Ein Privatgelehrter in des Kaisers Kutsche

Bernd Nitzschke über Hans Blühers Buch
Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (1917/19)

Berühmt oder berüchtigt? In einem heute kaum mehr nachvollziehbaren Ausmaß diskutierte das Publikum im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den Autor Hans Blüher (geb. 17. 2. 1888 – gest. 4. 2. 1955). Mit seiner Monographie über den Wandervogel (1912) hatte sich der bis dahin Unbekannte über Nacht einen Namen gemacht. Seinen kometenhaften Aufstieg kommentierte Blüher später im autobiographischen Bekenntnisbuch Werke und Tage nicht ganz ohne Stolz: „So war ich mit einem Schlage ein berühmter und berüchtigter Mann, als welcher ich seitdem in den öffentlichen Lexika geführt werde“ (1953, 342). Bisweilen verblaßt der Ruhm eines Autors jedoch fast so rasch wie die Tinte auf dem Papier, das er beschrieb. Und deshalb sucht man heute den Namen Blüher in gängigen Konversationslexika oft vergebens.

Blüher hatte den erotischen Untergrund einer ursprünglich rein männlichen Jugendbewegung analysiert - der sich später auch „Mädels“ anschlossen (nach Blühers Auffassung war das bereits ein Zeichen des Verfalls dieser „Bewegung“) - und damit Skandal gemacht. Die Wirkung seiner Schriften auf die Generation, die sich - vor und nach dem Ersten Weltkrieg - weitgehend als „vaterlos“ empfand, war außerordentlich. So schrieb beispielsweise Franz Werfel 1915 an den Autor: „Ich muß Ihnen, verehrter Herr Hans Blüher, gestehen, daß ich durch Ihre Schriften in meiner heutigen tiefen Nervenerschöpfung einen großen Trost erfahren habe“ (zit.n. Blüher 1953, 35). Und in einem Brief, den Rilke 1919 an Lou Andreas-Salomé schrieb, heißt es: „Kennst Du die Bücher Hans Blühers?; in seinem eben erschienenen zweiten Band von Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (Band 1: 1917; Band 2: 1919 - B. N.) steht einiges Wunderbare“ (zit. n. Blüher 1953, 350).

In diesem Werk hatte Blüher einen zentralen Gedanken aus seiner Wandervolgel-Trilogie noch einmal aufgenommen und zum System ausgebaut: „Der Wandervogel ist eine revolutionäre Jugendbewegung, die sich gegen die Väterkultur und den Geist des Zeitalters zugunsten eines freien Standes der Jugend richtet. Da er kein Zweckverband ist, sondern eine leidenschaftliche Bewegung der männlichen Jugend, Leidenschaft aber nie ohne Eros vorkommt, so ist er außerdem ein ‚erotisches Phänomen’“ (Blüher 1953, 181). Die Kraft des invertierten Eros (den Gebrauch des Begriffs „Homosexualität“ lehnte Blüher ab, weil er ihm zu sehr auf explizites Sexualverhalten bezogen erschien) galt Blüher für jede männliche Gemeinschafts- und Staatenbildung als grundlegend. Es ist der bejahte mannmännliche Eros, den Blüher als Mitglied des Wandervogel erlebt hatte und den er später als Grundlage jeder - aus seiner Sicht - höheren, idealen „männlichen“ Kultur begreifen wollte.

Dieser Annahme lag ein Motiv, eine schwärmerische Sehnsucht nach einem idealen Vater zugrunde, eine Sehnsucht, die inzwischen in mancherlei Hinsicht wieder aktuell ist. Damals (wie später) entsprang die Suche der Söhne nach idealen Vätern einer enttäuschten „kindväterlichen Liebe“. Die von Blüher beschriebene Generation - das war eine „an ihren Vätern verzweifelt“ Jugend (Blüher 51920, II, 21), die sich nach der Jahrhundertwende auf unterschiedlichen Wegen darum bemüht hatte, neue Väter, neue Ideale zu finden. Der Weg, der Aufbruch in die neue Zeit, das waren damals - „links“ wie „rechts“ - Mittel zum Ziel. Das Überkommene galt als faul, morsch und unglaubhaft; das Ziel, die Erlösung, schien in der Zukunft zu liegen - und doch war es oft nur eine rückwärtsgewandte Utopie, die in die Zukunft projiziert wurde.

Die Schwärmer der Wandervogel-Bewegung suchten nach „Männerhelden", die das Verlangen nach Vor- und Leitbildern erfüllen sollten. Der neue Führer wurde als „bessere Art Vater" imaginiert (ebd.). Da es aber - realistisch gesehen - keine besseren Väter, allenfalls ein besseres Verhältnis zum Vater geben kann, lag dieser Suche von Beginn an ein Stück Illusion zugrunde. Und tatsächlich entpuppten sich die vermeintlich neuen „Väter" später oft als Autoritäten, die ihre Macht dem Mißbrauch der auf sie projizierten Ideale verdankten. Blüher blieb zeitlebens auf der Suche nach Lichtgestalten, die er verehren und bewundern konnte.

Selbst aus einfachen Verhältnissen stammend, sehnte sich Blüher nach dem Erhabenen und Erhobenen, nach Aristokratischem, nach einem Kaiser, der jenseits des Parteienstreits und der alltäglichen - in Blühers Augen kleinlichen - Interessengegensätze thronen und dabei das Große und Ganze im Auge behalten sollte. Blühers Sehnsucht galt einer Majestät. Eine solche Lichtgestalt erkannte er in Wilhelm II, der sich selbst zur Schar der begeisterten Blüher-Leser rechnete. Mit unfreiwilliger Komik schildert Blüher seine Begegnung mit dem abgedankten Kaiser im holländischen Exil: „Ich saß im mittleren Wagen links und daneben der Deutsche Kaiser - wir beide allein. Jedesmal, wenn wir durch ein Dorf kamen, standen die Kinder jubelnd am Rinnstein, und die Bauern grüßten ehrfurchtsvoll“ (1953, 143).

Abgesehen von seiner Existenz als Bewunderer majestätischer Souveränität war Blüher auch ein „Privatgelehrter“ (1953, 331), der eine Renaissance aristokratischer Werte herbeizuschreiben versuchte. Offen vertrat er anti-demokratische, anti-sozialistische, anti-semitische und anti-feministische Überzeugungen. Und freimütig gestand er, sich stets nur „als Untertan des Königs von Preußen gefühlt“ zu haben. Denn „nur dieses politische Verhältnis“ - das des Regenten zum „Untertanen“ - „hat für mich einen Sinn und Würde, während ich darauf, ‚freier Bürger’ zu sein, nicht den geringsten Wert lege“ (1953, 176). Warum diese Sehnsucht nach einem großen Mann? Warum diese Verachtung für die Demokratie? Darum: „ (...) ‚das Volk’, das neuerdings soviel von sich hermacht, ist eine vernunftlose Masse, mit der man machen kann, was man will; (...) gibt man ihm Ohrfeigen, so sagt es noch, eigentlich habe es sie verdient. Daher ist es stets meine Ansicht gewesen, daß nur der Verlust der Monarchie ein ernstzunehmender gewesen ist (...); aber der Verlust der Monarchie ist tödlich, denn er zerstört den geschichtlichen Kern der Nation. Das hier umkommende Imponderabile wächst nicht mehr nach. Alles, was später kommt, ist daher nichts als Verfall“ (1953, 148).

Aus dieser Haltung, das Hohe und Höchste in die Vergangenheit zu projizieren und es in der Zukunft wiedergewinnen zu wollen, erwuchs eine gefährliche Geringschätzung des Gegenwärtigen, des Realen, des Nicht-Idealen. Blüher beschwor die überkommenen Tugenden, die im Chaos der modernen Zeiten verlorengegangen zu sein schienen, so: „ (...) immerhin aber ist es etwas anderes, ob man sein Vaterland verteidigt oder für verschwommene Menschheitserneuerungen eintritt. Damals (nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Blüher in München einen Vortrag über Deutsches Reich, Judentum und Sozialismus hielt - B. N.) sammelte sich um mich die ganze gut aussehende Jugend, meist in Uniform, rassisch und persönlich hervorragend betont, während sich auf der Gegenseite das ganze langhaarige, schlecht frisierte Gesindel aufstaute, Litteratenvolk mit tiefen Menschheitsblicken, der Typus des damals herumlungernden freideutschen Abfallproduktes: solche Leute etwa wie Erich Mühsam (...)“ (1953, 400).

So seltsam es auch klingen mag: Blühers hochmütige, autoritär-aristokratische Grundhaltung, die seine Wandervogel-Begeisterung ebenso durchdringt wie seine Theorie der „männlichen Gesellschaft“, bewahrte ihn nach 1933 davor, Anhänger der nationalsozialistischen „Bewegung“ zu werden. Sie hatte ihn zunächst jedoch durchaus angesprochen, da sie viele Elemente jenes Geistes - zum Beispiel die Verachtung der Masse als „weibisch“ - enthielt, der Blüher beseelte. Eine Art Haßliebe verband ihn auch mit „den“ Juden. Blüher vertrat die Auffassung, „die“ Juden hätten den Eros vom Geist abgespalten, wodurch selbiger an Tiefe verloren habe. Judentum, Freigeisterei, Literatentum, kurz die Modernität, die zur Zerstörung der von Blüher geschätzten konservativen Werte und zur Herabwürdigung der Vernunft zum bloßen Instrument geführt habe, waren in Blühers Verständnis Synonyme. Er haßte den freischwebenden, vagabundierenden, umstürzlerischen, den jeden Wandel bejahenden - vermeintlich jüdischen - „Geist“, so sehr er andererseits auch viele Produkte dieses Geistes bewunderte: „Während nämlich bei den anderen Völkern der Geist, ‚der über den Wassern der Urflut brütet’, sich leidenschaftlich mit der Liebe verbindet (...), hat er beim Juden die fast pathologische Neigung, sich mit dem bloßen Intellekt zu legieren, wodurch dann jener fatale ‚jüdische Geist’ entsteht, den wir im jüdischen Litteraten so verabscheuen“ (1953, 92).

Wenig vernünftig und ziemlich kraus räsonierte Blüher schließlich - wie viele seiner Zeitgenossen - über „Rasse“-Eigenschaften. Der Diskurs über die „Rasse“, an dem sich zum Beispiel auch die Eugeniker jener Zeit beteiligten, war nun allerdings - wie Anna Bergmann (1992) gezeigt hat - keineswegs auf „rechte“ Denker beschränkt. Und er war auch nicht durchgängig anti-modern. Im Gegenteil: „(...) die Figur des Eugenikers und Sozialisten Alfred Grotjahn (1869-1931), oder die Bewegungen der Sexualreform, der Frauenemanzipation und der sozialistischen Medizin lieferten genug Beispiele für linke Strömungen, die soziale Modernisierung und eugenische Forderungen genuin verknüpften. Auch der marxistische Theoretiker Karl Kautsky (1854-1938) hatte 1910 die Rassehygiene zum Bestandteil der sozialistischen Utopie proklamiert“ (Bergmann 1992, 93). Und keineswegs in allen Fällen verfolgten diese „frühen Rassehygieniker und Eugeniker (...) antisemitische Ziele, im Gegenteil, nicht wenige von ihnen waren Juden - und manche wurden später selbst Opfer der nationalsozialistischen Rassepolitik. Diese Tatsache blieb in der bisherigen Geschichtsschreibung der Rassehygiene und Eugenik weitegehend unerwähnt“ (1992, 58 f.).

Auch Freud benutzte gelegentlich stereotype Bilder, die dem zeitgenössischen Diskurs über „Rassen“ entnommen waren (vgl. Gilman 1994). Und die imperialen Politiker jener Zeit verstanden es ebenfalls, sich dieses Vokabulars zu bedienen. So rechtfertigte der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Krieg mit den folgenden Worten: „Der am meisten gerechtfertigte Krieg ist der Krieg mit den Wilden, auch wenn er dazu neigt, der grausamste und inhumanste zu sein. Die ganze zivilisierte Menschheit steht in der Schuld des rauhen Siedlers, der den Wilden das Land weggenommen hat (...). Amerikaner und Indianer, Bure und Zulu, Kossake und Tartar, Neuseeländer und Maori - in jedem dieser Fälle hat der Sieger, so schrecklich viele seiner Taten auch gewesen sind, die Fundamente für zukünftige Größe gelegt (...). Es ist von unermeßlicher Bedeutung, daß Amerika, Australien und Sibirien aus den Händen der roten, schwarzen und gelben Ureinwohner genommen und zum Erbe der dominanten (sprich: weißen - B. N.) Rasse der Welt werden“ (zit. n. Rünzler 1995, 111).

Nein, Blüher war nicht der einzige, der damals von „Männerhelden“ schwärmte. Im „rauhen Siedler“ Nordamerikas, der Landraub mit Völkermord zu verbinden verstand und die traditionell männlichen Tugenden gegen die in den Städten des Ostens der USA um sich greifende „verweiblichende“ Zivilisation zu verteidigen schien, hatte Blühers „Männerheld“ ein Pendant, das - dank vieler Hollywood-Filme über den „Westerner“ – zum Vorbild mehrerer Generationen männlicher Jugendlicher wurde. Die Helden des Wandervogels waren dagegen eher blasse Abbilder dieses Pionier-Ideals.

Bei Blüher verband sich der rassistische Diskurs schließlich mit antisemitischen Ausfällen. Dennoch blieb Blüher ambivalent an das Stereotyp „des“ Juden gebunden. So prieß er „die Schönheit der Töchter Israels“ (1953, 165); doch eine Jüdin zur Mutter der Kinder eines „arischen“ Mannes zu machen, das lehnte er ab, weil er glaubte, auf diese Weise würden die „reinen Rassen“ minderwertig werden.

Die Reaktionen auf Blühers Wandervogel-Trilogie fielen ebenfalls verwirrend aus: Einer der Kritiker - Georg Schmidt - fragte, ob Blüher denn selbst „Jude“ sei? Karl Wilke merkte 1913 an: „Es gibt etwas wie einen Kampf zwischen Germanentum und einer anderen Rasse!“, und meinte, Blüher habe durch seine Analyse des erotischen Untergrunds der germanischen Jugendbünde deren Ehre befleckt. Aus diesem Grund verurteilte Wilke die Wandervogel-Monographie: „Uns ist das Blühersche Buch ein krankes Buch (...)“ (zit. n. Geuter 1994, 95). Im Völkischen Beobachter wurde Blüher 1920 dann sogar als Verführer der Jugend zur Homosexualität angegriffen (Geuter 1994, 171).

Blüher wiederum verehrte in Hitler weder den „Führer“ noch erkannte er ihn als „Männerheld“ an. Vielmehr verabscheute er an Hitler die Attitüde des Emporkömmlings, der von den Massen, die er fasziniere, selbst fasziniert sei, so daß er sie nicht - wie ein Kaiser, wie ein über den Wassern schwebender Geist, wie ein über dem Volk thronender Vater - souverän führen könne. Der selbsternannte „Führer“ Hitler habe die „Staatsgewalt“ an sich gerissen, heißt es bei Blüher, die rechtens nur einem Monarchen von Geburt zustehe. Und den Pöbel in Gestalt der NS-Bewegung, jenen „Schub von unten her: die germanische Unterrasse von neandertaloidem Typus“, verachtete Blüher (1953, 40) gänzlich.

Die Zeit, in der Blüher schrieb, war weit entfernt von Ein-Deutigkeiten. Die Diskurse überschnitten, die Schablonen mischten sich - von Autor zu Autor, von Buch zu Buch, von Engagement zu Engagement. So zählte Ernst Bergmann zu den schärfsten Kritikern Blühers, ein reaktionärer Autor, der Blüher ins Heer der „Sexualärzte Freudscher Observanz“ (1932, 287) einzuordnen versuchte. Damit hatte Bergmann Unrecht, denn Blüher war weder Arzt noch Psychoanalytiker, auch wenn er zeitweise als Seelenberater aus eigenen Gnaden tätig war und eine Form von „wilder“ Psychoanalyse praktizierte. Bergmann attackierte vor allem Blühers Achtung des invertierten Eros. Denn „homosexuelle Männer sind wie Geisteskranke zu behandeln und aus rassen- und arthygienischen Gründen durch Unfruchtbarmachung (...) von der Vererbung ihrer Degeneration auszuschließen“ (1932, 288). Und über Blühers Theorie der „männlichen Gesellschaft“ urteilte Bergmann: „Größerer Widersinn ist wohl nie über den sexuellen Ursprung des Staates geschrieben worden“ (1932, 285). - „Solche Bücher wie die ‚Männliche Gesellschaft’ dürfen heute verfaßt, gedruckt und gelesen werden, im Zeitalter der hygienischen Aufklärung, des Sports, der Biologie, der Frauenbewegung, der Jugendbewegung, der Muttertage, der Reichsgesundheitswochen, im ‚Jahrhundert des Kindes’. Die ganze ‚Männliche Gesellschaft’ Blühers ist ein einziger großer ‚Peinlichkeitseffekt’ (...) (1932, 289). Johann Plenge verfaßte 1920 deshalb gar ein Buch mit dem Titel Antiblüher. Affenbund oder Männerbund.

Bevor die Wandervogel-Monographie die Gemüter dermaßen erregt und Blüher zu einem bekannten Schriftsteller gemacht hatte - weshalb er sich hinfort ein Dasein als schriftstellernder Philosoph leisten konnte -, hatte nur die Hoffnung auf männliche Lichtgestalten Blüher über Wasser gehalten. Später aber verglich sich Blüher selbst mit Kant und wähnte, mit seinem Buch Die Achse der Natur (Blüher 1949) habe er eine ähnliche Wende im Denken eingeleitet wie Kant mit der Kritik der reinen Vernunft (vgl. Blüher 1953, 130 ff.). Bis zu seiner Entdeckung als Wandervogel-Autor aber war er nur ein Universalstudent ohne Examen gewesen, der Mühe hatte, seinen täglichen Unterhalt zu bestreiten. Sein Vater hatte ihm immer wieder ins Gewissen geredet, endlich einen ordentlichen Brotberuf zu ergreifen. Und: „Der Gedanke, ich könnte dazu verurteilt sein, ein Hungerleben auf möblierten Zimmern als Bohemien zu führen (...), war fast unerträglich für mich“ (Blüher 1953, 327).

Ohne das Ansehen, das Blüher durch seine Wandervogel-Trilogie gewonnen hatte, und ohne den dadurch begründeten Ruhm wäre er wohl zu dem geworden, was er so sehr verachtete: zu einem nahe der Gosse lebenden „Litteraten“, der vorbeifahrende große Männer aus der Froschperspektive betrachtet und stets in der Gefahr schwebt, alsbald endgültig im Rinnstein zu landen.

Zu den vielen, die Blühers Begabung als Schriftsteller lobten, gehörte auch Freud. Am 10. Juli 1912 schrieb er Blüher: „Kein Zweifel, Sie sind eine starke Intelligenz, ein trefflicher Beobachter u ein Kerl von Mut und ohne viel Hemmungen. Was ich bei Ihnen gelesen habe, ist viel gescheiter als das Allermeiste der homosexuellen Literatur und richtiger als das Meiste der medizinischen (...). Nebenbei freue ich mich zu hören, daß Sie sich nicht selbst zu den Invertirten zählen, denn ich habe wenig Gutes von ihnen gesehen“ (zit. n. Neubauer 1996, 138ff.). Blüher hatte Freud das Manuskript des dritten Bandes der Wandervogel-Analyse geschickt. Und Freud hatte geantwortet. Ja, er wollte Blüher gar bei der Suche nach einem Verleger helfen. Blüher sah darin eine Bestätigung seiner Leistung als Autor durch Freud und fühlte sich, wie er einem Vertrauten schrieb, durch diese Anerkennung für die Auseinandersetzung mit Kritikern seiner Wandervogel-Thesen gewappnet (Geuter 1994, 80).

Trotz aller Anerkennung und weltläufiger Bekanntschaften blieb Blüher jedoch zeitlebens ein geistiger Jüngling. Er verharrte in der Pose des aus einer preußischen Bildungsanstalt in den Wald entsprungenen Gymnasiasten, dessen Revolte sich darauf beschränkte, die autoritären Ideale seiner Lehrer im Schein von Lagerfeuern neoromantisch zu illuminieren. Zwar nahm Blüher „eine rebellische Attitüde ein, aber die Inhalte dieser Attitüde“ blieben weitgehend alten Wertvorstellungen verhaftet (Jungmann 1936, 704 - zit. n. Geuter 1994, 77). Mit Schiller teilte er den Hang zum Idealen. Sechs Jahre nach dem Abitur habe er, so berichtet Blüher - einen etwas unangemessenen Vergleich bemühend - seine Räuber geschrieben (1953, 32). Damit meinte Blüher seine Wandervogel-Trilogie.

Der Überzeugung, „daß der Wandervogel unter dem Gesetz der ‚männlichen Gesellschaft’ stehe und daß dies wiederum ein Produkt und eine Lebensform des antiken mannmännlichen Eros sei“ (1953, 37), hing Blüher zeitlebens an. Das heißt, er konnte sich von seiner Angst vor einer tieferen, halt-loseren Begegnung mit dem anderen, dem weiblichen, dem fremden Geschlecht niemals befreien. Wie Weininger (vgl. Nitzschke 1980), auf den er sich wiederholt berief, litt Blüher an einer Zwangsvorstellung: Er könnte zum Täter, zum Vergewaltiger, zum Schänder werden, wenn er sich einer Frau nähere - es sei denn, er würde ihr „Opfer“, ihr Untertan werden. Also fand Blüher Sicherheit und Trost in der Vorwärtsverteidigung: Das Weibliche sei identisch mit dem (verdrängten) Wunsch, vergewaltigt zu werden, heißt es in einer seiner Schriften (1953, 305). Damit meinte Blüher wohl das „Weibliche“ in sich selbst, dessen er sich nicht bewußt zu werden wagte.

Als Blüher erstmals verliebt ist, gilt seine Schwärmerei einem Schulkameraden, einem jüdischen Knaben namens Israel (1953, 87 ff.). Auf Israel richtet sich Blühers mannmännlicher Eros. Seinen Haß, seine Verachtung konzentriert er zur selben Zeit auf einen anderen - ebenfalls jüdischen - Schulfreund. Der hatte ihm Ansichten mitgeteilt, die ihm zutiefst missfielen: nämlich daß „der ‚sogenannte Heldentod’ sich in nichts unterscheide von einem Straßenbahnunfall“ (1953, 93). Das war zuviel für den jungen Blüher, der wenigstens in einem Fall – im Fall des Helden - an der Sinngebung des Sinnlosen festhalten wollte: Der „Held“ stirbt für das „Große“, „Gute“ und „Ideale“. Und das ist gut so: diese Überhöhung des sinnlosen Todes zum sinnvollen Sterben, zum Heldentod. Sie korrespondiert mit der Verachtung, die Blüher für das schnöde Dasein des Durschnittsmenschen empfindet, für Menschen, die nicht bereit sind, ihr Leben in den Dienst einer höheren Sache, einer Berufung zu stellen; die nicht im Auftrag sterben wollen. Blüher brauchte - wie jeder Schwärmer und Spießer – nicht nur Helden, die er bewundern, er brauchte auch Anti-Helden, die er verachten konnte.

„Die Jahre von vierzehn bis zwanzig aber, die bei den meisten mit ganz wertlosen Tändeleien um das weibliche Geschlecht ausgefüllt sind, haben in meinem Leben der Knaben- und Freundesliebe gegolten, das heißt einer sehr gehaltvollen Erotik, der die Jugendbewegung und der Wandervogel ihr Dasein verdanken“ (Blüher 1953, 90). Die Bejahung dieser Erotik ist das Geheimnis jedweder „männlichen Gesellschaft“, die als Bollwerk gegen zweierlei Gefahr organisiert werden sollte: gegen das Zurücksinken des Mannes auf die kulturlose Stufe des Mutterschoßes (die „weibliche“ Gesellschaft, in der die Männer verweichlichen – sprich: verweiblichen); und gegen den Fortschritt zur Modernität, in dessen Verlauf die Differenz der Geschlechter eingeebnet und die Frauen zu Männern werden würden. Das war nun aber Weiningers Ziel, der von sich meinte, er sei der wahre Fürsprecher der Frauenemanzipation: die Aufhebung der Differenz der Geschlechter zugunsten einer von beiden Geschlechtern bejahten und praktizierten Askese, die mit der Vermännlichung der Frauen einhergehen sollte. Blüher hingegen bejahte die nach dem tradierten Rollenverständnis organisierte Geschlechterdifferenz und bezeichnete sich als Antifeminist (vgl. Blüher 1915; 1916).

Der Mann ist ein Tropfen auf den heißen Stein, der Weib heißt. Daran kann man(n) sich den „Finger“ verbrennen. Damit „Männerhelden“ dieses Schicksal erspart bleibt – bleiben sie auf Distanz zu den Frauen, bleiben sie in „männlicher Gesellschaft“. Mit den von einem anderen „Antifeministen“ ausgeliehenen Worten warnt Blüher vor dem Abgrund, der Weib heißt; dem man(n) sich nur mit äußerster Vorsicht, nur mit Seil und Haken ausgerüstet nähern darf: „Das Weib wird vom Manne ‚erfüllt’ - weil es leer ist; wir füllen, weil wir voll sind. Letzten Endes ist das Weib ein Loch. Es schwebt immer in der Angst, unerfüllt zu bleiben und in dieses gähnende Loch ihrer selbst hineinzufallen ins Bodenlose. Daher will es einen Mann für alle Zeit sicher haben, und daher erhebt es jenen verhängnisvollen Totalitätsanspruch, durch den der Mann, wenn er sich beugt, so lächerlich wird“ (1953, 314).

Daß es „weibische“ Männer gibt, die noch schlimmer als Frauen sein können, hatte Blüher schließlich auch leidvoll erleben müssen, denn ihm war ein „schwerer Fauxpas“ (1953, 330 ff.) unterlaufen. Er hatte sich, um für die Wandervogel-Monographie ein Vorwort zu erhalten, an den Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld gewandt (zu dessen Leben und Werk vgl. Herzer 1992). In Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen hatte Blüher 1913 einen Beitrag zum Problem der Homosexualität veröffentlicht, bevor er sich später - u. a. deshalb, weil dieser Beitrag nur mit Eingriffen publiziert worden war - mit Hirschfeld wieder überwarf. Hirschfeld vertrat eine Theorie der Homosexualität, die Blüher missfiel. Dieser Theorie zufolge gab es fließende Übergänge zwischen den Geschlechtern, „Zwischenstufen“ also, während Blüher Männliches und Weibliches eindeutig getrennt sehen wollte. Vor allem aber wollte Blüher seine idealisierten homosexuellen „Männerhelden“ nicht als verweiblichte „Zwischenstufen“-Vertreter gekennzeichnet wissen. Blüher faßte Männlichkeit als grundsätzliche Wesenheit auf, die unabhängig von der Wahl eines heterosexuellen oder homosexuellen Liebespartners bestehen bleibe, während Hirschfeld das Konzept der Androgynität (Männliches und Weibliches in einer Person) vertrat. Blüher war also ein Anhänger der Theorie der Bisexualität, der zufolge die Wahl eines Sexualobjekts des eigenen oder fremden Geschlechts möglich ist; ohne daß die männliche oder weibliche Geschlechtsidentität deshalb zur Diskussion stehe. Auf den Mann bezogen bedeutet dies: Die gleichgeschlechtliche Objektwahl läßt als solche nicht den Schluß zu, daß der Betreffende unmännlich oder gar neurotisch sein muß.

Das ist eine zentrale These, die Blüher in seinem Buch über die „männliche Gesellschaft“ (1917-19) verteidigt: Es mag neurotische Homosexuelle geben - doch nicht alle Homosexuellen sind neurotisch. Homosexualität als solche ist völlig normal, Ausdruck eines Teils der menschlichen Erotik, der zu allen Zeiten zum Aufbau der kultureller Institutionen, u.a. zum Aufbau des „Staates“, beigetragen habe. Die gesellschaftliche Ächtung und die dadurch erzwungene Verdrängung homosexueller Erotik wirkten pathogen, meint Blüher. Damit widerspricht er auch Freud, der die homosexuelle Objektwahl beim Kind zwar als normale Zwischenstufe der Entwicklung, beim Erwachsenen jedoch als pathologisch, d.h. als Fixierung der infantilen Entwicklungsstufe (bzw. als Regression zu dieser Stufe) auffasste, während er die heterosexuelle Objektwahl als Bestandteil gelungener Entwicklung zur „Reife“ begriff.

Mit seiner wertfrei-akzeptierenden Einstellung gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Eros vertritt Blüher einen aufgeklärt-progressiven Standpunkt. Dabei ist er mit Hirschfeld der Meinung, daß homosexuelles Begehren angeboren sei, jedoch – so Blüher - bei allen Menschen, nicht nur bei den Menschen, die – laut Hirschfeld - zu sogenannten „Zwischenstufen“ gehören. Mit Freud ist Blüher der Auffassung, gleichgeschlechtliches Begehren sei normal – anders als Freud meint er jedoch, dies gelte nicht nur während einer infantilen Entwicklungsphase, sondern während der gesamten Lebenszeit. Freud beschreibt den Unterschied zwischen seiner eigenen und Blühers Auffassung in einem Brief an Blüher vom 10. Juli 1912 folgendermaßen: „Die theoretische Differenz zwischen uns ist wirklich nicht mehr groß. Doch meine ich, daß Sie durch die Berücksichtigung des Verhältnisses der Inversion zur Impotenz gegen das Weib zu einer Modifikation Ihrer Einschätzung der Inversion genötigt würden. Ich kann sie nicht voll normal nehmen, da sich das Stück Entwicklungshemmung in ihren Bedingungen leicht aufzeigen läßt" (Freud - zit. n. Blüher 1984, 59).

Jahre später geschriebenen Brief an Werner Achelis vom 30. 1. 1927 zeichnet Freud seine Differenz zu Blüher dann allerdings mit sehr scharfen Strichen: „(...) zwei Welten, die durch eine nicht überbrückbare Kluft getrennt bleiben“ (Freud 1980, 389). Diese Distanzierung hatte auch damit zu tun, daß Blüher zwischenzeitlich antisemitische Pfeile gegen Freud abgeschossen hatte: „Die Juden erzeugen oft große Gelehrte, die wichtige Entdeckungen machen (...). Beispiel einer solchen Entdeckung: die des Juden Sigmund Freud. Sie ist richtig und hat großes Format: sowie man sie aber am Phänomen der Liebe mißt, tritt ihr korruptiver Grundcharakter (sie ist reiner Materialismus) unabweisbar zutage. Diese Gedankengänge werden erst fruchtbar, wenn sie durch ein deutsches Gehirn gehen, das imstande ist, ihrem tückischen Urgrunde Widerstand zu leisten“ (Blüher 1922, 23f.). Und in einem Brief aus dem Jahr 1923, den er an Erich Leyens, jüdisches Mitglied der Jugendbewegung, schrieb, verurteilte Freud Blüher ebenfalls entschieden. Er rechnete ihn jetzt zu jenen „‚Geistes’-Strömungen in Deutschland“, gegen die es sich nicht zu kämpfen lohne, denn: „Volkspsychosen sind gefeit gegen Argumente (...). Blüher ist einer der Propheten dieser aus den Fugen geratenen Zeit. Gewiss nicht der respektabelste unter ihnen. Mit der analyt. Wissenschaft hat er nichts zu tun (...). Wenden Sie sich doch den Dingen zu, die den Juden über alle diese Tollheiten erheben können und - nehmen Sie mir den Rat als Niederschlag eines langen Lebens nicht übel! - drängen Sie sich den Deutschen nicht auf“ (Freud zit. n. Neubauer 1996, 131).

Freuds Ansichten zur Homosexualität kritisierte Blüher stets nur partiell. Er will vor allem den männlichsten aller Männer, den „Männerhelden“, also die von ihm so sehnsuchtsvoll gezeichnete Vatergestalt, vom Makel befreit wissen, als auf eine infantile Entwicklunsstufe fixierter Neurotiker zu gelten. Der Held darf unter keinen Umständen „krank“ sein; er muß „gesund“ sein. Wie könnte er sonst ein Ideal verkörpern?

„Durch alle Völker geht die Sage vom motivlosen Helden, der nur für das Gute kämpft und keinerlei Nebenabsichten hegt. Diese Göttersöhne sind an den Himmel gesetzte Lieblinge der Männer“, heißt es idealisierend bei Blüher (1917, 246 - Kapitel VII: Das Bild des Helden).

Blüher erhebt deshalb Einspruch gegen Freud, dessen Standpunkt eine Korrektur am Ideal der „Göttersöhne“ nötig machen würde: „Freud meint also, es gäbe eine Pathogenese der Homosexualität in unbedingter Form. Aber ich kann sie für diesen Typ, den Männerhelden, nicht annehmen, man müßte dann mit demselben Rechte sagen: es gibt auch eine Pathogenese der Heterosexualität; jedenfalls ist die Ontogenese beider völlig die gleiche. Wenn Freud meint, die Entwicklungshemmung ließe sich bei den Invertierten leicht nachweisen, so darf ich dies wohl im Sinne seiner Sexualtheorie so verstehen: daß der junge Mann mit dem nach der Pubertät einsetzenden Schwanken zwischen den beiden Geschlechtern nicht fertig wird, das normale Sexualziel (bei Freud: Sexualobjekt! - B. N.) Weib verfehlt und daher invertiert (...). Aber einen solch allgemein gültigen Hemmungspunkt hat man bisher, soviel ich weiß, nicht gefunden (...). Es kann daher zunächst niemand von einer prinzipiellen Pathologie der Inversion sprechen, sondern höchstens (und dies mit Recht) von einer partiellen“ (Blüher 1924, 59f.).

Die Pathologie der Inversion ist nicht „prinzipiell“; sie kann allenfalls „partiell“ bestehen. Und sie kann und soll deshalb nicht grundsätzlich anders als bei Heterosexuellen aufgefaßt werden. In beiden Fällen gebe es gesunde Entwicklungsverläufe. Homosexualität an sich sei deshalb keine Krankheit: „Die Mediziner (lies: Freud - B. N.) verstehen nichts davon (...). Der Grund aber, weshalb ich die medizinische Litteratur darüber (über den gleichgeschlechtlichen Eros - B. N.) für minderwertig erkläre, liegt darin, daß die Mediziner stets nur die Fälle zu Gesicht bekommen haben, die erkrankt waren. So etwas gibt es natürlich. Wer zur Natur nicht ja sagt, wird krank (...). Aber es ist kein haltbarer Standpunkt, ein Phänomen von seinen krankhaften Fällen her zu untersuchen und dabei als ‚Norm’ die statistische Mehrheit zugrunde zu legen“ (Blüher 1953, 91).

Bei dieser Beurteilung wird eine Eigenart Blühers erkennbar, die ihn immer wieder dazu zwingt, Richtiges mit Falschem so zu kombinieren, daß am Ende reaktionäre Standpunkte resultieren: Blüher ist gegenüber der gleichgeschlechtlichen Liebe tolerant - und doch bleibt er intolerant gegen das, was er (mit anderen Konventionalisten) als „krank“ klassifiziert. Seine „Männerhelden“ dürfen nicht „krank“ sein. Sie müssen in besonderer Weise „gesund“ sein. Und das macht sie in einer besonderen Weise wieder krank: Sie leiden – wie Blüher - an der Krankheit der Idealität. Diese Krankheit ist gefährlich, weil sie als Gesundheit auftritt und weil sie aus Schwärmern leicht Bestien werden läßt, die vernichten müssen, was sie nicht sein wollen: das „Kranke“. Sie sondern sich vom „Kranken“ ab, weil sie unfähig sind, sich mit Schwächen an sich selbst und bei anderen zu versöhnen.

Für Blüher gibt es – anders als für Freud - nur starre (ideale) Gegensätze. Daß „krank“ und „gesund“ konventionelle Festschreibungen sind, also Gegensätze, denen in der Realität, die aus Abstufungen und „Zwischenstufen“ besteht, wenig entspricht; und daß es deshalb überhaupt niemanden geben kann, der nicht täglich mehrfach das eine oder das andere - gesund und krank, männlich und weiblich – wäre, das will Blüher nicht in den Kopf. Also begegnet er dem „Gesunden“ mit Hochachtung und dem „Kranken“ mit Verachtung. Und so schildert er auch einen Besuch im „Klub der Entarteten“ - wie Blüher die Gesellschaft im Hause Hirschfelds nennt. Dort trifft er auf ein buntes Volk jenseits starr definierter Grenzen. Er sieht Transvestiten, ja gar einen „Unteroffizier“ in „Frauenkleidung“ (Blüher 1953, 333f.). Diese Gesellschaft entspricht nicht der feinen aristokratischen Gesellschaft, zu der sich Blüher zählt. Mit Grauen und Ekel wendet er sich Bild ab.

Nur wenige Seiten vor dieser Beschreibung der bei Hirschfeld versammelten „Degenerierten“ beschreibt Blüher in seinen Lebenserinnerungen einen anderen Kreis, dem er gern beigetreten wäre, zu dem er jedoch keinen Zutritt erhielt. Über Heinrich von Gleichens „Deutschen Herrenklub“ heißt es da: „Alle meine Gesinnungen stimmten mit denen dieses höchststehenden deutschen Gesellschaftsgebildes, das einen konservativen Standpunkt vertrat, überein. Zu ihm gehörte die eigentliche Blüte des damaligen Deutschtums zwischen den beiden Weltkriegen. Hindenburg verkehrte dort, der märkische Adel, die westdeutsche Industrie; Mitglieder des königlichen Hauses, hohe katholische Würdenträger, Äbte der berühmten Benediktiner Abteien, auch protestantische Geistliche waren ständige Gäste oder Mitglieder; der spätere Reichskanzler v. Papen ging aus diesem Kreise hervor (...). Die jährlichen Stiftungsfeste des Klubs waren eine Versammlung der deutschen Elite (...). Frauen hatten keinen Zutritt; es war also wirklich ‚Staat’, was hier gedacht und gehandelt wurde. - Um diesen Deutschen Herrenklub hatte ich immerhin einige Verdienste. Trotzdem war es nicht möglich, für mich die Mitgliedschaft zu erwerben (...). Ich muß gestehen, daß ich das oft recht bitter empfunden habe“ (1953, 328f.).

Im „Klub der Entarteten“ wollte Blüher keinen Platz finden – und im „Deutschen Herrenklub“ konnte er keinen Platz finden. Man kann Blühers Bitternis also verstehen. Und es ist wohl auch zu verstehen, wenn er seinen Selbsthaß - der durch die Zurückweisung, die Kränkung, nur noch gesteigert wurde - nicht gegen die Idealen (die Idealisierten) richtete, sondern gegen die Nicht-Idealen, zu denen er auf keinen Fall gerechnet werden wollte. Deshalb distanzierte sich Blüher ausdrücklich: von jenen, zu denen er von der feinen Gesellschaft insgeheim doch gerechnet wurde. Ein Ausweg blieb immerhin offen: der Weg in die Welt literarisch-philosophischer Hirngespinste, in der er sich seine eigene Adelsgesellschaft - die „männliche Gesellschaft“ - erschaffen konnte: Hier ist „der Adel (...) nicht durch Satzung da, sondern von Natur“ aus gegeben (1919, 222).

Was also ist das Wesentliche der idealen Gesellschaft, die das Adelsprädikat „Männerbund“ trägt? Im Bund der Reinen gibt es keine Frauen. Diese Reinheit verdankt sich dem Ausschluß der Unreinen. Offensichtlich handelt es sich um eine Gemeinschaft, die nicht in der Sünde der Differenz lebt. Das Konzept der Reinheit setzt also die Differenz voraus, die vernichtet werden muß. Vernichtung ermöglicht Reinheit. So triumphiert Reinheit. So siegt das Gute über das Böse. So lebt das Gute von der Vernichtung des Bösen. So gibt es keinen Himmel - ohne Hölle auf Erden. Und es gibt auf Erden keine Liebe ohne Haß, keinen Geist ohne Fleisch, keinen Körper ohne Schweiß. Also kann es auf Erden keine Liebe zum Körper ohne Liebe zum Körpergeruch geben. Geruchlose Liebe - das also ist die Fiktionen der Reinen, die sich nicht riechen können.

Philistertum, das sich als ideales Weltbürgertum spreizt, lebt von der Projektion des Selbsthasses und dem Wunsch die „Unreinen“ zu vernichten. „Obskurantismus ist die Gefahr aller Zeiten, deren Begierde das Absolute ist“ (Thomas Mann 1923). Blüher weiß das sehr genau: daß es keine motivlosen, keine „reinen“ Handlungen geben kann. „Handlungen aus reiner Vernunft kommen (...) nicht vor“, schreibt er. Also kann es auch keine interesselose Moralität geben. Die „Unmöglichkeit unegoistischer Handlungen“ (1917, 241) wäre demnach vorauszusetzen. Dennoch habe sich die Menschheit immer Träger unegoistischer Taten gewünscht, also Helden phantasiert, die aus unegoistischen Motiven handeln. Das wären Idealgestalten, Halbgötter, Heroen- wie Blühers „Männerhelden“.

Die Figur des Helden - das ist also die phantasierte Erfüllung eines Wunsches. Blüher weiß auch das: Die „Heldenphantasie ist eine religiöse Phantasie“ (1917, 242). Die Sehnsucht nach Helden entspringt einem kindlichen Bedürfnis. Der Held wird aus der kindlichen Phantasie geboren. Der Phantast, der anders zu sein wünscht, als er (vorerst) ist, phantasiert sich (vorerst) als Held. Dieser Held - das ist der Knabe, der sich „aus der weichlichen und schwülen Beziehung zur Mutter“ lösen muß. Er will er erwachsen werden. Also muß er auf die Mutter verzichten. Für diesen Ablösungsprozeß benötigt er einen Führer, ein Vorbild, eine Idealgestalt, an die er sich anlehnen kann; der er sich zuwenden kann, um den Schmerz der Trennung zu bewältigen.

Also sucht der Sohn in der Zeit der Ablösung und des Übergangs nach einem Mann, den er bewundern, nach einem Vater, mit dem er sich identifizieren kann. Die Sehnsucht des heldensüchtigen Sohnes, der Mann werden will, gilt einer väterlichen Gestalt: „Unter dem Eindruck dieser Liebe sind Kinder schon zu Höchstleistungen fähig und werden gezwungen, so tapfer und tüchtig zu sein, wie es nur immer möglich ist“ (Blüher 1917, 242). Der „typische Mechanismus lautet: man will vom Helden geliebt werden und leistet darum ‚selbstlose’ Taten“ (1917, 246).

Diese Liebe des Knaben zum väterlichen Mann kehrt wieder in der ehrfurchtsvollen Schwärmerei des Jünglings, in der erotischen Demut des Geführten, in der Unterwerfungsbereitschaft gegenüber einem Führer. In der phantasierten Verschmelzung mit diesem Helden-Führer werden dann „selbst“-lose Taten möglich, denn der Schwärmer gibt sein Selbst tatsächlich auf. Er übergibt es dem Führer und übernimmt von ihm die Größe wie den Maßstab für Gut und Böse, Gesund und Krank, Rein und Unrein.

Es ist nicht auszuschließen, daß Freud bei der Abfassung von Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) auch von Blühers Werk über die „männliche Gesellschaft“ (1917/19) inspiriert wurde. Blüher (1924) lobte das Führerprinzip auch später ausdrücklich. Freud beließ es hingegen bei der Analyse der entsprechenden Sehnsüchte und folgte Blühers weiterreichenden pseudoreligiösen Schwärmereien nicht. Er analysierte die Krankheit der Idealität, die mit der Bereitschaft einhergeht, sich aufzuopfern (und andere zu Opfern zu machen), anhand zweier klassischer Männerbünde. Am Beispiel des Heeres und der (katholischen) Kirche zeigte Freud, wie infantile Abhängigkeits- und Erlösungsbedürfnisse zur Identifikation mit Führergestalten und zum bedingungslosen Gehorsam ver-führen.

Auch Thomas Mann (1922) hat Blüher gelesen. Dessen Lob der „männlichen Gesellschaft“ stimmte Mann weitgehend zu: „Ich will es wagen, in diesem Zusammenhange, der ein politischer Zusammenhang bleibt, mit aller gebotenen Behutsamkeit und Ehrerbietung von dem besonderen Gefühlsbezirk zu reden (...): ich meine jene Zone der Erotik, in der das allgültig geglaubte Gesetz der Geschlechtspolarität sich als ausgeschaltet, als hinfällig erweist und in der wir Gleiches mit Gleichem, reifere Männlichkeit mit aufschauender Jugend, in der sie einen Traum ihrer selbst vergöttern mag, oder junge Männlichkeit mit ihrem Ebenbilde zu leidenschaftlicher Gemeinschaft verbunden sehen“ (1922, 47). Thomas Mann versuchte nun aber, den homoerotischen Männerbund vor reaktionärer Vereinnahmung zu bewahren. Mit implizitem Verweis auf Blüher schrieb er: „Eros als Staatsmann, als Staatsschöpfer sogar ist eine seit alters vertraute Vorstellung, die noch in unseren Tagen aufs neue geistreich propagiert worden; aber zu seiner Sache und Parteiangelegenheit durchaus die monarchische Restauration machen zu wollen, ist im Grund ein Unfug. Die Republik vielmehr ist seine Sache (...)“ (1922, 48).

Der Männerbund sei ursprünglich in Abgrenzung von der Mutter-Frau entstanden, meint Blüher. Man kann Blühers Männerbund demnach auch als Bollwerk gegen Ängste und Wünsche verstehen: gegen die Wiederkehr der verdrängten Weiblichkeit des Sohnes und als Schutz vor dem Wunsch des Sohnes nach Rückkehr zur Mutter (zum Weib als Mutter). Der Männerbund wäre - so gesehen - eine Abwehrorganisation, die sich gegen Regression richtet. Im Männerbund werden Wünsche in Schach gehalten, die im Mann wach werden (könnten), sobald er sich auf eine (zu) enge Beziehung zu einer Frau einläßt. In diesem Fall (in dieser Falle) könnte der Mann seine mühsam erworbene Männlichkeit, seine Heldenexistenz, wieder verlieren, wieder zum Kind werden wollen. Also muß sie nun kriegerisch verteidigte werden. Also wehrt sich Blüher nicht eigentlich gegen die Frau, sondern gegen Regressionswünsche, die er in sich selbst spürt, wenn er meint, man(n) müsse die Frauen auf Distanz halten, um Mann bleiben zu können.

Blüher weiß, wovon er redet, wenn er von Frauen redet: „Wer im Bunde ist, kann nicht sinken: von dieser Zuversicht sind alle getragen. Wodurch aber sank der Mann bisher am leichtesten (...)? Wo lagen seine bittersten Gefahren? Bei seiner geliebten Todfeindin, der Frau. Wehe dem Manne, der einer Frau verfiel! Wehe der Kultur, die sich den Frauen auslieferte! - Es ist eine gerechte und der Natur angemessene Sache, daß die Frau sich hingibt, aber der Mann, der sich hingibt, ist verloren (...). Die Frauen trachten ewig danach, einen Mann ganz zu besitzen. Jene Falltür ins Nichts, die an einer sehr gut geheimgehaltenen Stelle ihres Wesens verborgen liegt, verlangt nach einem Opfer. So gehen die meisten Männer an ihren Frauen zugrunde. Sie wollen aus Mitgefühl und helfender Gesinnung jenen edlen Hunger nicht dulden, der die Frauen so köstlich macht, und wollen sie sättigen. Ist das je einem Manne gelungen, ohne daß er daran selber verdarb?" (Blüher 1919, 221).

Die Angst vor Regressionswünschen zwingt den Mann dazu, ein Held zu werden. Als Held ist der Mann dann - scheinbar - ein Mann, der sich in jeden Abgrund stürzen kann, ohne sich zu verlieren. Als Held bewahrt der Mann seine Identität im Kampf gegen jedes Ungeheuer der Phantasie; ja er gewinnt seine Identität als Held gerade in diesem Kampf.

Lesen wir Blühers Werk über Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft also mit einem mitleidenden Herzen. Denn hinter dem Schwulst, der Blühers „Männerhelden“ umgibt, ist eine Angst zu erkennen, die in allen Männern (und keineswegs nur in Männern) steckt. Lesen wir Blühers Buch also mit wachem Verstand. Denn erst die (selbst-)erkannte, verstandene und akzeptierte Angst bewahrt davor, im Namen von Idealen mörderisch zu reagieren.

Das Bedürfnis nach orgiastischer Entgrenzung bei gleichzeitigem Entsetzen vor dem Entgrenzenden – vor dem „Nichts“ im Weib – verlangt nach Koordinaten, nach Fixsternen am Firmament unserer Phantasie: der Staat, der Führer, der „Männerhel“, das sind solche Fixsterne, Garanten unserer Ich-Grenzen, die wir mit Drill verinnerlicht haben und die wir mit Disziplin aufrecht erhalten wollen. Alos reagieren wir mit mörderischer Wut gegen alles und alle, die diese Rüstung angreifen; gagen alle, die sich ein „leichtes“ Leben machen. Und deshalb verehren wir den Führer, der uns hilft, rauschhafte Entgrenzung zu erleben und gleichzeitig die harte Rüstung aufrecht zu erhalten. Das ist das „Kunst“-Stück des Führers, der die Ich-Grenzen der Geführten gleichzeitig auflöst und befestigt. Dafür ist der Führer von Stefan George (1934, 9) mit hymnischen Worten gepriesen worden:

Der du uns aus der Qual der Zweiheit löstest

Uns die Verschmelzung fleischgeworden brachtest

Eines zugleich und Andres: Rausch und Helle.

Literatur

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Herzer, M. (1992): Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. Frankfurt a. M. (Campus)

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Dieser (hier leicht überarbeitete) Beitrag ist erstmals erschienen in:

Gegenwart - Zeitschrift für ein entspanntes Geistesleben, Heft 31, 1996, S. 30-33.