwandelt er die Welt in die Wüste, in der er lebt. Diese Leere füllt er dann mit seiner Rache aus. Doch die Reise, auf der er sich befindet (alle Helden sind Reisende) hat keinen Sinn, keinen Zweck, kein Ziel mehr. Der postmoderne Held dreht sich im Kreis. Er hat erkannt, daß die Welt so korrupt ist wie er selbst. Er ist immer auf der Flucht - und schlägt alle in die Flucht. Er ist das Abbild der Wiederkehr des Ewig-Gleichen. Damit kommt er dem Alltagsparanoiker nahe, der - ebenso vereinsamt – auch keinen anderen Sinn mehr kennt, als den, seinem allgegenwärtigen Gefühl der Bedrohung wütend-destruktiv Ausdruck zu verleihen. Vor seiner Angst sollen alle Angst bekommen. So wird lonley boy zum Killer, der dem Gangster gleicht, auf dessen Kopf die Prämie ausgesetzt ist. So wird er zum paranoiden Gott, vor dessen Thron alle gleich sind: dead or alive - er macht alle Menschen zu seinesgleichen, zu ewigen Flüchtlingen.

Der klassische »Western«held unterscheidet sich vom Italo-»Western«helden insofern, als er sich - wie Odysseus - noch an eine ursprünglich heile Welt, an eine Heimat, erinnern kann, aus der er zwar vertrieben worden ist, von der er aber glaubt, er könne sie durch heldenhafte Anstrengungen wiedergewinnen. Sein postmoderner Nachfolger hingegen erinnert sich nur noch an Zerstörung und Tod. Also agiert er seine trauamtischen Erinnerungen in einer endlosen Folge von Racheakten aus. Der klassische »Western«held schätzt in all seiner Verzweiflung und trotz vieler Niederlagen noch immer die Werte einer prinzipiell guten Welt, die er, nachdem sie vorübergehend in Unordnung geraten ist, wieder herstellen will. Der klassische Hollywoodheld ist ein Gerechter, der sich als guter Mensch im Kampf gegen das Böse bewährt. Sein Nachfolger, der Italo-»Western«held, akzeptiert hingegen den Vorwurf, er selbst sei so schlecht wie die Welt, in der er kämpft, um zu überleben. Er hat das Prinzip dieser heillosen Welt erkannt: Das Böse siegt über das Gute. Also bekennt er sich zur Gemeinheit.

Der klassische Held hingegen versucht, das Unrecht, das an ihm - stellvertretend für andere - begangen worden ist, zu korrigieren. Sein Nachfolger, der Italo-»Western«held, weiß jedoch, daß Recht nur ein anderes Wort für Macht ist. Der klassische Held sieht in der Beugung des Rechts den Ausnahmefall. Sein Nachfolger hingegen erkennt die Rechtsbeugung als Normalfall, als Prinzip der Herrschenden, die im Italo-»Western« als gierige Viehbarone, frühkapitalistischen Eisenbahnaktionäre oder bestechliche Gesetzeshüter auftreten. Der klassische Hollywood-»Western« kennt zwar auch solche Gestalten - doch sie verkörpern Ausnahmen, nicht die Regel. Die Regel hingegen beachtet der klassische Held, mag er auch gezwungen sein, (vorübergehend) außerhalb des Gesetzes zu kämpfen, weil korrupte Vertreter des Gesetzes das Gesetz gebrochen haben. Dann nimmt der Held das Gesetzt in seine Hand, aber nur, um ihm wieder Gültigkeit zu verschaffen. Im Grunde ist der Hollywoodheld nur scheinbarer Outlaw, während sein Nachfolger, der Italo-»Western«held, tatsächlich ein Gesetzloser ist. Der klassische Held ist der bessere Vater und der wahre Retter der guten Mutter (Heimat), während der postmoderne Held der ewig verlorene Sohn ist, der weder an das Gesetz des Vaters noch an die Treue der Mutter, weder an eine Heimat noch an unverbrüchliche Bindungen glaubt.

Hollywoodheld wie Italo-»Western«held verkörpern eine exemplarische Männergeschichte, eine Helden- und Rachegeschichte. Wie im antiken Heldenepos steht dabei die traumatische Verletzung am Ausgangspunkt der Geschichte. Die ödipalen Wünsche des Sohnes - die Vergewaltigung der Mutter, die Ermordung des Vaters – werden projektiv als Untaten anderer Menschen dargestellt, an denen sich der früh verwaiste Sohn später heldenhaft rächen wird. Die verbrecherischen Ur-Szenen können durch Erzählungen dargestellt werden, die in die Film-Handlung eingestreut sind; oder sie werden in Rückblenden bildhaft gezeigt. Dabei tauchen Erinnerungsbruchstücke auf, wobei sich der erwachsene Held in einem tranceartigen Zustand befindet, in dem er in sein Kindheitserleben zurückversetzt ist. Während nun aber der klassische »Western«held darum kämpft, sein Ich und die Welt der früh zerstörten Familiengemeinschaft zu rekonstruieren, erscheinen seinem Nachfolger solche Ziele als unerreichbar. An die Stelle der Heimat, die der klassische »Western«held besaß und wieder gewinnen will, ist im Italo-»Western« eine »durch Anonymität, Korruption und Gewalt charakterisierten Gesellschaft« getreten. Für den Italo-»Western«held gibt es keine Heimat und keine Freundschaften mehr. Für ihn zählt nur noch »solipsistische Stärke« (Esser 1985, S. 96). Jenseits kalkulierter Interessen vertraut er keiner Bindung mehr. Liebe, Treue und Hingabe werden zu Gefahren - zur allgegenwärtigen Gefahr des Verrats. Also geht der Italo-»Western«held nur noch Zweckbündnisse ein. Denn jede Beziehung ist kündbar - und jeder Mensch ist käuflich. Also entzieht sich der Italo-»Western«held jeder Bindung, die nicht in klingende Münze umzurechnen ist. Er kennt nur noch eine Münze - und die läßt sich gegen alles und jeden tauschen.

In einem dieser Filme schleppt der Held symbolträchtig einen Sarg mit sich herum, in dem alle Hoffnung auf Liebe begraben ist. Die Geliebte, die diesem Sarg entsteigt, ist das Maschinengewehr, mit dessen geballter Feuerkraft der Held, der den Tod einer früheren Geliebten rächen will, seiner Befindlichkeit angemessenen Ausdruck verleiht. Während sich der klassische Held an Menschen rächt, zu denen er eine persönliche - wenngleich ambivalente - Beziehung unterhält, rächt sich der Italo-»Western«held nun aber an niemandem mehr. Das heißt: er rächt sich an allen, an der Gesellschaft insgesamt. Einer für alle – alle für einen! Als lonesome rider hat er das schrankenlose Prinzip der Tauschgesellschaft begriffen, das jeden Menschen zur Ware macht. Es ist deshalb egal, wer wen umbringt; wichtig ist nur, daß man selbst  die Macht über Leben und Tod in der Hand behält.

Nicht der Kampf Mann gegen Mann, entgrenzte Gewalt, Overkill ist die Parole der Stunde. Der Ehrenkodex, der in der bürgerlichen Gesellschaft noch gültig war und der den Hollywood-»Western«helden zur Einhaltung der Regeln des ritterlichen Zweikampfs zwang, gilt nicht mehr. Der postmoderne Held ist der typische Söldner, ein Desperado, der nur noch eine Bindung kennt, die hält, was sie verspricht: die Bindung ans Geld. Deshalb ist der Kopfgeldjäger der Held des Italo-»Western«. Keiner hat diesen Typ überzeugender dargestellt als Klaus Kinski in Sergio Corbuccis Film »Leichen pflastern seinen Weg« (1968). In der Rolle des »Loco«, des verrückten Kopfgeldjägers, verkörpert er die kalkulatorische Vernunft. Er darf mit allen Mitteln kämpfen, die Gejagten mit jeder List und Hinterlist zur Strecke bringen. Er darf sie im Schlaf ermorden oder in den Rücken schießen –Handlungsweisen, die jedem guten Hollywoodhelden Schmach und Schande eingebracht hätten, bringen »Loco« Bargeld ein. »Loco« hat die Vernunft der Gesellschaft begriffen, für die er arbeitet; in der er überlebt und andere sterben läßt.

So deutlich sich der Italo-»Western«held als unmoralischer Täter zu erkennen gibt, so deutlich wird, daß er ein Kritiker der Gesellschaft ist, deren zynische Gesetze er exekutiert. »Töte, Django«, lautet der programmatische Titel eines Italo-»Western, der Ende der 1960er Jahre eine Antwort auf die Moral des klassischen Hollywood-»Western« gibt. »Django« verwirklicht den amerikanischen Traum - und ist doch dessen bester Kritiker. Er ist der Tellerwäscher, der es als Kopfgeldjäger und Leichenbestatter zu Reichtum bringt - und doch weiß, daß er selbst als Millionär keine Chance hätte, in die »gute« Gesellschaft aufgenommen zu werden. Also bleibt er, was er ist: ein Fremder in der Welt, deren Gesetze er entlarvt, indem er sie erfüllt. Er gehört zu jener Welt, in der - gemäß rassistisch-reaktionärer Ideologie das Böse haust, das im klassischen Hollywood-»Western« Indianer, Mexikaner, Mischlinge oder a-sozialen Weiße verkörpern. »Django« durchschaut den amerikanischen Traum. Und deshalb verjubelt er die Handvoll Dollar, die ihm bleibt, lieber an der Bar, am Spieltisch oder im Puff, anstatt sie nach den Regeln der Gesellschaft zu investieren, deren Drecksarbeit er verrichtet.

Hollywoods Antwort auf »Django« heißt »Rambo«, ein Superheld, der in Vietnam aufräumt und im amerikanischen Westen ausflippt. Auch »Rambo« zerbricht den amerikanischen Traum. Doch er bleibt ein Saubermann, der zwischen Gut und Böse unterscheiden, das Fremde im anderen und deshalb das Böse im Fremden erkennen kann, wie er meint. Doch als er im Namen der Werte, für die er das Böse in Gestalt kommunistisch-asiatischer Horden in Vietnam zur Strecke brachte, in der Heimat für sich selbst kämpft, wird er selbst zum bösen Buben. So ungerecht reagiert die gute Welt, sobald man ihre Gesetzeshüter an den Gesetzen mißt, die sie für andere geschaffen hat.

Im Gegensatz zu »Rocky«, dem Hollywoodhelden, der die Ideologie der Reagan-Kohl-Ära bestätigt: Leistung lohnt sich! - ist »Rambo« ein Aufklärer. »Rocky« ist der filmische Beweis für das Erfolgserlebnis, das amerikanische und andere Träumer haben, wenn sie ins Kino gehen. »Rocky« boxt sich nach oben. Und wenn er auch zwischendurch grün und blau geschlagen wird, er steht wieder auf und schlägt alsbald einen anderen grün und blau. So erklimmt er Stufe um Stufe auf der Treppe, die aus der Tiefe der Hölle der Slums in den Himmel der reichen und feinen Gesellschaft führt. Wie aus einer Befragung deutscher Jugendlicher hervorgeht, schätzen Heranwachsende beiderlei Geschlechts die Helden, die in »Rambo«-, »Rocky«- und ähnlichen Filmen angeboten werden. Die Gefühle von Ohnmächtigkeit und Einsamkeit - Erfahrungen, die zur Alltagsrealität von Jugendlichen gehören - werden von vorbildhaften Filmhelden spielend bewältigt. Solche Filme geben Anschauungsunterricht, wie man narzißtischer Wut Sinn und Zweck geben, »wie man Situationen im Alleingang meistern « (Reimitz 1987) und wie man dabei zum Helden werden kann.

Noch schlichter ist die Botschaft des (ersten) »Terminator«-Films, der den Mythos von der Geburt des Helden futuristisch durchspielt. Es entbrennt ein gigantischer Kampf zwischen Gut und Böse. Der »Terminator«, die außerirdische Inkarnation des Bösen, tritt als geschlechtsneutrales Maschinenwesen an, das auf die Vernichtung des Guten programmiert ist. Dieses Gute verkörpert ein Kind, das geboren wurde, um die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren. Der »Terminator« will das Kind töten. Doch ein Guter, ebenfalls von außerirdischer Dignität, rettet das Kind. Das Kampfspiel ist eine Variante des Jesus-Mythos. Das Kind, das dereinst die Welt retten soll, durchläuft allerdings überhaupt keine Entwicklung mehr. Das Ziel in diesem Grippenspiel ist erreicht, wenn der Sohn (das Kind) am Ende des Films in den Armen seiner Mutter schlummert. Die neuen Helden sind müde. Sie kämpfen nicht, sie lassen kämpfen. Sie bleiben, wohin der klassische Held am Ende einer langen Abenteuerreise gelangt: im Schoß der Mutter. In Ibsens Drama »Peer Gynt«, einer nordischen Odysseus-Faust-Saga, beschreibt der Held (am Schluß des 5. Aktes) diesen Ort der Sehnsucht mit den Worten:

Meine Mutter; meine Gattin; Weib, rein im Minnen! –

O birg mich, birg mich da drinnen!

Daraufhin flüstert Solvejg, die treue Penelope-Gretchen-Gattin, dem verlorenen und nun endlich wieder gefundenen Odysseus-Faust-Sohn eine zärtliche Wahrheit ins Ohr. Sie trifft auf alle Helden zu, die nie einen Vater hatten und deshalb niemals Vater werden können, sondern Söhne bleiben müssen:

Schlaf, mein teuerster Junge, schlaf!

Ich will dich wiegen, ich will wachen. –

Der Junge saß auf seiner Mutter Schoß.

Zeitlebens war sie sein Spielgenoß.

 

Literatur

Breuer, J., Freud, S. (1895). Studien über Hysterie. Frankfurt am Main: Fischer 1991.

Esser, R. (1985). »Männer«, »Rache« und »Das Gute«; Eine sozialpsychologische Untersuchung zur Entwicklung des klassischen zum Italo-Western. Hamburg: Diplomarbeit im Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg.

Freud, S. (1909). Der Familienroman der Neurotiker. GW VII, S. 227-231 (zuvor abgedruckt in: Rank, O.: Der Mythus von der Geburt des Helden - Versuch einer psychologischen Mythendeutung, 1909, S. 64-68).

Ibsen, H. (1867). Peer Gynt; Ein dramatisches Gedicht.

Rank, O. (1909). Der Mythus von der Geburt des Helden - Versuch einer psychologischen Mythendeutung. Leipzig, Wien: Deuticke.

Reimitz, M. (1987). Rambo Zambo und was einige Jugendliche dazu meinen. Psychosozial 31, S. 49-59.

Der vorstehende – hier erheblich überarbeitete - Beitrag ist erstmals erschienen in:
Szanya, A. (Hg.): Elektra und Ödipus. Von Penisneid und Kastrationsangst. Wien (Picus), 118-138.