Bernd Nitzschke

Erinnerungen an die Zukunft & ungelöste Rätsel der Gegenwart.

Ein 68er wird achtundsechzig und schaut nach vorn zurück

 

1. Ach, wie schön war Panama, aber sonst war’s nicht immer lustig

1968 erschien ein Buch mit dem Titel: „Erinnerungen an die Zukunft. Ungelöste Rätsel der Vergangenheit.“ Der Verfasser war ein mehrfach vorbestrafter Kellner, der beim Hotel Ascot, Zürich, großen Eindruck gemacht hatte: „...wir können ihn fachlich als sehr guten Kellner bezeichnen“ (http://tatjana.ingold.ch/index.php?id=sowares). Das Buch wurde ein Bombenerfolg. Der Mann war jetzt Auflagenmillionär. Damit schien die Zeit vorbei zu sein, in der er sich mit irdischen Problemen herumzuschlagen hatte. Doch nun kam die Staatsanwaltschaft dem Mann, der den Außerirdischen auf die Schliche gekommen war, noch einmal auf die Schliche. Und so wurde Erich von Däniken abermals verurteilt.

 Mehr Verständnis für den famosen Kellner zeigte Gerhard Mauz, der 1970 im Spiegel über den Prozess schrieb: „Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihn der Erfolg seiner Bücher in die Lage setzte, seine Verpflichtungen in Höhe von zirka 400 000 Schweizer Franken […] zu erledigen, hat er einen immer größeren Tisch mit einem immer kleineren Tischtuch zu bedecken versucht. Doch schon das Ausmaß seiner Schulden auf dem Höhepunkt verbietet die These vom ‚Großbetrüger’, die der Psychiater Weber für angebracht hält. Schweizer Affären der jüngeren Vergangenheit sollten eine gewisse Gelassenheit gegenüber 400 000 Schweizer Franken zulassen.“

 Das ging aber nicht, denn 1968 war ein aufgeregtes Jahr. Das war das Jahr, in dem das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger, Kanzler aller Deutschen (West), geohrfeigt wurde. Da fragten sich viele anständige Menschen: … und wo bleibt die Gelassenheit? Und auch sonst war vieles beim Alten geblieben. In Spanien und Portugal zum Beispiel. Dort regierten die Faschisten noch immer – als verlässliche Partner des freien Westens. Es gab aber auch Neues. In Griechenland zum Beispiel. Dort hatten sich im April 1967 unter Rückgriff auf die Pläne der NATO zum Schutz vor kommunistischer Subversion die Obristen an die Macht geputscht. Sie sorgten für neue Ordnung.

 Da gab es einiges zu tun. Es mussten Maßnahmen zum Schutz der Jugend ergriffen werden. Denn die schickte sich damals – nicht nur in Griechenland – an, die Geschlechterordnung auf den Kopf zu stellen. Die Mädels hatten Anita Eckberg und die anderen Busenwunder der 1950er Jahre hinter sich gelassen und sahen jetzt aus wie Knaben. Das flachbrüstige Model Twiggy war so ein Mädel. Und auch der Mini-Rock, den Mary Quant 1962 kreierte– zwei Jahre nach der Erfindung der Antibabypille, mit der die Moral vollends verloren ging –, gefiel den Obristen nicht. Da hatten sie den Heiligen Vater auf ihrer Seite. Er protestierte 1968 mit der Enzyklika Humanae Vitae gegen die Pille, durch die „Aufzucht“ und „Unzucht“ erstmals sicher zu trennen waren. Und die Jungs: die sahen 1968 aus wie Mädels! Sie hatten lange Haare. Das gefiel den Obristen erst recht nicht. Und deshalb befahlen sie: „kurzgeschnittene Haare“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Griechische_Milit%C3%A4rdiktatur).

Ja, 1968, das war ein Jahr, in dem die Ordnung der Welt auf dem Spiel stand. Wie und wo das war, das kann man in Ruhe nachlesen (Harman 2008). In Südafrika zum Beispiel – dort mussten weiße Farmer noch immer gegen schwarze „Terroristen“ ankämpfen. Und in den Südstaaten des freien Westens – genauer gesagt: in Alabama, USA – erdreisteten sich die Schwarzen gar, das Recht der freien Platzwahl in Überlandbussen nun auch noch für sich selbst in Anspruch nehmen zu wollen. Und in Prag! Da standen 1968 die Jahreszeiten Kopf. Da ging der Frühling erst im August zu Ende, nachdem die „Bruderarmeen“ des Warschauer Pakts wieder für eisige Zeiten gesorgt hatten. Zwei Monate später musste das Militär erneut eingreifen. Das war diesmal aber nicht in Prag, sondern in Mexiko-Stadt. Dort demonstrierten kurz vor Eröffnung der XIX. Olympischen Sommerspiele auf der Plaza de Tlatelolco die Studenten. Danach lagen Hunderte von ihnen tot am Boden, erschossen von Geheimpolizisten oder niedergewalzt von Panzern. Wer erinnert sich noch daran? Die freie Presse des Westens erinnert sich lieber an das Massaker, das zwei Jahrzehnte später auf dem Tian’anmen-Platz in Peking stattfand.

Vergessen sind inzwischen auch die beiden Afroamerikaner, die für ihr Land – die Vereinigten Staaten von Amerika – bei der Olympiade in Mexiko den 200m-Lauf gewannen. Bei der Siegerehrung streckten sie eine Faust mit schwarzem Handschuh, Symbol der Bürgerrechtsbewegung, gen Himmel, um auf den alltäglichen Rassismus in ihrer Heimat aufmerksam zu machen. Das nahm man ihnen übel. Man warf sie aus dem US-Olympiakader.

Unruhig war es am 4. April 1968 auch in Memphis, Tennessee. Da wurde – gerade noch rechtzeitig – der Bürgerrechtler Martin Luther King erschossen. So ließ sich verhindern, dass er sich am bevorstehenden Poor Peopl’s March auf Washington beteiligen konnte. Im Mai 1968 errichteten dann die Studenten in Paris Barrikaden. Die französischen Gewerkschaften riefen den Generalstreik aus. Und im Juni 1968 wurde Robert F. Kennedy erschossen. Er hatte gerade eine Vorwahl gewonnen und galt nun als aussichtsreichster Kandidat der Demokratischen Partei für die bevorstehende US-Präsidentschaftswahl. Damit war’s jetzt nichts mehr.

 

Apropos US-Präsidentschaft: der spätere Amtsinhaber, George W. Bush, war 1968 vierundzwanzig Jahre alt. Und man glaubt es kaum – er gehörte damals auch zu den Kriegsdienstverweigerern! Er ließ sich als Pilot der Texas Air National Guard ausbilden und kam so – wenn er nicht gerade (alkohol-)krank war – an der Heimatfront zum Einsatz. Ein Jahr zuvor hatte Muhammad Ali, Weltmeister im Schwergewichtsboxen, den Kriegsdienst in Vietnam ebenfalls verweigert. Er tat das aber ganz offen, anstatt sich, wie Bush jr., klammheimlich zu verdrücken – und deshalb konnte man dem Afroamerikaner den WM-Titel auch ganz offen aberkennen, anstatt ihm die Boxlizenz unter einem Vorwand entziehen zu müssen. Es war notwendig, ein Exempel zu statuieren, denn heftiger als in Griechenland, Südafrika, Mexiko-Stadt oder Alabama war die Ordnung der freien Welt jetzt in Vietnam bedroht. Dort versuchte die US-Army gerade Licht in den Dschungel zu bringen – mit Hilfe von Agent Orange. Das heißt: man entlaubte mit Dioxinen die Wälder, um freie Sicht und Schussbahn zu bekommen. Also vergiftete man den Boden, das Grundwasser und das menschliche Erbgut – und deshalb kommen in Vietnam noch heute missgebildete Kinder zur Welt.

All die Bomben und die vielen Tonnen Chemie konnten die Tet-Offensive des Vietcong und der Nordvietnamesen nicht verhindern. Das war im Januar 1968. Und schon einen Monat später, im Februar 1968, rotteten sich dann im freien Teil Berlins die Antiamerikaner aus aller Welt zusammen – darunter viele prominente US-Amerikaner (zum Beispiel Herbert Marcuse). Das Motto der Tagung lautete: Der Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus. Das war eine prophetische Wortwahl, ist es doch nur ein Katzensprung von der Globalstrategie zur Globalisierung. Das passende Buch war ein Jahr zuvor auf Deutsch erschienen: Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam (1967). Der Autor, der diese Parole in die Tat umzusetzen versucht hatte, war 1968 schon nicht mehr am Leben. Eine lokale Söldnertruppe hatte ihn, unterstützt von CIA-Agenten, im Oktober 1967 in den bolivianischen Bergen aufgespürt. Danach wurde der unbewaffnete Gefangene – es war Ernesto Guevara de la Serna, genannt „Che“ – ohne Gerichtsverfahren abgeknallt. Damit hatte die US-Army einen lebenden Feind weniger – und die Kritiker des US-Imperialismus haben seither im „vollkommensten Mensch unserer Zeit“ (Jean Paul Sartre über „Che“) eine Ikone mehr.

Nach dem Februar 1968 kam der März 1968. Da veranstaltete Lieutenant William Laws Calley Jr. ein kleines Massaker. Nachdem er und seine Leute einen Teil der Bewohner des vietnamesischen Dorfes My Lai liquidiert hatten, zogen sie zu einem Bewässerungsgraben weiter. Dort harrten die überlebenden Dorfbewohner ihres Schicksals. „Mehrere GIs stießen die Menschen in den Graben oder prügelten sie mit ihren Gewehrläufen hinein, Calley erschoss ein zweijähriges Kind […], schlug und erschoss einen Mönch [… und] tötete eine Frau, die auf einer Trage zum Graben gebracht worden war.“ Dann stellten die GIs „ihre M-16 auf Automatik, einer bediente ein Maschinengewehr, ein anderer warf Handgranaten […]“(Greiner 2008, S. 337). Schließlich waren fünfhundert Zivilisten tot. Und weil alle Vertuschungsmanöver nicht ausgereicht hatten, wurde Lieutenant Calley jr. schließlich doch noch vor Gericht gestellt. Er erhielt eine lebenslange Haftstrafe. Das war am 31. März 1971. Drei Tage später ließ US-Präsident Nixon die Haftstrafe in Hausarrest umwandeln. Und drei Jahre später begnadigte Nixon – er hatte den passenden Spitznamen Tricky Dick (s. auch: Frank Zappa: „Dickie’s Such An Asshole“) – den Schlächter von My Lai. Damit war Calley jr. wieder ein freier Mann im freien Westen.

Andere Vietnam-Kriegsverbrecher brauchten nicht auf Begnadigung zu warten. Ihre Taten wurden erst gar nicht verfolgt. Das gilt für die vielen GIs, die sich in Vietnam an der systematischen Vergewaltigung von Frauen beteiligten, eine Kriegstaktik, die in der US-Army „als inoffizielle ‚Standing Operation Procedure’“ bekannt war. Dabei schreckten die Täter vor keiner Grausamkeit zurück. „Individuelle Gewaltakte stehen neben Massenvergewaltigungen, rituelle Inszenierungen vor Publikum neben der heimlichen Tat […].“ Dokumentiert sind „Entführungen, in deren Verlauf junge Mädchen und Frauen unter Drogen gesetzt und tagelang missbraucht wurden“, bevor man sich ihrer durch Mord entledigte (Greiner 2008, S. 223).

Was damals versäumt wurde, das holte man später – gewissermaßen symbolisch stellvertretend – dann doch noch nach. Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der von den USA nicht anerkannt wird, wenn es um Verbrechen der US-Army und deren Söldner geht, wurde Anklage erhoben wegen der von Serben begangenen Massenvergewaltigungen und anderer Verbrechen, die während der Balkankriege in den 1990er begangen wurden. Eine Klage, die gegen die NATO-Staaten eingereicht worden war, die Serbien 1999, ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrats dafür zu haben, bombardierten, wurde abgeschmettert. Sie seien in diesem Fall nicht zuständig, meinten die Richter. Das war schon deshalb richtig, weil die Bombardierung Serbiens durch höheres Recht gedeckt war, wie ein ehemaliger Jung-68er, der seinerzeit nur Steine auf Polizisten – oder Konfetti in die Luft? – geworfen hatte, als Alt-68er Außenminister wissen ließ, nachdem er im Verein mit zwei Sozialdemokraten – einem Bundeskanzler (Schröder) und einem Verteidigungsminister (Scharping) – Bomben (auf Serbien) hatte werfen (lassen) können. Die Vorväter hatten gereimt: „Serbien muss sterbien.“ Näheres bei Bittermann (1994). Und Enkel Joseph zog einen Schluss. „Ich habe gelernt: Nie wieder Auschwitz“ (Fischer 2005)  

2. Gelernt ist gelernt. Und wer nichts gelernt hat, bleibt sitzen

Es heißt: „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“. Wie ist das zu verstehen? Das bedeutet: Gestern ist nicht Heute. Und heute ist manches anders als gestern. Das war 1968 auch so. Da konnte man sich abends als Antiautoritärer ins Bett legen und wachte am nächsten Morgen als Mitglied einer autoritären Polit-Sekte wieder auf. Und schon konnte man strammstehen. Man musste sich gar nicht ändern. Man musste nur mit der Zeit gehen. Mit der Zeit ändert sich jeder. Und doch kann man sich dabei so treu bleiben wie der „Schmieren- und Kitschaggressor“ Wolf Biermann (Wiglaf Droste in der Süddeutschen Zeitung vom 09.04.2005), der sich immer treu geblieben ist: ein Bourgeois, der von sich behauptet, keiner zu sein.

1965 besang Biermann Väterchen Stalins Republik – und zwar sehr deftig: Die DDR, mein Vaterland / Ist sauber immerhin / Die Wiederkehr der Nazizeit / Ist absolut nicht drin / So gründlich haben wir geschrubbt / Mit Stalins hartem Besen. Und weil er das Geld, das er 1972 für den Fontane-Literatur-Preis erhalten hatte, an Rechtsanwalt Horst Mahler überwies, wurde er gefragt, ob er es nicht bedauern würde, wenn das Geld in der RAF-Kasse landen würde. Seine Antwort: „[…] aber Sie erwarten doch sicherlich nicht von mir, daß ich mich von der Roten Armee Fraktion distanziere? Ich will nicht in den Orden linker Hoher Priester aufgenommen werden, die der Baader-Meinhof-Gruppe ihren Segen vorenthalten. Lenin hat gesagt, daß der erste Schuß erst abgefeuert werden darf, wenn die Revolution beginnt. Die Kommunisten in der Baader-Meinhof- Gruppe werfen ihr Leben in die Waagschale für die Antithese“ (https://socialhistoryportal.org/raf/5342 und auf dieser www-Seite dann weiter klicken unter: PDF: 0019720610.pdf) Und es gab noch einen, der sein Leben in die Waagschale geworfen hat, die Biermann stets zielsicher vermied. Das war der „Comandante Che Guevara“. Und so blieb es auch ihm nicht erspart, von Biermann besungen zu werden – und zwar sehr heftig: „Und bist kein Bonze geworden / Kein hohes Tier, das nach Geld schielt / Und vom Schreibtisch aus den Held spielt. […] Jesus Christus mit der Knarre / – so führt Dein Bild uns zur Attacke.“ Das tat Biermann 2003 an der Seite von Bush & Blair auch: Er blies zur Attacke, hetzte zum Irak-Krieg auf – und blieb zuhause sitzen.

Ach ja, die Bourgeoisie! Sie lässt „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig […] als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung’. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung […] in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten […] in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt“ (1848/2008, S. 93). Und schließlich hat sie einen Bänkelsänger käuflich erworben! Das konnten Karl Marx und Friedrich Engels nicht wissen, denn als das Manifest der Kommunistischen Partei 1848 erschien, da gab es den Biermann, vormals Ostberlin, noch nicht, der 1968 Mit Marx- und Engelszungen trällerte:

Drei Kugeln auf Rudi Dutschke

Ein blutiges Attentat

Wir haben genau gesehen

Wer da geschossen hat […]

Die Kugel Nummer Eins kam

aus Springers Zeitungswald

Ihr habt dem Mann die Groschen

Auch noch dafür bezahlt […]

Dreißig Jahre später ging es nicht mehr nur um Groschen; jetzt ging es um eine Handvoll Dollar mehr. Jetzt enteignete der Biermann den Springerverlag auf seine Weise. Jetzt bezog er die Groschen, die er brauchte, um die Welt musikalisch begleiten zu können, als „Chef-Kulturkorrespondent“ der Springer-Zeitung „Die Welt“. „Man darf auch die ganze Drecksarbeit nicht der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen“, hatte seinerzeit eine der Springer-Zeitungen gemahnt. Das war vor dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke. Nach dem Attentat am 11. April 1968 brannte es bei Springer – und deshalb hieß es jetzt: „Das letzte Mal sind wir auch durchgebrochen. Im Konvoi. Wasserwerfer voran. Und trotz Molotow-Cocktails und Rauchbomben. Das war Karfreitag. ‚Und da hatten wir [Springer-Zeitungsfahrer – B. N.] noch keine Helme!’ Jetzt haben sie welche. Na denn. Gute Fahrt – Fröhliche Ostern waren das“ (Bild-Zeitungskommentar zit. n. Faksimile-Abdruck in: marburger blätter, 18. Jg., April 1968, S. 3). Das waren die so genannten „Osterunruhen“ 1968. Peter Urbach, Agent Provocateur des Verfassungsschutzes, hatte die Brandsätze für die Anschläge geliefert.

Ein knappes Jahr zuvor, am 2. Juni 1967, hatte der Westberliner Polizist Karl-Heinz Kurras den unbewaffneten Studenten Benno Ohnesorg von hinten in den Kopf geschossen. „Wer mich angreift, wird vernichtet. Aus. Feierabend. So ist das zu sehen“, gab Kurras Jahrzehnte nach der Tat zu Protokoll (Siepmann 2008). Der Student, den er, wie er aussagte, in Notwehr erschießen musste, weshalb man Kurras freisprechen konnte – freilich wusste man da noch nicht, dass er nebenberuflich auch noch Stasi-Agent war –, dieser Student hatte an einer Demonstration gegen den Schah von Persien teilgenommen, der Oppositionelle mit Folter und Mord verfolgte. Der Senat von Berlin begrüßte ihn als Vertreter der freien Welt. Dagegen demonstrierten die Studenten. Also ließ der Senat von Berlin die Studenten niederknüppeln.  

„Was sich in der Berliner Blutnacht des 2. Juni ereignet hat, war nicht die Auflösung einer Demonstration […]. Es war ein systematischer, kaltblütig geplanter Pogrom, begangen von der Berliner Polizei an Berliner Studenten. Die Polizei hat die Demonstranten […] abgeschnitten, eingekesselt, zusammengedrängt und dann auf die Wehrlosen, übereinander Stolpernden, Stürzenden mit hemmungsloser Bestialität eingeknüppelt und eingetrampelt.“ Das schrieb Sebastian Haffner im Stern (zit. n. Soukup 2007). Er kannte den Polizeiterror aus eigener Erfahrung. Er hatte den NS-Staat 1938 verlassen und war nach England emigriert. Es muss ihn seltsam berührt haben, als er erfuhr, dass der Polizeieinsatz am 2. Juni 1967 von einem ehemaligen NSDAP-Parteigenossen befehligt wurde. Die nötigen Kenntnisse für die „Bandenbekämpfung“ hatte Hans-Ulrich Werner während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine erworben. Reichsführer SS Heinrich Himmler hatte sich bei Werner dafür mit dem Eisernen Kreuz bedankt.

Anlässlich der Beerdigung von Benno Ohnesorg fand am 9. Juni 1967 in Hannover der Kongress Hochschule und Demokratie statt, bei dem Rudi Dutschke zu Protestaktionen in Westberlin aufrief, obgleich der Senat ein allgemeines Demonstrationsverbot erlassen hatte (Dutschke 1980). Dieser Aufruf ließ Jürgen Habermas nicht ruhen. Er stellte sich ans Mikrophon – und dort eine scheinbar harmlose Frage: „Herr Dutschke hat als konkreten Vorschlag […] nur vorgetragen, daß ein Sitzstreik stattfinden soll, das ist eine Demonstration mit gewaltlosen Mitteln. Ich frage mich, warum nennt er das nicht so, warum braucht er eine dreiviertel Stunde, um eine voluntaristische Ideologie hier zu entwickeln […], die man im Jahr 1848 utopischen Sozialismus genannt hat, und […] unter heutigen Umständen […] linken Faschismus nennen muß“ (1980, S. 82). Ja, warum hatte sich Rudi Dutschke so kompliziert ausgedrückt? Und warum musste Herr Habermas darauf so platt antworten?

Da war es wieder, das böse Wort: Faschismus! Dieses Wort war in aller Munde. Man konnte es biegen und brechen und schon passte es auf alles und jeden. Wer damals in dieser Übung Lehrling war, wie der frühe Aly, Maoist und Ankläger der Welt diesseits und jenseits aller Kapitalströme, ist heute Meister in dieser Übung, wie der späte Aly, der sich als Historiker und Ankläger der 68er mehr als nur einen Namen gemacht hat (Aly 2008). Im Rückblick auf die alten Zeiten gab er diese Selbstauskunft zum Besten: „Ich habe die Zeitschrift Hochschulkampf 1970 mitgegründet. Das war eine Zeitung der Roten Zellen. […] Von 1971 bis 1973 war ich bei der damals sehr radikalen Roten Hilfe.“ Und heute? Heute hat er sich und seinesgleichen in den Staub geworfen. Und so konnte er als Selbstankläger bleiben, was er immer war – Ankläger: „Die Kinder der deutschen Massenmörder sind damals einem Massenmörder [gemeint ist Mao – B. N.] hinterhergerannt. Ich hab auch eine Mao-Plakette getragen. 1968 war ein Spätausläufer des europäischen Totalitarismus – und besonders des deutschen“ (Aly in: Reinecke, Feddersen [2007]). Ja, das ist Erinnerungsarbeit vom Feinsten, wie man sie eben von einem Historiker erwarten kann: differenziert und doch punktgenau.

 

Die Angst vorm Ficken oder Ich will alles. Und zwar sofort

1968 gab es nicht nur Krieg und Unruhen. Es gab auch Liebe und Frieden. Und so lautete das Mantra der Hippies: make love – not war. Zu deutsch: Heidschi Bumbeidschi – Mama – Ich sing ein Lied für dich. Ja, der Heintje, das war ein Holländer, der so recht nach dem Geschmack des deutschen Mütterchens sang! Und der Belgier aus Sizilien, der sich Salvatore Adamo nannte, gab den jungen Hüpfern für ihren langen Marsch durch die Institutionen damals auch schon weise Worte mit auf den Weg: Es geht eine Träne auf Reisen. Ach ja, wie lebensecht und edel sangen die Bänkelsänger der Deutschen Hitparade! Dieter Thomas Heck sei Dank! Und dem Alpenseemann Franz Eugen Helmuth Manfred Nidl aus Wien – bekannt als Freddy Quinn aus Sankt Pauli – auch. Er stimmte traurig ein: Seemann, weit bist Du gefahren. Das war eine Metapher! Der Seemann, das hätte auch ein Fußball spielender Atze aus dem Niedersächsischen oder ein Taxifahrer aus Frankfurt am Main sein können. Doch auf die konnte sich selbst Freddy keinen Reim machen. Ja, und auch sonst waren die Wege lang. Der Weg zum Beispiel von Brigitte Bardot, die der Jugendzeitschrift Bravo 1959 im hochgeschlossenen Badeanzug als „Starschnitt“ beilag, bis hin zu Uschi Obermaier, dem Star-Model der Jugendzeitschrift Twen. Sie schreckte 1968 vor gar nichts zurück – und so konnte sie sich ohne Skrupel auf Rainer Langhans einlassen, der sich gerade vom kurzgeschorenen Bundeswehrunteroffizier zum dichtestbehaarten Kommunarden Westberlins hochfrisiert hatte.

Aus Bravo und Twen erfuhren die Jugendlichen 1968, worüber sich ihre Eltern nur hinter vorgehaltener Hand unterhalten hatten: über die Mühen und Wonnen der Sexualität. Die Kioskbetreiber, die solches Wissen ein paar Jahre früher in Köln verbreiten wollten, hatten Post vom Vermieter der Grundstücke bekommen, auf denen ihre Buden standen. Weil sie die Zeitschrift Twen verkauften, teilte ihnen das Liegenschaftsamt der Domstadt drohend mit: „Sollte bei künftigen Kontrollen festgestellt werden, dass Sie irgendwelche jugendgefährdenden Schriften vorrätig haben oder sogar ausstellen oder verkaufen, müssen Sie mit der Kündigung des Standplatzes rechnen“ (Die Zeit, 25.12.1959). 1968 meldete sich dann aber nicht das Liegenschaftsamt der Stadt Köln. Jetzt meldete sich die Speerspitze der sexuellen Revolution in Deutschland zu Wort – und zwar sehr deutlich: Twen besorgt das gleiche Geschäft für die jungen Oberschüler und jungen mittleren Angestellten, das die Zeitschrift Bravo für die Volksschüler und die Lehrlinge in den Betrieben besorgt. Beide Zeitschriften haben die Funktion der Konsumeinübung, besonders des Schallplatten, Textil-, Getränke- und Ferienkonsums […]“, posaunte Reimut Reiche (1968a, S. 38). Da sage noch einer, die 68er Moraltrompeter ließen sich so einfach von den 59er Moralaposteln unterscheiden!

Zwar war das 68er-Vokabular neu, doch die Hemmungen hatten die Revolutionäre von ihren Eltern übernommen. Und die sollten jetzt beseitigt werden. Aber wie? Gut, man konnte den Vater totschlagen und mit der Mutter ins Bett gehen – doch wie ließen sich die verinnerlichten Eltern beseitigen? Die einen versuchten es mit marxofreudianischer 68er-Hirnakrobatik, die anderen übten fleißig 69er-Stellungen im Bett. Jahrzehnte später gab dann ein halbdokumentarischer Spielfilm Auskunft über beiderlei Anstrengung. Er entstand unter Beihilfe einer Frau, die es 1968 ff. nicht nur mit dem kleinen Rainer, sondern auch mit den Großen des Show Business getrieben hatte (mit Jimi Hendrix und Mick Jagger, zum Beispiel). Im Film Das wilde Leben (2007) blafft sie, das heißt: Uschi Obermaier, den Kommunarden Rainer Langhans an: Du hast Angst vorm Ficken! Das sagt die Frau, die nach dieser Enttäuschung mit einem halbseidenen St. Paulianer durch die weite Welt fahren musste und heute Schmuck in Kalifornien entwirft, zu dem Mann, der sich durch den Dschungel seiner Leidenschaften kämpfen musste, bis er endlich dort wieder ankam, wo er Uschi als verklemmter Jung-68er so bitter enttäuscht hatte. Nur war er jetzt freiwilliger Asket und nicht mehr unfreiwillig impotent.

Wer hätte das gedacht? Rainer Langhans jedenfalls nicht. In einem Interview, das er der Süddeutschen Zeitung gab, fragte er als überlebendes 68er Fossil entrüstet zurück, ob Uschi denn ernstlich glaubt, es so erlebt zu haben. Ich muss es ja annehmen, weil sie den Film wesentlich mitbestimmt hat. Dass sie die politischen Dinge vielleicht so sieht, wie im Film dargestellt, das mag ja sein. Aber unsere Beziehung? Mit dieser Auskunft gab sich der Journalist aber noch nicht zufrieden. Jetzt wollte er alles und zwar sofort und ganz genau wissen 

SZ: Es gibt eine Schlüsselszene im Film: Sie schlafen mit einer anderen Frau in der Kommune. Uschi muss zusehen und leidet Höllenqualen. Man spürt, sie ist tief verletzt. Entsprach das der Wirklichkeit?

 

Langhans: Ja, das ist wahr. Nicht nur einmal. Daran sieht man übrigens auch, dass Uschi – heute wird das vielleicht komisch klingen – diese klassischen Probleme hatte, die wir Verklemmung nannten. Sie war unbefreit und traute sich nicht wirklich in menschliche, schöne Begegnungen. Es war eben diese 68er Zeit, wo man anders gedacht hat. Im Film kommt die Szene so spätspießig rüber – diese Reaktion mit Trennung und Rachsucht. In Wirklichkeit war alles sehr anders.

 

SZ: Und zwar?

 

Langhans: Wir haben beide gewollt, dass der Partner die Möglichkeit hat, mit anderen körperliche Intimität zu erleben. Uschi war ein Unterschichtmädchen aus München und hatte, um es freundlich zu sagen, von nichts eine Ahnung – von solchen Dingen schon gar nicht. Große Sexgöttin? Pustekuchen.

 

Sie sagt heute, er habe gestern Angst vorm Ficken gehabt. Und er sagt heute, sie habe gestern keine Ahnung gehabt. Wem soll man glauben? Gestern wusste man genau, wem man nicht glauben durfte: Trau keinem über Dreißig. Und heute? Soll man heute Leuten glauben, die über Sechzig sind?

Damals fragten sich viele: „Was wollen die Studenten?“ (Mager, Spinnarke 1967). Und viele dachten lange nach – bis Gitte Haenning 1983 endlich die richtige Antwort fand und zu Gehör brachte:

Ich will alles. Ich will alles.

Und zwar sofort.

Eh’ der letzte Traum in mir zu Staub verdorrt.

Ich will leben. Will mich geben.

So wie ich bin.

Und was mich kaputt macht.

Nehm’ ich nicht mehr hin.

 

Ja, das war’s! Macht kaputt, was euch kaputt macht! Kann man sich vorstellen, dass die Walküre, die heute im wallenden Gewand die Wagner Festspiele in Bayreuth heimsucht, einst die Band betreute, die diesen Spruch 1970 als Song populär gemacht hat? Aber ja doch! Heute hätten Ton Steine Scherben keine Chance mehr, die Leute zu verdummen. Heute sorgt Claudia Roth durch ihr Erscheinen auf dem Hügel dafür, das heißt: sie macht das Wort leibhaftig zur Waffe und damit die Illusionen kaputt, an denen die kaputt gingen, die früher daran glaubten.

 

Die Phantasie an die Macht! Ja, das wollten die Studenten! Und sie wollten noch viel mehr! Sie wollten alles. Sie wollten „Sexualität und Klassenkampf“ (Reiche 1968b). Sie wollten an die „Sexfront“ (Amendt 1970). Und dann wollten sie auch noch verstehen, was die kapitalistische Welt im Innersten zusammenhält: „Warenästhetik, Sexualität und Herrschaft“ (Haug 1972). Das war nicht wenig. Das war viel. Das war zuviel. Dazu gehörten auch noch einige uralte und jetzt endlich ins Deutsche übersetzte Bücher. Zum Beispiel: „Die sexuelle Revolution“ (Reich 1945/1966). Solche Traktate wurden gelesen wie Heilige Schriften. Man könnte die jungen Leser von damals deshalb heute auch „Taliban“ nennen. Denn damit ist der wissbegierige Schüler gemeint, der Bücher studiert, von denen er glaubt, sie enthielten letzte Wahrheiten. Jahre später fragte einer nach: „Was wurde damals so bejubelt und wirkt jetzt so ausgelaugt?“ Das war Reimut Reiche (1995, S. 241), vormals Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), danach unterwegs mit dem Revolutionären Kampf (RK) nach Rüsselsheim zu Opel. Er stellte diese Frage als Mann, der solche Fragen beantworten kann. Das heißt: er stellte sie als Psychoanalytiker. Denn das war er jetzt. Idealtypisch und vollständig wäre sein Lebenslauf aber nur, wenn er diese drei Stationen umfassen würde: erstens katholischer Ministrant – zweitens militanter K-Gruppler – drittens Psychoanalytiker.

 

Das Programm bei Opel hieß: Revolution! Die Genossen wollten selbige betriebsintern vorbereiten. Ja, so hieß die Zeitung tatsächlich, die die Opel-Arbeiter jetzt lesen sollten: Wir wollen alles. Und wo sie alles bekommen konnten, das erfuhren die Opelianer auch: „Kontaktadresse unter anderen: Lotta Continua, c/o Fischer, 6 Frankfurt, Bornheimer Landstr. 64.“

 

Mit „Fischer“ ist der bereits erwähnte elder statesman gemeint, der früher Joseph hieß und heute nur noch Joschka gerufen wird. Er erläuterte den Opelarbeitern gestern die polit-ökonomischen Zusammenhänge, von denen er heute prächtig zu leben versteht. „Da trafen zwei Welten aufeinander […]“, erinnerte sich sehr viel später ein Kampfgefährte aus alten Tagen, Wolf-Dietrich von Verschuer, der bei Opel auch für die Revolution zuständig war. Er hatte zu diesem Zweck „auf demselben Gabelstapler wie Reimut Reiche, der Psychoanalytiker“, Platz genommen (Esch 2004). Inzwischen hat Reimut Reiche den Schnee von gestern weggeräumt und neue Blumen der Erkenntnis gepflanzt. Und so lesen wir jetzt: „Aus der Retrospektive wird klar, daß die psychoanalytische Kulturkritik, die mit den Namen von Marcuse, Mitscherlich, Parin, Richter und mit der Studentenbewegung assoziiert wird, auch eine große Entlastungsfunktion bot, ja die Aufforderung enthielt, den Anderen, den, über den aufgeklärt wurde, als den Bösen und mich selbst, den Empfänger der Botschaft, als den Guten zu betrachten. Dieser Andere konnte viele Gestalten annehmen: die Familie als neurotische Burg; der Analcharakter, der keinen Schmutz, oder der oral fixierte Konsumterrorist, der keine Unlustspannung ertragen kann; die Unfähigkeit zu trauern; der auf Triebunterdrückung aufbauende Leistungskapitalismus oder der auf repressiver Entsublimierung aufbauende Konsumimperialismus. Das alles ist längst Geschichte“ (1995, S. 241).

 

Geschichte hin oder her oder rauf und runter, heute wissen wir Bescheid: Nicht nur die Bibel, auch die 68er hatten doch recht! Sie hatten zwar Bueb (2006) noch nicht gelesen, doch sie wussten bereits, was der erst ein halbes Jahrhundert später erkennen sollte: Ohne Disziplin, Gehorsam und Selbstüberwindung kann es keinen Führer geben! Das hatten die 68er bei Horkheimer gelesen, der sie über „Autorität und Familie“ (1936) belehrte. Und von Adorno et al. (1950) hatten sie noch mehr über den „autoritären Charakter“ erfahren. Und dann erschien Herbert Marcuse und bot ihnen auch noch eine nicht ganz einfach zu verstehende Theorie und eine noch viel schwerer zu praktizierende Übung an. Sie handelte vom befreiten Eros, mit dem man alle Grenzen überwinden kann. Und wenn es einmal soweit sein wird, dann wird der „Gegensatz zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, überwunden [sein]. Das Sein wird als Befriedigung erfahren, die Mensch und Natur eint, so daß die Erfüllung des Menschen gleichzeitig ohne Gewaltsamkeit die Erfüllung der Natur ist. Da sie angesprochen, geliebt, umsorgt werden, erscheinen Blumen, Quelle und Tier als das, was sie sind – schön nicht nur für jene, die sich ihnen zuwenden und sie beschauen […]. Der Gesang Orpheus’ befriedet die tierische Welt, versöhnt den Löwen mit dem Lamm und mit dem Menschen“ (Marcuse 1971, S. 164). Heidschi Bumbeidschi. – Mama – Ich sing ein Lied für dich. Amen.

 

Und damit Schluss? Nein! Denn die Wirklichkeit ist noch viel sperriger als die Utopie. Und deshalb musste Reimut Reiche 1988 nachlegen. Also zitierte er diesen Passus aus Herbert Marcuses Buch Der eindimensionale Mensch (1967): „Das Sexuelle wird in die Arbeitsbeziehungen und die Werbetätigkeit eingegliedert und so (kontrollierter) Befriedigung zugänglich gemacht. Technischer Fortschritt und ein bequemeres Leben gestatten, die libidinösen Komponenten in den Bereich von Warenproduktion und -austausch systematisch aufzunehmen. […] Indem sie derart die sexuelle intensiviert, beschränkt die technologische Wirklichkeit die Reichweite der Sublimierung. […] Die Reichweite gesellschaftlich statthafter und wünschenswerter Befriedigung nimmt erheblich zu; aber auf dem Wege dieser Befriedigung wird das Lustprinzip reduziert – seiner Ansprüche beraubt, die mit der Gesellschaft unvereinbar sind. Derart angepaßt, erzeugt Lust Unterwerfung“ (Marcuse, zit. n. Reiche 1988, S. 54). Das könnte eine Umschreibung dessen sein, was Marcuse mit „repressiver Entsublimierung“ gemeint haben könnte oder verstanden wissen wollte. Jedenfalls habe ich das so verstanden. Schade nur, dass Marcuse nicht verstanden hat, dass das Lustprinzip keinen inhaltlich bestimmten Wunsch hat – vielmehr die inhaltsleere Urform aller Wünsche ist.

 

Schade, schade. Doch was dem einen sein Ul, das ist dem anderen sein Nachtigal. Und während die 68er Herren meinten, sie seien gerade dabei, sich von „repressiven Sexualstandards“ zu befreien, klagten die 68er Damen, man versuche soeben, sie einer neuen Form von Repression zu unterwerfen. Dagegen wehrten sie sich dialektisch. Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen! Dieser neckische Satz stand auf dem Flugblatt, das der Frankfurter Weiberrat beim Delegiertentreffen des SDS 1968 in Hannover verteilte. Darauf war eine Frau mit Scharfrichterbeil abgebildet, die vor einer Trophäensammlung stand, die aussah, als sei sie von Jägern eingerichtet worden. In diesem Fall war es aber eine Jägerin und an der Wand hingen keine Hirschgeweihe, sondern die abgeschnittenen Schwänze namentlich genannter SDS-Genossen. Damit prangerte frau witzig-spritzig den „sozialistischen Bumszwang“ an, der mit„sozialistischem intellektuellem Pathos“ verkündet wurde. Ja, so war das 1968: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung überall.

 

Im Western nichts Neues? Doch! Jetzt kam der Italo-Western – und vorbei war’s mit der Bewunderung für die Helden Hollywoods, die bis zur letzten Patrone Skalp und Weib gegen die Roten und gegen die Banditen verteidigen mussten. Jetzt war John Wayne passé. Django war angesagt. Jetzt siegten die Mestizen. Jetzt bissen die Viehbarone ins Gras. Jetzt eroberten Kleinkriminelle die Herzen des jungen Publikums. Sie unterstrichen das Diktum, wonach der Besitz einer Bank weit größeren Schaden anrichtet als der Einbruch in eine Bank. Der Bankräuber und seine Lady konnten im Film Bonnie and Clyde (1967) also machen was sie wollten – doch am Ende war die Welt wieder in (alter) Ordnung. Da lagen Bonnie (Faye Dunaway) und Clyde (Warren Beatty) durchlöchert von Schüssen tot zu Füßen des Gesetzes, das in Gestalt robuster Hüter desselben höhnisch grinste. Auch im zweiten Kult-Film jener Jahre, Easy Rider (1969), ebenfalls ein Roadmovie, angefüllt mit der Musik der Zeit, war der Spaß von kurzer Dauer. Born to be wild. Das war die Hymne der Rebellen, die die Hard-Rock-Band Steppenwolf vortrug, deren Name ebenfalls Programm war. Doch Wölfe sind nicht immer – wie bei Hermann Hesse – Einzelgänger. Sie schließen sich – wie die Biker Peter Fonda und Dennis Hopper im Film – bisweilen auch zu Gruppen zusammen. Diese beiden langhaarigen Hippies, die als kleine Dealer auf Motorrädern in den USA unterwegs sind, nehmen ungefragt an einer Parade patriotischer Amerikaner teil – und bezahlen ihren Frevel mit dem Leben. Sie werden abgeknallt wie tolle Hunde – von guten Amerikanern, die das Gesetz in die Hand nehmen, um es zu schützen.

 

Gute Amerikaner? Das sind „in der Regel […] Leute zwischen 35 und 50 Jahre […]. Die meisten […] stammen aus der konservativen weißen Mittelklasse. In der Mehrheit sind das Christen und Republikaner.“ Nein, damit sind jetzt nicht die Mitglieder der Tea-Party gemeint, die derzeit in den USA den rechten Ton angeben. Damit hat die Fotografin Naomi Harris (2008) die Teilnehmer der Gruppensexpartys charakterisiert, die sie gebeten hatten, sie möge das rastlose Treiben der US Swinger-Szene für mehr als eine Stunde festhalten. Ja, gute Amerikaner – wie die Mörder im Film Easy Rider. Das sind Menschen wie du und ich, Menschen, die die Freiheit lieben – und vor niemandem mehr Angst haben als vor Menschen, die keine Angst mehr vor der Freiheit haben.

 

4 Und die Moral von der Geschichte: High sein, frei sein, überall dabei sein!

Es gab 1968 explizit politische, es gab aber auch Parolen, die zur psychedelischen Revolution aufriefen. Man konnte das Bewusstsein demnach nicht nur mit Hilfe von Büchern und politischen Aktionen verändern; man konnte es auch mit Drogen und Musik erweitern. Ja, nicht nur Herbert Marcuse, auch Timothy Leary war ein Prophet der 68er. Turn on, tune in, drop out! Das war die Parole der Blumenkinder, die in Kabul (Afghanistan), Katmandu (Nepal), Goa (Indien) und in Essaouira (Marokko) kifften. Sie wollten hier und jetzt glücklich sein. Also durften sie nicht daran denken, dass sie sich in Ländern aufhielten, die ihre Großväter militärisch unterworfen hatten und die von ihren Vätern ökonomisch ausgeplündert wurden.

Für die Hippies war die Welt ein großes Openairkonzert: High sein, frei sein, überall dabei sein! Es begann 1967 mit dem Monterey Pop Festival und endete 1969 mit dem Woodstock Music and Art Festival. Beide Male trat Janis Joplin auf, deren Welt aus „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ bestand. „Das unstillbare Verlangen nach Drogen kann bei ihr allenfalls von der Lust auf Sex übertroffen werden, bei dem ihr schnell auffällt, dass Sex mit Männern nicht das volle Spektrum abdeckt, worauf ihr das eigene Geschlecht mit einigen Affären aushilft. Die Lebensweise der knallharten, fluchenden, saufenden, vögelnden und Heroin drückenden Schlampe gibt Janis scheinbaren Rückhalt bei ihrer rastlosen Suche nach Anerkennung“ (http://www.laut.de/wortlaut/artists/j/joplin_janis/biographie/index.htm). Ein Jahr nach Woodstock war Schluss: Janis Joplin war tot, gestorben an einer Überdosis Heroin. Im selben Jahr starb Jimi Hendrix, voll gepumpt mit Alkohol. Aus. Vorbei. Die Party der 68er endete mit einem großen Kater. „Eine Generation der Ausgeschlossenen, von Anfang an“ (Nitzschke 1978).

 Das heißt, einige spielten Bonnie und Clyde, verkleidet als Rote Armee Fraktion, weiter, so als hätten sie das Ende des Films nicht gesehen. Andere sangen das Lied vom Tod allein im stillen Kämmerlein. Sie fixten und soffen sich ins Grab, getreu der Devise, auch das Private ist politisch. Und wieder andere traten jetzt – trotz alledem! – in eine K-Partei ein. Daraus wurde der Krampf im Klassenkampf. Diese jungen Aktivisten suchten und fanden die Arbeiterklasse in den verrauchten Hinterzimmern ihrer Großväter oder im kleinen roten Buch eines fernen Großen Vorsitzenden. Das gab ihnen Kraft, um morgens früh um fünf vor den Werkstoren den Kampf mit dem falschen Bewusstsein der Arbeiterklasse aufzunehmen und Agitationsflugschriften zu verteilen. Diese Arbeiterfreunde waren Utopisten. Daher nannte man sie auch nicht „Realos“. Diese Bezeichnung verdienten sich erst einige Jahre später die Mitglieder einer Partei, die sich als Alternative zum Stammtisch verstanden – und dort ankamen, wo sie immer nur die anderen vermutet hatten: am Stammtisch. Was, bitte, ist realer als der Stammtisch? Und wie, bitte, lautete doch noch mal dieser treffliche Spruch der Neuen Frankfurter Schule? Richtig: Die größten Kritiker der Elche, werden später selber welche.  

In einer Welt, in der alles zur Ware wird, muss jeder zum Händler werden. Das ist die Welt, in der für Geld alles zu haben ist. All you need is loveBut money can’t buy me love. Das ist die wirkliche Welt, in der sich alles ins Gegenteil verkehrt: „Geld verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Haß, den Haß in Liebe, die Tugend in Laster, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn. Da das Geld als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes alle Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten […]. Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen […]“ (Marx 1844/1968, S. 106 f.). Liebe gegen Liebe, Vertrauen gegen Vertrauen – das klingt wie ein Kindermärchen, wie ein Wunsch aus grauer Vorzeit, wie ein Lied aus uralten Tagen.

Damals, als die Liebe ein Geschenk war: das war in der Zeit, in der Geld noch nichts wert war. Damals war Geld nur ein Stück Metall oder ein Fetzen Papier. In jener Zeit waren wir glücklich, wenn uns der Mensch, den wir liebten, in den Arm nahm, weil er uns liebte. An diese Kinderzeit dachte Sigmund Freud, als er Heinrich Schliemanns (1881) autobiographische Aufzeichnungen las. Schliemann war nicht deshalb glücklich, weil er jetzt Gold in Hülle und Fülle hatte. Ja, er hatte als Kind den Wunsch, eines Tages einen Schatz zu finden. Dieser Wunsch war in Erfüllung gegangen. „Der Mann war glücklich, als er den Schatz des Priamos fand, denn Glück gibt es nur als Erfüllung eines Kinderwunsches“ (Freud 1986, S. 387).

Und wenn sich ein Kinderwunsch erfüllt hat, dann sollte man daran denken, dass man nicht ewig Kind bleiben kann. Daran dachten die Hippies, die 1967 in Kalifornien ihre Bewegung symbolisch zu Grabe trugen. Das war ein Jahr vor 1968. Das war im Summer of Love. Damals sang Scott McKenzie das Lied, das für immer mit Flower Power verbunden bleiben wird, die Hymne der Hippies:

All across the nation such a strange vibration

People in motion

There’s a whole generation with a new explanation

People in motion, people in motion

 

For those who come to San Francisco

Be sure to wear some flowers in your hair

If you come to San Francisco

Summertime will be a love-in there.

 

Ja, die 68er spielten mit Worten wie Kinder mit Glasperlen. Und so kamen immer neue Sprüche zustande. Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren. Unter dem Pflaster liegt der Strand. Und selbst der Titel eines Buches aus jener Zeit ist zum geflügelten Wort geworden: Die Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972). Das Buch war das Ergebnis der Diskussionen, die der Club of Rome führte. Diese Gruppierung kam 1968 auf Initiative des Industriellen Aurelio Peccei und des Direktors der OECD-Abteilung für Wissenschaft, Technologie und Erziehung Alexander King zustande. Man wusste demnach aus erster Hand, wohin die rücksichtslose Ausbeutung der Rohstoffe und eine weiter ungehemmte Industrialisierung führen würden: zu verbrannter Erde, zu vergifteter Luft und zu noch mehr verseuchtem Wasser (Nitzschke 1974).

Nur eines der vier Elemente würde rein überleben: das Feuer. Man konnte das vorhersehen. Und es gab einige, die begriffen hatten, dass alle Warnungen nichts ändern würden. Deshalb legten amerikanische Umweltschützer einem fiktiven Indianerhäuptling, der ohnmächtig zusehen musste, wie Viehzüchter seine Lebensgrundlage vernichteten, indem sie die Büffel der Prärie niedermetzelten, und gierige Goldgräber sein Land aufrissen, diese Worte in den Mund:

Erst wenn der letzte Baum gerodet,

der letzte Fluss vergiftet,

der letzte Fisch gefangen ist,

werden die Menschen feststellen,

dass man Geld nicht essen kann.

 

Ja, die 68er hatten hellseherische Fähigkeiten! Seither hat sich die Welt ein paar Mal gedreht – und jetzt redet jeder von Umweltkatastrophen, ja man malt schon wieder eine Weltwirtschaftskrise an die Wand. Man bringt sein Geld in Sicherheit. Man flüchtet in Gold. Man wechselt in Schweizer Franken. Money makes the world go round. Ja, die Welt ist ein großes Casino. Ja, die Welt ist ein Cabaret. Money, money, money – must be funny – in a rich man’s world.

Verantwortlich für die Misere, so hört man in Talkshows, seien einige wenige Banker und Manager, die sich nicht anständig verhalten haben. Wer war gemeint? Klaus Zumwinkel vielleicht, der im Januar 2009 wegen Steuerhinterziehung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldbuße von einer Million Euro verurteilt wurde? Er hat doch nur einen Teil seines Einkommens vor dem Fiskus nach Lichtenstein in Sicherheit gebracht. Zwei Monate nach seiner Verurteilung ließ er sich dann seine Pensionsansprüche in Höhe von 20 Millionen Euro von der Deutschen Post auszahlen. Und schon stand der arme Mann abermals am Pranger! Er sei eben „gierig“, hieß es wieder. Warum muss man denn immer auf denselben Trottel einschlagen? Thomas Middelhoff wäre doch mindestens genauso gut geeignet als Beispiel für den „gierigen“ Manager. Er hatte Karstadt-Quelle in Arcandor umbenannt und den Immobilienbesitz der Firma an ein Bankenkonsortium verhökert. Anschließend durfte Arcandor die vormals eigenen Räume zu überhöhten Preisen zurückmieten. So wurden das Unternehmen in den Ruin und die Mitarbeiter in die Existenzangst getrieben – und Middelhoff musste gehen, mit 2,2 Millionen Euro Bonus in der Tasche. Und Georg Funke? Auch der wollte sich nicht so einfach als Verlierer vom Spiel ohne Grenzen verabschieden lassen. Nachdem er als Vorstandsvorsitzender mit seinen Chargen die Hypo Real Estate gegen die Wand gefahren hatte, war er seinen Job los. Daraufhin reichte er Klage ein. Es stünde ihm noch eine Nachzahlung von 150.000 Euro Gehalt zu. Außerdem wären auch noch die 3,5 Millionen Euro fällig, die ihm bis zum Ende des regulären Vertrags zugestanden hätten. Und schließlich hätte er bis zu seinem Lebensende Anspruch auf 560.000 Euro Pension jährlich.

Wer wird denn von „Gier“ sprechen, wenn es um Recht und Gesetz geht! Darum ging es im Fall der Supermarktkassiererin, die Pfandkarten im Wert von 1,30 Euro eingesteckt haben soll, auch: um Recht und Gesetz. Man bedauere die fristlose Kündigung zwar, zumal die Frau jahrelang unbeanstandet gearbeitet habe, hieß es; aber man dürfe die Veruntreuung betriebseigenen Vermögens doch nicht stillschweigend hinnehmen. Das war im Fall des Müllwerkers nicht anders, der ein Kinderbett aus dem Sperrmüll, den er vernichten sollte, mit nach Hause genommen hatte. Ihm wurde ebenfalls fristlos gekündigt. Und auch diese Kündigung hatte einen tieferen Sinn. Man stelle sich doch nur vor, jeder Müllwerker würde den Sperrmüll mit nach Hause nehmen, den er vernichten sollte. Das Unternehmen, bei dem er angestellt ist, wäre überflüssig.

Können wir uns unter den Beträgen, um die es in den Fällen Zumwinkel, Middelhoff, Funke & Konsorten geht, überhaupt noch etwas vorstellen? Nein? Dann machen wir es uns einfacher: Wir stellen uns jetzt die bescheidene Summe von 94 Millionen Euro vor – und schon erscheint vor unserem Auge der Weltfußballer des Jahres 2008, der Portugiese Christiano Ronaldo. Exakt für diese Ablösungssumme wurde er im Sommer 2009 von Manchester United an Real Madrid verkauft. Ja, Leistung muss sich wieder lohnen! Hat sich daran nach der „Bankenkrise“ etwas geändert? Nein! Wer Erfolg haben wollte, der musste weitermachen wie bisher. Das „hat eine wenig beachtete Studie aus den Vereinigten Staaten belegt. Die Unternehmungsberatung James F. Reda aus New York untersuchte die Geschäftsberichte von 200 großen amerikanischen Unternehmen und versuchte herauszufinden, wie sich die Bezahlung der Manager durch die Krise verändert hat. Das schockierende Ergebnis: Die Anreizsysteme werden in diesem Jahr [2009] nicht etwa langfristiger orientiert sein, wie man nach all den hehren Worten der vergangenen Monate hätte hoffen können, sie werden kurzfristiger [sein].“ Soweit der Wirtschaftsexperte Nikolaus Piper (2009).

Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit über unser Wirtschaftssystem konnte man auch im Spiegel nachlesen. Schwarz auf Weiß stand dort 2009 auf dem Titelblatt von Heft Nr. 11: „Der Jahrhundert-Fehler. Wie die Pleite einer einzigen Bank die Weltkrise auslöste.“ Jetzt wusste man es besser: Es waren doch nicht einige wenige Manager, die sich unanständig benommen hatten; es war eine „einzige“ Bank, die die Welt an den Rand des Abgrunds geführt hatte. Gemeint war die US-Investmentbank Lehman Brothers, deren Zusammenbruch als Auslöser der Finanzkrise 2008 verstanden werden sollte. Und nun verstand man endlich, welch dummes armes Schwein Mackie Messer war, der die Unterwelt, anstatt die Bankenwelt beherrschen wollte. Er war ein ganz ganz böser Mensch – und glaubte doch noch an das Gute in den Menschen.

Natürlich hab ich leider recht:

Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht.

Wir wären gut – anstatt so roh,

Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.

(Bert Brecht – Dreigroschenoper)

 

Ja, was erreicht man denn durch den Einbruch in eine Bank im Vergleich zum Besitz einer Bank? Der Einbrecher in eine Bank ist ein schlechter Mensch – und der Besitzer einer Bank kann sich auf die Verkommenheit seiner Kunden verlassen, die nach immer größeren Renditen gieren. Wie hätte Bernard Madoff, der seinen Investmentfond nach dem Schnellballsystem organisierte und im Juni 2009 zu 150 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, nachdem der Schwindel aufgeflogen war, denn sonst an die 65 Milliarden Dollar kommen sollen, die er veruntreute – wenn er sich nicht auf die Gier der Leute hätte verlassen können, die das Geld zu ihm brachten?

Und dann tauchte im Zusammenhang mit der so genannten Finanzkrise ausgerechnet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auch noch eine alte – früher oft mit antisemitischen Konnotationen versehene – Unterscheidung auf, nämlich die zwischen „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital, wenngleich sie in diesem Fall mit fein geschliffenen Worten daherkam. Der Direktor des US-Immobilienunternehmens Spitzer Enterprise ließ in einem Interview mit besagter Zeitung wissen: „Es ist eine Sache, ob eine Investmentbank riesige Summen verdient, indem sie quasi als Hedge-Fonds an den Märkten Volatilitäten und Fehlbewertungen ausnutzt, und eine andere, reale Werte und Jobs zu schaffen. In meinen Augen konzentriert sich die amerikanische Wirtschaftspolitik gegenwärtig viel zu stark auf die Rettung der Finanzindustrie, statt die Realwirtschaft voranzubringen, die den wahren Mehrwert produziert“ (FAZ.Net 22.09.2009 – http://www.faz.net/-00n12d). „Der wahre Mehrwert!“ Das klingt ja so, als sei Karl Marx von den Mausetoten auferstanden, hatte der doch immer nur vom Mehrwert als dem Wert gesprochen, den der Knecht der Arbeit (genannt: „Arbeitnehmer“) schafft und den der Herr der Arbeit (genannt: „Arbeitgeber“) an sich rafft.

Kapital sei tote Arbeit, meinte Karl Marx. Es schaffe keinen Wert. Es sei doch immer auf lebendige Arbeit (sprich: auf Menschen) angewiesen, wenn es sich langfristig lohnen solle. Kapital ist, bildlich gesprochen, einem Vampir vergleichbar, der immer neue Blutzufuhr braucht, wenn er als Untoter weiterleben will. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Irgendwann platzt jede Blase. Dann ist die Luft raus. Und auf die sind die Händler an der Börse angewiesen. „Ein Händler an der Börse ist einem Alchimisten im Mittelalter vergleichbar, nur macht er nicht aus Blei Gold, sondern aus Luft Geld“ (Ziegler 2000, S. 61).

Hans Christoph Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Sankt Gallen, hat die Erfindung des Geldes im 7. Jh. v. Chr. verortet. Die Folgen dieser Erfindung hat er so beschrieben: „Indem man mit Münzen bezahlte, konnte sich der Handel leicht über alle Grenzen ausbreiten und mit ihm eine immer weiter ausgreifende Arbeitsteilung. Mit dieser wurde die Produktivität der Wirtschaft enorm gesteigert. Gleichzeitig wurde die Wirtschaft aber immer mehr in den Bann des Geldes und seiner Dynamik gezogen. Man konnte aus wenig Geld mehr Geld machen […]. Daraus ergibt sich eine Expansionsspirale, der man kaum mehr ausweichen kann. Dies wurde schon zu Beginn der Münzprägung erkannt. So schreibt Pittakos, einer der sieben Weisen des Altertums: ‚Gewinn ist unersättlich.’ […] Diese Unersättlichkeit hat aber auch schon sehr bald zur Überbeanspruchung der Natur geführt, zu einem Raubbau, in Griechenland insbesondere durch die Abholzung der Wälder, um Holz zu gewinnen für den Bau von Schiffen, Hafenanlagen und Gebäuden. Es kam zu einer zunehmenden Verkarstung der Küstengebiete“ (Binswanger 2000, S. 6). Der Zusammenhang von Geldwirtschaft und Umweltzerstörung ist also seit alters her bekannt. Und deshalb kann man im nächsten Sommer, wenn bei den neueren Griechen wieder einmal die Wälder brennen werden, bei einem alten Griechen – bei Platon nachlesen, welches Bild der nach der Abholzung der Wälder vor Augen hatte. Es sah, so heißt es im Dialog Kritias, nur „noch das Knochengerüst eines Leibes […], der von einer Krankheit verzehrt wurde; ringsum ist aller fette und weiche Boden weggeschwemmt worden, und nur das magere Gerippe des Landes ist übrig geblieben“ (zit. n. Binswanger 2000, S. 6).

5. Brennende Gier – versengte Seelen. Und die Erlösung kommt von oben

Das politökonomische Wissen, das der Spiegel im März 2009 unters Volk gebracht hatte, wurde im Mai 2009 vertieft. In Heft Nr. 20 erfuhr man nun alles über „Das Prinzip Gier“. Und man erfuhr auch noch gleich: „Warum der Kapitalismus nicht aus seinen Fehlern lernen kann“. Ja, der Kapitalismus! Er kann überhaupt nichts anderes als weitermachen. Immer weiter, immer schneller … Und so konnte man bereits drei Jahre nach der Spiegel-Fechterei von 2009 unter dem Suchwort „Weltwirtschaftskrise 2011“ bei Google (allein in deutscher Sprache) 732.000 Einträge finden. Jetzt standen Europa und die USA vor der Pleite. Und wer bezahlte die Zeche? Doch wohl nicht die Trunkenbolde? Nein! „Zahlen müssen immer die Bürger“ (Focus 29.06.2011 – http://www.focus.de/finanzen/news/tid-22745/tid-22747/staatspleiten-in-der-geschichte-zahlen-muessen-immer-die-buerger_aid_639555.html).

Alles wie gehabt. High sein, frei sein, überall dabei sein! Das war schon immer so: „Ende 2008 rettete Spaniens Regierung die Banken mit Milliarden von Euros, die sie nicht hatte. […] Doch während die Zahl der Arbeitslosen ein historisches Hoch erreichte, strichen die 35 größten an der Madrider Börse notierten Unternehmen rund 50 Milliarden Euro ein, 25 Prozent mehr als 2009. Für den lautesten Aufschrei sorgte der Mobilfunkkonzern Telefónica. Er kündigte die Entlassung von 6000 Mitarbeitern an – und zahlte seinen Managern Gehälter in Höhe von 450 Millionen Euro und 6,9 Milliarden Euro an Boni“ (Gutiérrez 2011). Doch dann stand plötzlich die halbe Welt in Flammen. „Seit Anfang des Jahres [2011] erheben sich überall die Jungen. In Tunesien und Ägypten haben sie zwei Diktatoren gestürzt. In Griechenland und Spanien haben sie vor den Regierungsgebäuden gezeltet. In Israel überraschen sie die Regierung mit ihren Massendemonstrationen für niedrigere Mieten. […] All diese Länder sind sehr unterschiedlich, aber die Jungen haben lange eine Erfahrung geteilt: Sie waren unten, und die Alten waren oben. […] Das trifft auch auf London zu. Vielleicht hatten auch die Plünderer von London einmal Hoffnung. Schließlich begann alles mit einer friedlichen Demonstration vor einer Polizeiwache in Tottenham, bevor es zu einer Serie von nächtlichen Massenkrawallen in London und anderen Städten ausartete. […] Wer in Tottenham lebt, ist, statistisch gesehen, öfter arm und auf staatliche Hilfe angewiesen. Die streicht die konservativ-liberale Regierung gerade stark zusammen. Die härtesten Sparmaßnahmen seit dem Zweiten Weltkrieg treffen vor allem die Schwachen“ (Pham 2011).

Norbert Nedophil, Gerichtspsychiater, schrieb unter der Überschrift „Gewalt bei Jugendlichen“ in der Süddeutschen Zeitung: „Wir leben in Zeiten, in denen den Menschen immer größere Anpassungsleistungen an eine komplexe, globale Umwelt abverlangt werden. Dies treibt einen kleinen, aber nicht zu übersehenden Teil der Bevölkerung immer weiter ins Abseits.“ Sie befinden sich in einer Überforderungssituation, die Angst und Aggression auslöst, was dazu führt, dass „vorausschauendes Planen“ und die damit verbundene Berücksichtigung der Konsequenzen des eigenen Handelns nicht mehr möglich sind. Stattdessen werde dann der „kurzfristige Triumph“ gesucht. Nein, Nedophil (2009) meinte nicht die Banker und Manager, die wir bei aller öffentlichen Verurteilung heimlich beneiden; er meinte auch nicht die Spitzensportler, die wir als Helden verehren, obgleich wir wissen, dass sie bis zur Halskrause mit Dopingmitteln voll gepumpt sind. Nedophil meinte die von allen guten Geistern und jeder sozialen Einbindung verlassenen Jugendlichen, die auf einer U-Bahnstation wegen gekränkter Ehre oder wegen ein paar Cent oder „einfach nur so“ einen Menschen erst halbtot und dann ganz tot prügeln. Immer weiter, immer schneller, immer höher, immer brutaler – ohne Rücksicht auf die Konsequenzen des Handels und des Handelns.

Die Finanzkrise 2008 hatte ihren Ausgangspunkt eben gerade nicht im Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers; sie hatte ihren Ausgangspunkt im Höhenflug der Finanzakrobaten, die zu extrem niedrigen Zinssätzen Hypothekenkredite an Menschen verkauften, die sich damit Häuser leisteten, die sie sich niemals hätten leisten dürfen. Die Verkäufer dieser Darlehensverträge sackten fette Boni ein, und die Käufer dieser Immobilien steckten den Kopf in den Sand – bis sie ein paar Jahre später die Vertragsbestimmungen durchlasen und erkannten, dass sie bei steigenden Zinsen steigende Zinszahlungen zu leisten hatten. So kam es, wie es kommen musste: Nachdem die Häuserpreise jahrelang angestiegen waren, weil es immer mehr Menschen gab, die sich Häuser leisten konnten, die sie sich niemals hätten leisten dürfen, brach der Immobilienmarkt zusammen. Bereits 2007 wurden 1,3 Millionen US-Immobilien zwangsversteigert. Doch schlaue Banker hatten vorgesorgt. Sie wussten, dass die Möchtegern-Immobilienbesitzer ihre Kredite langfristig gar nicht bedienen konnten. Also hatten sie die faulen Kredite in komplizierten Finanzpapieren versteckt, die sie an weniger kluge Banker verkauften, die sie an noch dümmere Banker weiterverkauften. Und am Ende dieser wundersamen Geldvermehrungskette saßen die Dümmsten auf wertlosen Papieren fest. Und weil zu diesen Allerdümmsten auch die Manager der Nord-LB und anderer Kreditinstitute gehörten, übernahm der Staat – sprich: der deutsche Steuerzahler – die Schulden, die die Banken von den Schuldnern nun nicht mehr bezahlt bekamen. Und weil der Steuerzahler auch nicht genügend Geld hatte, blieben die Schulden des Staates, also die Schulden der Banken, bei den Kindern und Kindeskindern des Steuerzahlers hängen. Business as usual.

Mitte 2008 hatte sich bei den Banken weltweit ein Schuldenberg von 435 Milliarden Dollar angehäuft. Und da ein Unglück selten allein kommt, erreichte der Ölpreis just zu dieser Zeit seinen (bis dahin) historischen Höchststand. Dadurch erhöhten sich die Nahrungsmittelpreise, denn zur Produktion und zum Transport von Nahrung benötigt man Treibstoff, und der war jetzt so teuer wie noch nie. UN-Experten haben schon einmal vor(aus)gerechnet: Wegen der Nahrungsverknappung und der fortschreitenden Verseuchung der Umwelt werden in den kommenden Jahren 150 Millionen Menschen auf der Flucht sein. Und wenn der Klimawandel nicht aufgehalten werden kann – und das kann er nicht –, werden in den nächsten vierzig Jahren etwa zwei Milliarden Menschen unter Wassermangel leiden. Und Abermillionen werden ihre Heimat verloren haben, denn weite Küstengebiete und ganze Inseln werden im Meer versunken sein.

„Sagen wir es doch mal nüchtern: Das, was sich gegenwärtig als Realpolitik verkauft, ist völlig illusionär, weil es nicht ein einziges der Zukunftsprobleme – Klimawandel, schwindende Ressourcen, wachsender Wasser- und Nahrungsmangel, Ansteigen des globalen Konfliktpotenzials und Raubbau an der Zukunft unserer Kinder – bearbeitet. Ich würde da eher von Krisenverliebtheit der Realpolitiker und -innen sprechen. Krisen helfen ihnen ja auch, sich als rastlose Krisenmanager zu profilieren“, äußerte Harald Welzer in einem Interview (Feddersen 2009). Das Wirtschaftssystem, dem „wir“ unseren Wohlstand (und die nachfolgenden Generationen den sicheren Ruin) verdanken, verlangt nun aber genau nach solchen „Krisenmanagern“. Diese „Narzissten hungern nach Ruhm und Anerkennung – und gehen dafür große Risiken ein“ (Buchhorn et al. 2009). Und solchen Erfolgs- und Tatmenschen müssen wir vertrauen, weil uns gar nichts anderes übrig bleibt. Und weil wir sonst verzagen würden, hören wir auch noch gern den Polit-Zombies zu, von denen es heißt, sie seien „weise“. Gestern waren sie noch irgendwo Erster Bürgermeister oder sonst was – und heute sondern sie an jedem Tag der Woche bei irgendeinem Sender in irgendeiner Talkshow Plattitüden ab, die der letzte Depp von sich geben könnte – wenn man ihn denn dazu einladen würde.

Ja, jeder kann den Weg vom Tellerwäscher zum Millionär zurücklegen. Und da wir schon einen Zweitwagen haben, wird in ein paar Jahren auch jeder Chinese und jeder Inder einen bekommen.

Keine Angst! Es gibt noch Kritiker des Kapitalismus. Einer davon heißt Horst-Eberhard Richter. „Der moderne Kapitalismus ist krank“, gab er bekannt. Alsdann beschwor er die Frauen. Sie könnten sich jetzt wieder als Krankenschwestern bewähren, meinte er. Warum? Die Wertewelt von Frauen ist stärker durch Hilfsbereitschaft und Teilen mit anderen geprägt als bei Männern“, meinte er. Und weil Horst-Eberhard Richter Essentialist des Geschlechterunterschieds und daher der Auffassung ist, dass die Erlösung der Welt nicht fern ist, wenn in Politik und in Wirtschaft erst einmal mehr Frauen als heute das Sagen haben, setzte er alles auf diese Hoffnung: „Das ebenbürtige Einrücken der Frauen in Führungspositionen ist noch mitten im Gang und wird sich vermutlich eher noch beschleunigen“ (Richter 2009). Und das ist auch gut so, denn mit Frau Merkel allein könnte es noch schneller abwärts gehen.

Haben wir also Geduld, dann wird alles besser. Das ist eine alte – und sehr kindliche – Hoffnung, die sich aus der Erfahrung mit der guten Mutter speist, die gar nicht böse sein konnte, weil das Kind alles Böse vom Bild fernhielt, das es sich von der guten Mutter machen musste, wenn es ruhig einschlafen wollte. Ja, so kindlich geht man seit Beginn der kapitalistischen Industriegesellschaft auch kollektiv mit der vermeintlichen „Natur“ der Frauen um. Was Schritt für Schritt abgeschafft wurde, sollte im Heim der guten Mutter überleben. Der Kälte in der Welt dort draußen setzte man die Wärme in der Stube hier drinnen entgegen. Was in der kapitalistischen Warenwelt zugrunde ging, sollte wenigstens drinnen – in der Phantasie- und Wunschwelt – erhalten bleiben. Was in der Welt des Wirtschaftens kontraproduktiv wurde, sollte in der Familie weiter gelten: lebenslange Bindungen. Ja, das Bild der Mutter-Hausfrau musste konservativ entworfen werden, wollte man den Glauben an das Verlorene nicht auch noch verlieren: den Glauben an das Mitleid, die Treue, die Fürsorge die Heimat – und an all die Menschen, die man von Kindheit an kannte. Sie konnten sich doch nicht in alle Winde zerstreuen? Doch! In der wirklichen Welt würde sich jeder Unternehmer ruinieren, der die Arbeitsplätze (und damit die Arbeiter) behielte, die der Konkurrent wegrationalisierte. Der Arbeiter ist kein Leibeigener. Der Arbeiter ist frei. Der Arbeiter kann bleiben, wo er will.

Anders die ideale Mutter. Sie garantiert das „Ewigweibliche“. Und so wurden die Frauen auf das Ewigbleibende eingeschworen und mit einer Bürde beladen, die keine reale Frau auf Dauer ertragen kann. Die Frauen wurden dazu erzogen, sich selbst als Beweis des Besseren, als Garantinnen der Treue miss zu verstehen, während die Männer hinaus ins feindliche Leben stürmten. Das Gedicht, in dem Schiller diese moderne kulturelle Geschlechterpolarität festhielt, war nicht etwa als Parodie auf die (durch die wirtschaftliche Entwicklung längst überholte) Aufgaben- und Rollenverteilung gedacht, es sollte ein Loblied auf die „Natur“ (der Frauen) sein:

Feindlich ist des Mannes Streben,

Mit zermalmender Gewalt

Geht der wilde durch das Leben,

Ohne Rast und Aufenthalt.

Was er schuf, zerstört er wieder

[…]

Aber mit zauberisch fesselndem Blicke

Winken die Frauen den Flüchtling zurücke […].

In der Mutter bescheidener Hütte

Sind sie geblieben mit schamhafter Sitte,

Treue Töchter der frommen Natur.

(Friedrich Schiller – Würde der Frauen)

 

Im Bild des vorwärts rasenden Mannes, der im Namen des Fortschritts Zerstörung hinterlässt, ist jenes Prinzip dargestellt, das Goethe in der Gestalt des Faust dramatisiert hat: Fortschritt um jeden Preis – auch um den Preis der Vernichtung lebenslanger Bindungen. Goethe war Realist. Und deshalb verbrennt in seiner Tragödie das ewig treue Paar Philemon und Baucis in der bescheidenen Hütte, die Faust dem Erdboden gleichmachen lässt, weil sie dem Fortschritt im Wege steht. Goethe war aber auch ein Menschenfreund. Und deshalb tröstete er sich, Horst-Eberhard Richter und uns alle mit einem Blick gen Himmel, aus dem die Stimme des Engels ertönt:

 

Gerettet ist das edle Glied

Der Geisterwelt vom Bösen,

Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen.

Und hat an ihm die Liebe gar

Von oben teilgenommen,

Begegnet ihm die selige Schar

Mit herzlichem Willkommen.

(Goethe – Faust II)

 

Tja. Und wer trotz alledem nicht an Wunder glauben kann, der wundert sich auch nicht, dass wir das Zeitalter der Vernunft hinter uns gelassen haben und in einem neuen Zeitalter des Glaubens (und der Religionskriege) angelangt sind. Und so können wir nun wieder alles, was uns Angst macht, in den Bösen lokalisieren, die wir zu diesem Zweck erschaffen müssen.[i]

 

Literatur

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Ziegler, J. (2000). Die tödliche Gier nach Geld (Interview). der blaue reiter. Journal für Philosophie Nr. 11 (1/2000), S. 60-64.

 

Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in: Konkursbuch 50, 2012, S. 115-146.

 

 

[i] Der vorstehende Text beruht auf zwei Vorträgen, die hier überarbeitet und erweitert worden sind: 1. Rock Pop Sexpol. 1968 und die Sexualität, gehalten am 16.01.2009 in der Reihe Erinnern oder Verdrängen? 1968 – heute; Gesellschaft für Psychoanalyse Innsbruck – Universität Innsbruck. 2. Brennende Gier – Versengte Seele. Psychosoziale Aspekte der Weltwirtschaftskrise, gehalten im Rahmen des 67. Psychotherapie-Seminars Freudenstadt, 24.-27.09.2009.