Über Sigmund Freud, das Tragische und das Trauma

 

von Bernd Nitzschke

  

Heinz Politzer: Freud und das Tragische (hg. und eingeleitet von Wilhelm W. Hemecker). Edition Gutenberg Wiener Neustadt 2003

 

André Karger, Rudolf Heinz (Hg.): Trauma und Gruppe. Psychoanalytische und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Psychosozial-Verlag Giessen 2004

 

Idith Zertal: Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit. Wallstein Verlag Göttingen 2003

 

Lydia Marinelli (Hg.): Psychoanalytisches Wissen. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (14. Jg., Heft 2). Turia & Kant Wien 2003

 

Moshe Zuckermann (Hg.): Geschichte und Psychoanalyse. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXII. Wallstein Verlag Göttingen 2004

 

Else Pappenheim: Hölderlin, Feuchtersleben, Freud. Beiträge zur Geschichte der Psychoanalyse, der Psychiatrie und Neurologie (hg. und eingeleitet von Bernhard Handlbauer). Nausner & Nausner Graz/Wien 2004

 

Raimund Bahr: Marie Langer, Biographie. 1910 WienBuenos Aires 1987. Edition Art & Science St. Wolfgang 2004

 

 

 

Nichts bewegt sich. Alles bleibt gleich. Stimmt das? Ja, sagt Freud: „Wunschregungen, die das Es nie überschritten haben, aber auch Eindrücke, die durch Verdrängung ins Es versenkt worden sind, sind virtuell unsterblich, verhalten sich nach Dezennien, als ob sie neu vorgefallen wären“ (Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1933], GW XV, S. 80). Stimmt das? Sind archaische Wünsche und fixierte Erinnerungen tatsächlich für immer unantastbar? Nein, sagt Freud. „Als Vergangenheit erkannt, entwertet und ihrer Energiebesetzung beraubt können sie (…) werden, wenn sie durch die analytische Arbeit bewußt geworden sind, und darauf beruht nicht zum kleinsten Teil die therapeutische Wirkung der analytischen Behandlung“ (ebd., S. 80f.). Wo Es war, soll Ich werden. Psychoanalytisches Wissen wird also dem Meer der zeitlosen Wünsche abgerungen. Ich erinnere mich, also bin ich.

 

Doch nichts wird so erinnert, wie es war. Alle Erlebnisse werden gedreht und gewendet, bis sie zu der Geschichte passen, die ich konstruiere, um in das Spiel, das Leben heißt, nachträglich Sinn zu bringen. In dieser Tragödie, deren Ende schon beschlossen ist, bevor ich (der Held meiner Geschichte) die Bühne überhaupt betreten habe, spielt ‚Ich’ die Hauptrolle. Das ist zumindest die Illusion, an die ‚ich’ glaube. Illusionen helfen aber nicht weiter. Das hilft weiter: „Erkenne dich selbst!“ Und das soll hilfreich sein, obgleich der Held (Ödipus), der alles wissen wollte, am Wissen über sich selbst zerbrach? Schließlich mußte doch auch Freud feststellen, daß die Macht der Vernunft eine Illusion ist. Was läge näher, als Freud, den Aufklärer, als Don Quichotte zu charakterisieren, der den Kampf gegen die Windmühlen (die Illusionen) des „gesunden“ Menschenverstands aufnahm – und verlor?

 

Wer Freud nicht als „Figur alttestamentarischer Tragik betrachte“, mißverstehe ihn, schrieb Heinz Politzer, der Kafka-Forscher, 1977 an Alexander Mitscherlich, den Psychoanalytiker. Politzer arbeitete gerade an einem Projekt, das man wohl auch als versteckte Antwort auf Charles E. Maylans antisemitisch gefärbte Schrift Freuds tragischer Komplex (1929) verstehen kann. Im Laufe des Jahres 1978 wollte er fertig werden – doch dann kam ihm der Tod zuvor. Politzer, der aus Wien stammte, starb am 30 Juli 1978 in Berkeley, wohin er vor den Nazis geflüchtet war. Wilhelm W. Hemecker hat seine nachgelassenen Fragmente sorgfältig kommentiert und unter dem Titel Freud und das Tragische editiert. So wird Freud als Kolonisator erkennbar, der dem Meer der zeitlosen Wünsche immer neues Land abrang und dabei ganz unerwartet dem Tod, der jede Zeit negiert, begegnete: „In diesem Sinn ist das Todesprinzip nichts als die letzte Steigerung des ‚Es’, das Freud überwinden wollte, indem er ihm das Bewußte, so weit er dies eben vermochte, entgegensetzte“ (Politzer). Zeitlosigkeit ist die Sache des Todes – und wir sind sterblich. Doch dagegen sträuben wir uns. Wir wollen ewig leben.

 

Also phantasieren wir: wer töten kann (wie der Tod), ist allmächtig (wie der Tod). „Fazit: wäre ich selbst der Tod, so wäre ich, so wie dieser von sich selbst ausgenommen sei, von diesem ausgenommen, kurzum: absolut“ – schreibt Rudolf Heinz in dem von ihm gemeinsam mit André Karger herausgegebenen Band Trauma und Gruppe. Deshalb versuchen die Menschen Herr zu werden über den Tod – indem sie andere Menschen töten. Und deshalb ist der Tod der Vater jeder Realität – und die Mutter aller Illusionen. Wie André Karger mit Rekurs auf Freud zeigt, stehen Traumata am Ursprung der „Kultur“, durch die sie überwunden werden sollen. Und warum setzt sich dann „das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte“ (Nietzsche – Geburt der Tragödie) doch immer weiter fort?

 

Weil wir in einer „Kultur“ leben, die an ein „ewiges“ Leben glaubt. Weil wir an ein Paradies vor der Zeit und an ein Leben nach dem Tod glauben – glauben wir an ein Heil, das vor jeder Zeit lag, und an ein Heil, das am Ende aller Zeiten wiederkehren soll. Deshalb begreifen wir die historische Zeit, die einzig reale Zeit, als heil-lose Zwischen-Zeit. Damit entwerten wir das Leben auf Erden, für dessen Mühsal wir Ersatz suchen in der Illusion eines Lebens im Himmel. Diesen Wahn-Sinn könnte nur die Trauer beenden, die die Unumkehrbarkeit der Zeit und damit die End-Gültigkeit der Traumata anerkennt. Anders als die pathologische Trauer, die nicht enden kann, weil sie das Glück außerhalb aller Zeiten wieder holen will, beruht Trauer, die ein Ende findet, auf der Bereitschaft zum Verzicht auf Wieder-Holung. Das Wissen, daß Traumata nicht ungeschehen zu machen sind, und die Fähigkeit zum Verzicht auf die Erfüllung des Wunsches, verlorenes Glück zu re-konstruieren, wären also die Aufgaben menschenwürdiger „Kultur“.

 

Das Buch Nation und Tod, das die israelische Historikerin Idith Zertal ihrem Vater gewidmet hat, „der gegen die Nazis kämpfte“, verdankt seine Überzeugungskraft eben dieser Fähigkeit zur Trauer. Die ungeteilte Sympathie der Autorin gehört den Ermordeten und den Überlebenden der Shoa, Menschen also, die gelitten haben – und leiden. Entschieden wendet sie sich deshalb gegen jeden Versuch, dieses Leid für politische Propagandazwecke zu instrumentalisieren. So verurteilt sie das „synthetische, zu offiziellem Nationalheiligtum deklarierte Erinnern, das der Staat Israel für seine eigenen Zwecke schuf“. Und so versteht sie – in Übereinstimmung mit Hannah Arendt – auch den Eichmannprozeß: als Ben-Gurions „letztes großes nationales Projekt“, das der Identitätspolitik dienen sollte. Ben-Gurion Parole „Araber gleich Nazis!“ weist sie entschieden zurück. Sie wurde später immer wieder aufgegriffen; zum Beispiel während des Sechs-Tage-Kriegs, als es in der Tageszeitung Ha’aretz hieß: „Für uns ist Nasser Hitler“. Oder durch Hans Magnus Enzensberger, den deutschen Wiederkäuer der alten Propagandafloskel, der anläßlich der Vorbereitung des Irak-Kriegs von 1991 Saddam Hussein als Hitlers vorerst letzten „Wiedergänger“ entdecken durfte. Idith Zertal weist derartige Vergleiche schon deshalb zurück, weil damit Hitlers einzigartige Verbrechen immer wieder banalisiert werden. Auschwitz – „Israels ultimative Trumpfkarte bei seinen Beziehungen zu einer Welt, die immer wieder aufs Neue als antisemitisch und auf ewig feindselig definiert“ werde – sei aus demselben Grund nicht als Joker in der politischen Auseinandersetzung mit den Palästinensern einzusetzen. So hatte schon Abba Eban die Waffenstillstandslinien von 1949 als „Auschwitz-Grenzen“ bezeichnet, um auf diese Weise Israels Staatsgrenze moralisch unangreifbar zu machen (ein Sprachspiel, das Dan Diner [Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines „neuen Antisemitismus“ in: D. Rabinovici et al.: Neuer Antisemitismus? 2004, S. 322] unlängst wieder aufgriff, um durch Rückbezug auf den Holocaust auch noch die heutige „israelische Nuklearbewaffnung“ zu legitimieren).

 

Idith Zertal zitiert aus einer Rede, die Ben-Zion Dinur, Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und damaliger Minister für Erziehung und Kultur, bei einer Debatte über das Gesetz zum Gedenken an die Shoa und das Heldentum – Yad vaShem am 18. Mai 1953 in der Knesset hielt. Dinur brachte darin Sinn und Zweck des Erinnerns klar zum Ausdruck: „Es besteht kein Zweifel, daß im Leben eines Individuums die Erinnerung das ‚Ich’ eines Menschen ausmacht, da das ‚Ich’ des Menschen nur in dem Maße existiert, in dem er all seine Erlebnisse und Erfahrungen zu einer Kette auffädelt. Gleiches gilt für das Gedächtnis einer Nation. Das ‚Ich’ einer Nation existiert nur in dem Maße, indem sie über ein Gedächtnis verfügt und in der Lage ist, ihre Erlebnisse der Vergangenheit zu einer Einheit zusammenzufügen.“ So können wir mit Berufung auf die Taten von gestern unser Tun von heute rechtfertigen und unserem Leben von morgen Sinn geben. Deshalb verdichten wir die Ereignisse von gestern zu einer Geschichte, die Halt in der Gegenwart und eine Perspektive für die Zukunft bietet.

 

Garant hierfür ist das Gedächtnis. Doch die Kohärenz der historischen Erzählung ist nicht mit der Vollständigkeit der Erinnerung gleichzusetzen. Kollektiv tradierte wie individuell konstruierte Geschichten folgen nämlich nicht dem Wunsch, alles zu wissen. Vielmehr erfüllen sie den Wunsch: so – und nicht anders – will ich (soll ‚Ich’) sein. Erinnern bedeutet deshalb: eine Auswahl treffen. Nur so ist die Geschichte zu haben, die vor peinigenden Erinnerungen schützt. Negativ ausgedrückt besteht der Sinn der auf diese Weise kohärent konstruierten Geschichte darin, nicht noch einmal peinliche Affekte erleben zu müssen. Positiv ausgedrückt besteht der Sinn dieser Geschichten darin, erhabene und erhebende Gefühle erleben zu können. Das erzeugte Nicht-Wissen bezieht sich deshalb auf Ereignisse, deren Erinnerung derartige Gefühlsaufwallungen unmöglich machen würde. Doch Vergessen ist nicht gleichzusetzen mit Wirkungslosigkeit. Denn der nicht-erinnerte Teil der Geschichte wirkt fort, auch wenn er nun nicht mehr mit Sprache, sondern in Gestalt neuer Handlungen ‚erzählt’ wird. Freuds Programm der Aufklärung bezieht sich deshalb auf die Vervollständigung des Gedächtnisses. Denn nur so ist der Wiederholungszwang zu brechen, der die Reinszenierung traumatischer Erfahrungen beherrscht. Der erste Teil dieses therapeutischen Programms besteht deshalb in einer Methode des Erinnerns, die der Form des Erinnerns widerspricht, die allzu kohärente Geschichten liefert: „Wähle nicht aus!“ Die mit Hilfe dieser Methode (des freien Einfalls) wieder gewonnen Erlebnisse wären in einem zweiten Schritt „durchzuarbeiten“, nachträglich emotional zu bewältigen, und in einem dritten Schritt in eine Geschichte zu integrieren, die es nicht mehr erlaubt, „Gut“ und „Böse“ ein-deutig zu trennen, positive und negative Gefühle ein-deutig zu erleben. So ergibt sich eine vollständig(er)e Geschichte, die nur mit „gemischten“ Gefühlen anzuhören ist. Und so ließe sich Freuds Programm zusammenfassen: Erkenne dich selbst als der andere, der du nicht sein willst.

 

Psychoanalytisches Wissen – so lautet denn auch der Titel eines Sonderhefts der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, das u. a. einen Beitrag enthält, in dem Andreas Mayer Anregungen nachgeht, die zum psychoanalytischen Setting geführt haben. Neben philosophischen Einflüssen (Schopenhauer, Nietzsche) waren es vor allem Freuds Kenntnisse der Hysterielehre, des Hypnotismus und der Assoziationspsychologie, die ihm den praktisch-therapeutischen Zugriff auf bislang unverständliche Ausdrucksformen menschlicher Affektivität ermöglichten. Die Zustände veränderten Bewußtseins, mit denen sich der Hypnotismus befaßt, haben Ähnlichkeiten mit dem Traumerleben. Und da der Traum wie die Symptome und die Fehlhandlungen zusammengesetzt ist aus dem Wunsch, verpönte Erlebnisse in die Unterwelt zu verdrängen, und dem entgegengesetzten Wunsch, sie doch an die Oberfläche (des Bewußtseins) kommen zu lassen, wurde die Analyse des Traums zum Paradigma der Deutung. In einem weiteren Beitrag zum Sonderheft beschreibt Lydia Marinelli die Wirkung, die die Lektüre der Traumdeutung (1900) und der Psychopathologie des Alltagslebens (1904) auf zeitgenössische Leser hatte. Anstatt Freuds Methode dazu zu verwenden, die eigenen unbewußten Motive zu entdecken, praktizierten „Hilfsdetektive“ im Salon wilde Analysen als Gesellschaftsspiel, um die unbewußten Motive anderer aufzudecken.

 

Auch im wissenschaftlichen Bereich hat die Anwendung der psychoanalytischen Methode jenseits der Couch bisweilen zu fragwürdigen Ergebnissen geführt. José Brunner, Professor am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas in Tel Aviv, zeigt dies am Beispiel allzu kohärenter Geschichten, in denen Verbindungen zwischen Hitlers Kindheitstraumata und Hitlers Wahnsystem und den daraus resultierenden Taten oft allzu kurzschlüssig hergestellt wurden. Im Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte (Band 32), das noch weitere lesenswerte Aufsätze zum Thema Psychoanalyse und Geschichte enthält, kritisiert Brunner aber auch die Autoren, die Hitler jenseits von Psychologie und Geschichte als Dämon in der Hölle lokalisieren und das Leid seiner Opfer sakralisieren wollen. Beispielhaft erwähnt er Äußerungen des Filmregisseurs Claud Lanzmann sowie des Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel: „Lanzmann’s attack on those who seek to understand the prepetrators of the Holocaust, including Hitler, as humans, is joined by Elie Wiesel, who asserts that ‘the Holocaust transcends history and that the dead are in possession of a secret that we, the living, are neither worthy nor capable of recovering’“. Der Un-Mensch Hitler war ein Mensch und seine Un-Taten waren Taten. Und deshalb seien selbst die fehlerhaften psychohistorischen Studien vorzuziehen, die betonen, „that Hitler was a real monster, rather than a mythic one, because he was human – and that in fact he became a monster precisely because he was human”.

 

Ich will noch einen zweiten Aufsatz des Jahrbuchs hervorheben. Darin geht Benjamin Beit-Hallahmi, Psychologieprofessor an der Universität Haifa, den Wurzeln des Projekts zur Erforschung autoritärer Persönlichkeitsstrukturen nach, das in den 1940er Jahren vom American Jewish Committee finanziert und u. a. von Theodor W. Adorno, dem 1933 die Venia legendi der Universität Frankfurt entzogen worden war, und Else Frenkel-Brunswik, die bis zum „Anschluß“ Österreichs 1938 am Institut für Psychologie der Universität Wien geforscht hatte, durchgeführt wurde. Die Wurzeln reichen bis zur Marx-Freud-Debatte der 1920er und 1930er zurück (http://www.werkblatt.at/nitzschke/text/marx.htm), aus der auch die mit den Namen Horkheimer und Fromm verbundenen Untersuchungen über Autorität und Familie hervorgegangen sind. Wilhelm Reichs Arbeiten zum Wechselverhältnis der politischen, familiären und psychopathologischen Faktoren, die den autoritären Charakter bedingen, waren Ausgangspunkt dieses langen Weges, weshalb Beit-Hallahmi Reich, der in deutschen psychoanalytischen Fachzeitschriften (wie der Psyche) oft noch als Querulant und Dissident verunglimpft wird, als einen Pionier würdigt, der schon in der Massenpsychologie des Faschismus (1933) Hitlers Ideologie als politische (Ersatz-)Religion beschrieben habe. Inzwischen ist die These, daß anti-demokratische Gesinnung und religiöser Fanatismus (heute würde man sagen: Fundamentalismus) Facetten der autoritären Persönlichkeit sind, durch zahlreiche empirische Studien belegt. „Hundreds of studies since the 1940s have reported that religiosity correlated positively with authoritarianism and dogmatism. It has also been found correlated positively with ethnocentric prejudice.” Doch daß dem verbalen Bekenntnis zur Demokratie nicht notwendig die Ächtung anti-demokratischer Regimes folgt, merkt Beit-Hallahmi auch noch an: “Since World War II, the United States has been allied with a long list of regimes that could only be described as proto-fascist, fascist, authoritan, or totalitarian. Suffice to mention that no less a dictator than Saddam Hussein was actually put into power by the CIA, and then supported for many years, while being responsible for the death of millions.”

 

Das von Bernhard Handlbauer herausgegebene Buch Else Pappenheim: Hölderlin, Feuchtersleben, Freud – Beiträge zur Geschichte der Psychoanalyse, der Psychiatrie und Neurologie enthält Aufzeichnungen aus Gesprächen sowie das schmale Werk einer Emigrantin, in deren Leben die politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu tiefen Einschnitten geführt haben. Else Pappenheim, die 1911 in Wien in einer assimilierten jüdischen Familie geboren wurde, studierte Medizin und setzte ihre Ausbildung in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung fort, der ihr Vater bis zu seiner Emigration 1934 nach Palästina angehört hatte. Eine Schwester des Vaters, Marie Frischauf-Pappenheim, gründete gemeinsam mit Wilhelm Reich in den 1920er Jahren die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“ in Wien. Die Mutter, die sich früh vom Vater scheiden läßt, übersiedelt nach dem „Anschluß“ zu Verwandten nach Bonn – ein verhängnisvoller Schritt, der ihr das Leben kostet: Sie entzieht sich 1942 der Deportation in ein Vernichtungslager durch Selbstmord. Zu diesem Zeitpunkt lebt Else Pappenheim bereits seit vier Jahren in den USA, weigert sich aber auch dort, die ihr von den Verfolgern zugedachte Identität anzunehmen. Im Gespräch mit Handlbauer begründet sie, warum sie die „jüdische Identität“ abgelehnt hat, die ihr Hitler „aufoktroyieren wollte“. „Jüdisch“ bedeutet für sie eine religiöse, aber keine Nationen-, Volks- oder gar Rassenkategorie. Und da sie nicht religiös ist, bleibt sie in ihrem Selbstverständnis Weltbürgerin, die ihre sozialistische Überzeugung auch während der McCarthy-Ära in den USA nicht verrät.

 

An der John Hopkins University in Baltimore lernt sie als Mitarbeiterin des Psychiaters Adolf Meyer die amerikanische (oder besser gesagt: die amerikanisierte) Psychoanalyse kennen. Sie schildert ihre Eindrücke im Gespräch mit Handlbauer so: „Was der Analyse hier geschehen ist, ist ja unmöglich. (…) Man darf dem Patienten nicht die Hand geben, ihn nicht fragen ‚Wie geht es Ihnen?’. Wenn er krank war, durfte man nichts sagen, nicht einmal ‚Es tut mir leid’, wenn jemand gestorben ist, auch nicht ‚Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Prüfung’ oder vielleicht sogar zum Geburtstag, sondern man sitzt nur da wie ein Steinblock hinter dem Patienten.“ Else Pappenheim und Hermann Frischauf, dessen Mutter in Auschwitz ermordet worden ist, heiraten 1946, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt ist, in dem er als US-Soldat gekämpft hat. Sie unterrichtet nun Psychiatrie in Yale und wird Gründungsmitglied der Western New England Psychoanalytic Society. 1952 geht sie nach New York, wo sie ihre psychoanalytische Praxis aufbaut. Sie wird Mitglied des New Yorker Psychoanalytischen Instituts, jedoch nie zur Lehranalytikerin ernannt. Das hatte vermutlich auch etwas mit ihrer Aufrichtigkeit zu tun, die mit institutionellem Klüngel schlecht vereinbar blieb. Aus Arbeiten (Politik und Psychoanalyse in Wien vor 1938 und Von Wien nach New York), die in dem Buch abgedruckt sind, erfährt man denn auch, wie die Neutralität, die dem Psychoanalytiker in der Behandlungssituation gut ansteht, im institutionellen Raum mißbraucht worden ist. Marie Langer, eine Ausbildungskandidatin am Wiener Institut, mit der Else Pappenheim befreundet war, wird 1936 im austro-faschistischen Staat wegen „Arbeit für den Frieden“ verhaftet. „Am nächsten Tag kam von Dr. Paul Federn (Freuds damaliger Stellvertreter – B. N.) der Ukas: Entweder absolut keine politische Betätigung oder keine Analyse.“ Neutralität statt Widerstand: so lautete die Parole eines vorhersehbaren Scheiterns.

 

Raimund Bahr hat mit Wegbegleitern und Kollegen, Freunden und Familienangehörigen der 1910 in Wien geborenen Marie Langer gesprochen. Aus diesen Gesprächen sowie anderen biographischen Zeugnissen hat er ein Buch kompiliert, das wichtige Stationen des Lebenswegs dieser engagierten Psychoanalytikerin aufzeigt. Es gelang ihr nur mit Mühe (und der Unterstützung ihres Lehranalytikers Richard Sterba), nach der Freilassung aus der Haft den Ausschluß als Kandidatin der WPV zu vermeiden. Kurz darauf geht sie nach Spanien, um sich als Ärztin der Internationalen Brigaden an der Verteidigung der Republik gegen die Faschisten zu beteiligen. Nach der Niederlage der Linken emigriert sie über Uruguay nach Argentinien. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern der Argentinischen Psychoanalytischen Gesellschaft, die als IPV-Zeigvereinigung anerkannt wird. Sie bleibt politisch engagiert. 1971 hält sie in Wien, ihrer Geburtsstadt, beim 27. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß den Vortrag psychoanálisis y/o revolución social, den keine psychoanalytische Fachzeitschrift drucken wollte. Er erschien in deutscher Übersetzung in einer kleinen österreichischen Zeitschrift unter dem Titel Psychoanalyse – in wessen Dienst? (Neues Forum 1971, Heft 213, S. 39-42). Marie Langer zieht darin Parallelen zwischen den Psychoanalytikern, die jetzt den Protest gegen den Vietnam-Krieg als Ausdruck einer Rebellion der Söhne gegen die Väter psychologisieren und auf diese Weise politisch zu neutralisieren versuchen, und den Psychoanalytikern, deren ‚un’-politische Haltung in den 1930er Jahren nicht dazu beitrug, die faschistischen Regimes zu delegitimieren. „Wenn wir uns darauf beschränken, die soziale Krise nur in Form des (psychischen) Widerstands zu betrachten“, so fährt sie fort, „dann werden wir die Fehler der Dreißiger Jahre wiederholen“. Nach dem Wiener Kongreß tritt sie aus der IPV aus. 1974 flüchtet sie aus Argentinien. Ihr Name steht auf den Listen der Todesschwadronen, die von der CIA finanziert werden. Marie Langer emigriert nach Mexiko. Ab 1981 engagiert sie sich in Nicaragua – jetzt ist sie schon über siebzig Jahre alt – auf Seiten der Sandinisten. Später wird sie sagen: „In Nicaragua bin ich absolut zeitlos. Und es ist so, als hätten wir den Spanischen Bürgerkrieg nicht verloren, und ich wäre in Spanien im Wiederaufbau.“ Diese Äußerung erweist einmal mehr die Kraft des Wunsches nach Wiederholung. Doch auch diese Illusion scheitert: CIA-finanzierte „Contras“ destabilisieren Nicaragua, der „Wiederaufbau“ ist beendet. Nach ihrer Rückkehr stirbt Marie Langer 1987 in Buenos Aires.

 

Die vorstehende Rezension ist erschienen in: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung, 9. Jahrgang, Heft 1, 2005