Bernd Nitzschke

Ein Mann auf der Suche nach dem Vater:

Lebenslanges Leiden und der Wille zur Macht - über das Leiden

(zu Friedrich Nietzsche)

 

Wenige Wochen vor der bevorstehenden Trennung von Mutter und Schwester wegen der beginnenden Internatszeit in Schulpforta schreibt der knapp vierzehnjährige Friedrich Wilhelm Nietzsche einen rühren­den Brief an seine Tante Rosalie in Plauen, in dem er sie um Auskunft bittet: «Da ich jetzt meine Biographie schreiben will, bemerke ich mit Schrecken, daß ich über das Leben des Papa [...] in großer Ungewißheit bin und fast keine Data weiß» (August 1858). Der Abschied vom Elternhaus erweckt das Bedürfnis der Erinnerung. Das Bild des Vaters und die eigene Lebensgeschichte sollen rekonstruiert werden. Doch am Ende der «Biographie», die schließlich nur noch einen – enttäuschenden – «Vater» (Richard Wagner) enthält, steht der Zusammenbruch. Dazwischen die lebenslang vergebliche Suche nach dem Vater: «Ich weiss freilich aus Erfahrung fast eben so wenig davon, was es heisst einen Vater zu verlieren als einen Vater zu besitzen. Dafür ist mir mein Jugendleben innerlich schwerer und bedrückender geworden als billig ist», heißt es in einem Brief an Gustav Krug (6. 7. 1874), als dessen Vater stirbt (und noch bevor der Ersatz-Vater, Wagner, verworfen werden mußte). Da er ihn als «Vater verehre», heißt es in einem Brief an Wagner, feiere er an dessen Geburtstag zugleich die eigene «Geburt» (20. 5. 1874) – und «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der [Wagnerschen; B. N.] Musik» sollte denn tatsächlich auch in der Turi­ner Tragödie zur Jahreswende 1888/89 ihren Abschluß finden. Früh, bereits beim Abschied von Mutter und Schwester, künden sich die dunklen Wolken, die über der Zukunft liegen, an. In der «Biographie» des Vierzehnjährigen, die stückweise an den Jugendfreund Pinder geschickt wird, lesen wir: «Es war an einem Dienstag Morgen, als ich aus den Thoren der Stadt Naumburg herausfuhr. Die Morgendäm(m)erung lag noch rings auf den Fluren [...]. Auch in mir herrschte eine solche Dämmerung. [...] Die Schrecken der bangen Nacht umlagerten mich und ahnungsvoll lag vor mir die Zukunft in grauen Schleiern gehüllt. Zum ersten Male sollte ich mich von dem elterlichen Hauße auf eine lange, lange Dauer entfernen. Unbekannten Gefahren ging ich entgegen; der Abschied hatte mich bang gemacht und ich zitterte in Gedanken an meine Zukunft. [...] daß ich meine lieben Freunde verlassen sollte, daß ich aus den gemütlichen Verhältnissen in eine neue, unbe­kannte, starre Welt treten sollte, beengte meine Brust und jede Minute wurde mir schrecklicher, ja als ich Pforta hervorschimmern sah, glaubte ich in ihr mehr ein Gefängniß, als eine alma mater zu erkennen» (6. 2. 1859). Das schreibt der spätere unerbittliche Kritiker der deutschen Bildungsanstalten, der Kartograph einer «neuen, unbekannten, starren Welt», die so sehr mit seiner Philosophie verbunden ist wie ihr Gegenstück, ihr Gegenentwurf – das Loblied auf ein heroisch akzeptiertes Leben, auf eine mit Leben erfüllte Welt, der die innere Welt Nietzsches, die lebenslangen Depressionen, die immer wiederkehrenden Selbstmordgedanken, über die die Briefe Auskunft geben, so ganz und gar nicht entspricht.

Wenn auch die «Biographie» des Jugendlichen nur in Bruchstücken erhalten ist, die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari gesammelten Briefe Nietzsches (1986) stellen auf ihre Art eine Autobiographie dar: Ein nahezu einzigartiges Dokument einer lebenslangen Krankengeschichte enthüllt bis in subtile, private Einzelheiten hinein die Genese einer Persönlichkeit und eines Werkes. Schließlich wären die Briefe auch zu lesen als fortlaufender Kommentar zu den Werken, deren Linien so vielfältig miteinander und mit dem Leben des Autors verflochten sind. Ich zeichne einige dieser Linien nach und verzichte bewußt auf psychoanalytische Termini, um Nietzsche möglichst authentisch, un­gestört zu Wort kommen zu lassen.

Mit dem Abschied vom Elternhaus beginnt ein «grausames Post- und Reisespiel» (September 1869, an Franziska und Elisabeth Nietzsche). Es endet erst, als der Sohn und Bruder wieder in den Armen von Mutter und Schwester ist – geistig umnachtet, ein Pflegefall. Worüber aber in den Briefen aus der Basler Zeit und aus den Wanderjahren immer wieder, in nahezu monotoner Gleichförmigkeit die Rede ist, das findet sich schon in den Briefen, die der Jugendliche aus Schulpforta nach Hause schickt: Einsamkeit, Wehmut, Trennungsschmerz, Heim­weh, Nachrichten über Kopf-, Magen- und Augenbeschwerden. Von Erkältungen – nicht aber von «Erwärmungen», wie es einmal heißt, wird vielfach gesprochen. Ein Wanderer und sein Schatten, die immer gegenwärtige psychische und physische Krankheit, sind auf der Suche nach Halt, nach Kraft, nach Gesundheit, nach all dem, was die Philosophie Nietzsches später verklären, mit nahezu religiöser Inbrunst verkünden wird. Der einundzwanzigjährige Student scheint den ersehnten Halt endlich gefunden zu haben: den «ersten und einzigen Erzieher», also Schopenhauer. In dessen Pessimismus, in dessen Plädoyer einer Askese als Grundvoraussetzung für Ethik und Erkenntnistheorie glaubt Nietzsche ein Rüstzeug zu finden für den Weg durch ein be­schwerliches, ängstigendes, zunächst verneintes, schließlich empa­thisch bejahtes Leben. Besonders imponieren dem jungen Studenten Schopenhauers Flüche gegen verzopfte Gelehrsamkeit und verbeam­tete Philosophie. Noch kurz vor der überraschenden, durch Ritschl beförderten Berufung nach Basel hatte sich Nietzsche, gemeinsam mit dem Freund Rohde, als «philosophischer Flaneur» (16. 1. 1869) in Pa­ris gesehen. Doch dann schlägt der «Teufel <Schicksal>» in Gestalt «einer philologischen Professur», wie es im selben Brief an Rohde heißt, zu; noch bevor er in Basel angekommen ist, zeigt das halbe Herz Stolz auf den Erfolg, die andere Hälfte aber hat Angst vor der drohenden «Philisterei». Wenigstens reist Schopenhauer im Gepäck nach Basel mit. Und er ist das Band, das alle alten und neuen Freude zusammenhalten soll: Deussen und Jacob Burckhardt; Gersdorff und Rée; Rohde und Richard Wagner. Sie alle sind glühende Schopenhauer-Verehrer, und jeder neue Freund wird zunächst daraufhin befragt, wie er es denn mit Schopenhauer halte. Das ist in diesem Falle die Gretchenfrage, bevor Nietzsche selbst das Band zerreißt, sich von Schopenhauer abwendet. Eine schmerzhafte, mit vielen körperlichen und seelischen Leiden verbundene Konvulsion, die in den Briefen aus der Basler Zeit ihre Spuren hinterläßt, ist Zeichen der Abkehr von Schopenhauers «idealer» Metaphysik und Wagners christlich-mystischer Musik, wie die geäu­ßerten Umwertungen des früher Verehrten nunmehr lauten.

Noch vor seiner Basler Zeit hatte Nietzsche sein erstes kriegerisches Abenteuer als reitender Artillerist hinter sich gebracht. Es endete – wie fast alle Handlungen seines Lebens – als Fiasko: « [...] meine Kriegerlaufbahn ist nicht gerade glücklich von mir in Scene gesetzt worden [...]. Eines Tages mißlingt mir in der Reitstunde ein schnell ausgeführter Sprung aufs Pferd; ich traf mit der Brust hart auf den Vorderzwiesel und spürte in der linken Seite einen zuckenden Riß» (22. 6. 1868, an Gersdorff). Eine langwierige Verwundung, schließlich Dienstuntauglichkeit sind die Folgen. Aber bereits vor diesem Mißgeschick war der reitende Artillerist Nietzsche mehr durch Stoizismus als durch Helden­taten aufgefallen. Bisweilen im Stall, «unter dem Bauche des Pferdes versteckt», besänftigte er seinen Groll gegen militärischen Drill durch leise Anrufe: «<Schopenhauer hilf>» (3. 11. 1867, an Rohde). Als er sich, bereits Professor für klassische Philologie in Basel, als Freiwilliger für den Krieg gegen Frankreich zur Verfügung stellt, ist er nur noch als Krankenpfleger einsatzfähig. Aber auch beim zweitenmal scheitert die militärische Karriere innerhalb kurzer Zeit, binnen eines Monats. Der Krankenpfleger wird selbst krank, kommt wegen Ruhr ins Lazarett und rascher als geplant nach Basel zurück. Von hier aus betrachtet er das Kriegsgeschehen mit zunehmendem Widerwillen: «Für den jetzi­gen deutschen Eroberungskrieg nehmen meine Sympathien allmählich ab. Die Zukunft unsrer deutschen Cultur scheint mir mehr als je gefährdet» (12. 12. 1870, an Mutter und Schwester). «Im Vertrauen: ich halte das jetzige Preußen für eine der Cultur höchst gefährliche Macht» (7. 11. 1870, an Gersdorff).

Die Verherrlichung des Willens zur Macht und der Krieg gegen alles Schwache und Kranke – was bedeuten sie für einen Menschen wie Nietzsche, der zeitlebens krank, schwach, hilfsbedürftig, verwundbar und verwundet blieb und daraus in seinen Briefen keinen Hehl macht? Es ist die selbstverordnete bittere Arznei gegen den eigenen, nicht veränderbaren Charakter, gegen den Willen zum Untergang, gegen den «Geist der Schwere» (wie es im «Zarathustra» heißt), gegen die kaum zu bezähmende Sehnsucht nach einem anderen Menschen, gegen die Schwäche, die der Wunsch nach symbiotischer Verschmelzung hinterläßt: «Ich zerschmelze. Kampf, Kampf, Kampf! Ich brauche den Krieg» (27. 5. 1872, an Rohde).

Man wird die Werke Nietzsches durch die Briefe kommentieren müssen, will man sich auf ihn, der stets behauptete, alle seine Gedanken seien zunächst Erlebnisse, «Erleidnisse» gewesen, berufen; will man ihm gerecht werden: «Das Geheimnis aller Genesung für uns ist, eine gewisse Härte der Haut wegen der grossen innerlichen Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit zu bekommen. Von aussen her darf uns wenigstens so leicht nichts mehr anwehen und zustossen; wenigstens quält mich nichts mehr als wenn man so auf beiden Seiten ins Feuer kommt, von innen her und von aussen» (11. 8. 1875, an Malwida von Meysenbug). Wann immer er versucht habe, die Schopenhauersche Mitleidsethik praktisch anzuwenden, sei er ihr Opfer geworden, schreibt Nietzsche einmal. In der Verwundung liegt die Abkehr von Schopenhauer, auch die Abkehr vom Christentum als dem reinsten Ausdruck der Mitleids- und «Sklaven»-Moral begründet. In Schopenhauers Philosophie fand er vielleicht Trost, aber keine Grenze. Das Mitleid löst alle Grenzen auf – und dies bedeutet im Falle Nietzsches: Selbst-Verlust. In seiner neuen, gegen Schopenhauer gewendeten «Kriegs»-ethik sucht Nietzsche eine neue, unbezwingbare Grenze zu finden. Wie bedroht sein psychisches Gleichgewicht, seine Identität ist, weiß er selbst: «Von Zeit zu Zeit muß man sich, durch den Umgang mit guten und kräftigeren Menschen gewissermaßen neu einbinden lassen, sonst verliert man einzelne Blätter und fällt muthlos immer mehr aus­einander» (5. 4. 1873, an Malwida von Meysenbug). Und – stellvertretend für alle seine Freunde (die nach und nach von ihm abfallen oder sich doch zumindest innerlich von ihm zurückziehen) – schreibt er an Rohde: «Eigentlich lebe ich ja durch Euch, ich gehe vorwärts, indem ich mich auf Euch stütze; denn mit meinem Selbstgefühle steht es schwach und erbärmlich, und Ihr müsst mir immer wieder mich mir selber gewährleisten» (7. 10. 1874). Die Moral der Freunde, etwa die Rohdes, entspricht aber nicht der Nietzsches – und dies in einem doppelten Sinne. Sie stehen zunehmend verständnisloser den neuen Moral-Vorstellungen gegenüber; dann aber auch drücken sie ihren Mißmut nicht offen, nicht wahr, sondern hinter dem Rücken Nietzsches aus: «Gedankenseifenblasen» erkennt beispielsweise Rohde in Nietzsches «Jenseits von Gut und Böse», läßt sich aber über die «gigantische Eitelkeit des Verfassers» in einem Brief an Overbeck aus, statt mit dem früheren Freund ein offenes Gespräch zu führen. Offenheit schätzte Nietzsche in eben dem Maße, in dem er Heuchelei und Doppeldeutigkeit (insbesondere im Umgang mit Freunden) haßte. Ein Beispiel hierfür ist die Reaktion auf einen Brief Hans von Bülows, dem bekannten Dirigenten, dem er ein selbst komponiertes Musikstück zur Begutachtung schickt. Bülows Kritik an der Vertonung eines Byron-Textes ist unerbittlich: «Ihre Manfred-Meditation ist das Extremste von phantastischer Extravaganz, das Unerquicklichste und Antimusikalischste was mir seit lange von Aufzeichnungen auf Notenpapier zu Gesicht gekommen ist [...]. Abgesehen vom psychologischen Interesse – denn in Ihrem musikalischen Fieberprodukt ist ein ungewöhnlicher, bei aller Verirrung distinguierter Geist zu spüren – hat Ihre Meditation vom musikalischen Standpunkte aus nur den Werth eines Verbrechens in der moralischen Welt» (24. 7. 1871). Nietzsches Antwort: «Denken Sie [...], daß ich wahrhaft glücklich, auf eine so einfache Art über das Wesen meiner allerletzten Compositionsperiode aufgeklärt zu werden [bin...]. Es steht demnach recht traurig um meine Musik und noch mehr um meine Stimmungen. Wie bezeichnet man einen Zustand, in dem Lust Verachtung Übermuth Erhabenheit durch einander gerathen sind» (29. 10. 1872)? Bülow, der Musiker, hat zugehört; und Nietzsche ist dankbar für das offene Ohr, für das offene Wort, für das Ver­ständnis, das er findet. Er will ein Echo – und bekommt es. Bülow, so scheint es, erfaßt bereits um diese Zeit den inneren Zustand Nietzsches genauer, als die meisten der Freunde, als die Mutter, als die Schwester, denn von ihnen heißt es in den Briefen wiederholt: Seit frühester Kind­heit hätte nie ein menschliches Wort Nietzsche, den Sohn, den Bruder, erreicht. Und, gleichsam als ein Wink, erfährt Freund Rohde, den Nietzsche so gern nach Basel geholt hätte: [...] «der Brief Bülows ist für mich unschätzbar in seiner Ehrlichkeit» (2. 8. 1871). Die «Verbrechen in der moralischen Welt», die Bülow früh vernommen hat, werden spä­ter zu Verbrechen an einer geheuchelten, an einer verbrecherischen Welt, die sich mit Moral als verstecktem Kampfmittel nur tarnt.

Aus der Fülle der Niederlagen, die in Nietzsches Briefen dokumentiert werden, greife ich nur noch die Begegnung mit Lou Andreas-Salomé heraus. Sie bringt Nietzsche an den Abgrund einer Erkenntnis, vor deren Konsequenzen er allerdings zurückschreckt. Die Bindung an die Mutter und an die Schwester erweist sich als zäher, Nietzsche erweist sich als schwächer. Zwar stellt er vorübergehend den Verkehr mit den Naumburger Frauen ein, doch dann nimmt er die alten Bindungen wieder auf, so, als wäre nichts geschehen. Und dies, obgleich die Mutter ihn als eine Schande für das Grab des Vaters bezeichnet hatte, die Schwester ihn – nach dem Scheitern der Beziehung zu Lou – verhöhnt, indem sie aus seinen eigenen Werken zitiert: «Also begann Zarathustras Untergang...»; womit sie, neben aller Beleidigung, auch recht hatte. Die Eifersucht der Frauen beruhigt sich erst wieder, als sie sehen, daß Nietzsche seine Einsiedler-Existenz, von der Lou ihn hätte befreien sollen, erneut aufnimmt; als sie sicher sind, daß sie ihren Halt, den Sohn, den Bruder, nicht an eine andere Frau verlieren. Zwar gibt es viele Briefe (und Entwürfe), in denen Nietzsche seine Enttäuschung an Lou in Gestalt heftiger Vorwürfe gegen sie zum Ausdruck bringt; doch schließlich ist er bereit, Lou zu verzeihen. Als er den Schmerz der Verwundung gelindert glaubt, stochert die Schwester in den frischvernarb­ten Wunden, reißt sie die dünne Haut wieder auf, indem sie dem Bruder das Gerede über Lou hinterbringt. Seine Reaktion fällt heftig aus (in einem Briefentwurf an die Mutter): «Aber ein Jahr nachher auf [diese – B. N.] Dinge zurückzukommen [...] war eine Brutalität sonder Gleichen [...]. Dies nur als Probe von Hundert Fällen, worin sich die verhängnisvolle Perversität meiner Schwester gegen mich gezeigt hat. Im Übrigen weiß ich längst, daß sie nicht eher Ruhe hat, als bis ich todt bin [...]. Wer hat mich so vollständig in Stich gelassen, wie Ihr, und damals, wo ich Trost nöthig hatte, mir mit Verhöhnung und Beschmutzung meines ganzen Lebens und Strebens geantwortet? Ich kenne erst recht, und von Kindheit an, die moralische Distanz, die mich und Euch trennt [...]. Begreift Ihr denn Nichts von dem Widerwillen, den ich zu überwinden habe, mit solchen Menschen, wie Ihr seid, so nahe ver­wandt zu sein! Was bringt mich denn zum Erbrechen [und dies ganz wörtlich, ganz real; B. N.], wenn ich Briefe meiner Schwester lese und diese Mischung von Blödsinn und Dreistigkeit, die sich gar noch mora­lisch aufputzt, hinunterschlucken muß» [Januar/Februar 1884]? Für einen Augenblick zerreißt, ausgelöst durch die Begegnung mit Lou und die damit verbundenen Konflikte und Reaktionen seitens der Ver­wandten, der Schleier der Maja, das Blendwerk der Erscheinungswelt einer Moral, hinter dem der Wille zur Macht (über den Sohn, über den Bruder) sich versteckt hält. Nietzsche erkennt das Dilemma, das keinen Ausweg offen hält. Er wählt ein Gleichnis aus der griechischen Tragödienwelt: Wie er sich auch drehe und wende, er sei entweder als Sphinx oder als Ödipus dem Untergang geweiht. Auf seiner langen Suche nach dem Vater hat er endlich die Seite der Mutter, die Seite der Schwester gefunden, die er nicht sehen wollte. Und er entdeckt, wie «nahe ver­wandt» er dieser Seite ist, wie unmöglich es ist, sie abzuschütteln. Der Mensch, so heißt es im «Zarathustra» (der übrigens Ergebnis einer Verarbeitung der Erlebnisse mit Lou ist, wie Nietzsche wiederholt an­deutet), sei zu überwinden. Nietzsche führt Krieg gegen alle gehaßten Tugenden, deren Verwandtschaft mit seinem eigenen Wesen ihn an die Grenze der Selbstzerstörung bringt. Dem intriganten Charakter der Schwester, die sich in die Gewänder des Moralismus einhüllt, setzt Nietzsche den Charakter Lous entgegen, deren Raubtierhaftigkeit, deren «naiven» Egoismus er zu preisen beginnt. Hatte er sie zuvor idealisiert und war er enttäuscht worden, so idealisiert er jetzt gerade jene Charaktereigenschaften Lous, die ihn verletzt hatten. Am Ende ist der Über­mensch eine Überfrau, die männliche Frau Lou, die dem bigotten Weibchen, der Schwester, als Kontrastbild präsentiert wird. Und so verwandt er im tatsächlichen Sinne seiner Schwester ist, so verwandt fühlt er sich im übertragenen Sinne Lou. Die neue Moral jedenfalls entsteht in Auseinandersetzung mit dem Leiden, das die Begegnung mit Lou hervorgerufen hat.

Der Untergang Zarathustras, den die Schwester nach den Ereignissen von 1882 prophezeite, vollzieht sich in mehreren Etappen. Dabei erhalten alle früher verfaßten Texte neue Vorreden. In einem Brief an Deussen heißt es endlich: «[...] mein ganzes Bisher bröckelt von mir ab» (3. 1. 1888). Schließlich imaginiert Nietzsche ein Bild, das in Turin zur Wirklichkeit wird, als er auf der Straße ein Pferd umarmt. In einem Brief an Seydlitz, wenige Monate vor dem Zusammenbruch geschrie­ben, heißt es: «Gestern dachte ich mir ein Bild aus von einer moralité larmoyante, mit Diderot zu reden. Winterlandschaft. Ein alter Fuhrmann, der mit dem Ausdruck des brutalsten Cynismus, härter noch als der Winter ringsherum, sein Wasser an seinem Pferd abschlägt. Das Pferd, die arme geschundene Creatur, blickt sich um, dankbar, sehr dankbar» (13. 5. 1888). Als Nietzsche einem seiner Phantasie ähnlichen Bild in einer Turiner Straße ein halbes Jahr später tatsächlich begegnet, bricht der Wahnsinn aus. Die Polizei übergibt ihn dem Wirt, bei dem er wohnt. Overbeck bringt ihn nach Basel, die Mutter holt ihn dort ab. Auf der Heimreise erweist sich der Sohn gehorsam, fügsam (wie es auch in den Krankenblättern immer wieder heißt), sehr dankbar. Nur einmal, in einem heftigen Anfall, wendet sich das Blatt; der Sohn droht die Mutter zu erwürgen. Doch der Tobsuchtsanfall ist rasch vorüber; die Heimreise gelingt.

Was die Schwester betrifft, so ist der Haß auf die «rachsüchtige antisemitische Gans» (Mai 1884, an Malwida von Meysenbug) trotz verschiedener Versöhnungsversuche bis zum Ende erkennbar. Die letzte Rache der Schwester vollzieht sich am Werk des geistig umnachteten Bruders, der bis zuletzt versucht hatte, seine Schriften vor dem Zugriff deutschtümelnder, nationalistischer und antisemitischer Schmierfinken zu retten. Die «verfluchte Antisemiterei» (2. 4. 1884) habe ihn schon von Wagner abgehalten, schreibt er an Overbeck, in­zwischen bedroht sie auch sein Verhältnis zur Schwester, zum Verleger Schmeitzner, zum Schwager Dr. Förster. In einem Briefentwurf an die Schwester heißt es schließlich: «Den Juden andererseits wünsche ich immer mehr, daß sie in Europa zur Macht kommen, damit sie ihre Eigenschaften verlieren (nämlich nicht mehr nötig haben) vermöge deren sie als Unterdrückte sich bisher durchgesetzt haben. Im übrigen ist es meine ehrliche Überzeugung: ein Deutscher, der bloß daraufhin, daß er ein D(eutscher) ist, in Anspruch nimmt mehr zu sein, als ein Jude, gehört in die Komödie: gesetzt nämlich, daß er nicht ins Irrenhaus gehört» (5. 6. 1887). Und auf dem letzten Wahn-Zettel, auf der letzten im Brief-Werk veröffentlichten Botschaft des hellsichtig-wahnsinnigen Nietzsche, steht zu lesen: «Wilhelm (der II.; B. N.), Bismarck und alle Antisemiten abgeschafft» (6. 1. 1889). Während die Schwester den Bruder bis zum Tode pflegt, schafft sie jenes Nietzsche-Bild, das ein paar Jahrzehnte später ein Komödiant benutzt, der Deutschland vorübergehend in ein Irrenhaus verwandeln konnte. Es gilt, gerade mit Hilfe des jetzt vollständig zugänglichen Brief-Werkes, Nietzsche, dessen Bild, dessen Philosophie wieder von den Schlacken einer un­heilvollen Geschichte zu befreien, vielleicht sogar – Nietzsche erst noch zu entdecken?

«[...] gegen die Befreier des Geistes sind die Menschen am unversöhnlichs(t)en im Haß, am ungerechtesten in Liebe» , heißt es in einem Brief an Malwida von Meysenbug (11. 6. 1878). Und um ein Wort Nietzsches zu paraphrasieren: Auch hier liegt die Wahrheit nicht in der Mitte zwischen falschen Verächtern und falschen Verehrern, son­dern «ganz woanders». Nietzsche wußte, daß sein Werk zu zahlreichen Mißverständnissen Anlaß geben konnte. Er habe mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft den Bogen gespannt, sagte er; nun könne ein «Kind» (oder eben auch ein Narr) kommen, um von diesem Bogen einen Pfeil, einen sehr gefährlichen Pfeil, abzuschießen. Auch in dieser Hinsicht sollte er sich nicht irren. Er selbst glaubte, nur von ebenbürtigen Geistern recht, tatsächlich verstanden zu werden. An Josef Paneth, einen der engsten Freunde Sigmund Freuds während dessen Studienzeit, schreibt Nietzsche, als er ihm den letzten Teil des «Zarathustra» schickt (Paneth hatte Nietzsche zuvor in Nizza besucht - vgl. ausführlich Hemecker 1990): Später werde vielleicht «Einer – es bedürfte eines Genie’s dazu» (Mai 1884) – kommen, der die nötigen «Augen» dafür habe, sein Werk zu verstehen, um die Aufgabe, die er begonnen habe, fortzuführen. War Freud nicht der «Eine»?

Ein «Anderer», ein Ganz-und-gar-Anderer, der sich neuerdings über Nietzsche, über «Zarathustras Ende» geäußert hat, heißt Anacleto Verrecchia, ein italienischer Germanist, dessen Buch 1986 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Dieses Buch ist ein Ärgernis, aber nicht deshalb, weil es den Nietzsche-Mythos zu zerstören versucht (was ja ein berechtigtes Anliegen wäre), sondern deshalb, weil die gespreizte Eitelkeit des Verfassers nahezu das einzige ist, was an diesem Buch als originell imponiert. Im übrigen ist es so, wie Verrecchia die Nietzsche-Literatur, «mit wenigen Ausnahmen», charakterisiert: unerträglich und unappetitlich, (S. 13). Der Autor ist ein Gesunder, Allzugesunder, der weiß, daß die «Verehrer Nietzsches im allgemeinen ein psychisches Problem haben» (S. 12). «Wie soll man sich im Labyrinth der unvermeidlichen Widersprüche eines kranken Geistes zurechtfinden» (S. 224), fragt er, nachdem er sich bereits über Seiten hinweg vergeblich den Kopf zerbrochen hat, dieses Rätsel zu beantworten. «Nietzsche ist sozusagen einer der größten literarischen Knochen der Geschichte» (S. 348) – und offenbar kann sich jeder Hund daran vergnügen. Würde Verrecchia nicht ausgiebig seine Sprachbegabung selbst rühmen, wäre es unnötig, die Übersetzungsleistungen, die er als Germanist noch ausdrücklich lobt, zu erwähnen. Es finden sich immer wieder Sätze wie der folgende: «Lou war nicht so sehr abwegig als mit sich selbst noch nicht im reinen» (S. 54). Wenn der Übersetzer, Peter Pawlowsky, in einem ebenfalls recht prätentiösen Nachwort vermerkt, hier «werden nicht nur Sprachgrenzen überschritten» (S. 363), so ist ihm recht zu geben. Es werden vor allem die Grenzen des guten Geschmacks immer wieder überschritten. Ich will dies, pars pro toto, an zwei Beispielen demonstrieren: Der Autor zitiert aus einem Brief Nietzsches an Richard Wagner, in dem es heißt, Nietzsche wolle nach Italien gehen: «Völlige Ruhe, milde Luft, Spaziergänge, dunkle Zimmer – das erwarte ich von Italien; mir graut davor, dort etwas sehen oder hören zu müssen» (27. 9. 1876). Dies benutzt Verrecchia, um Nietzsche als einen Ignoranten hinzustellen, der während aller seiner «Aufenthalte in Italien seinem Vorsatz, nichts zu sehen und nichts zu hören, immer treu blieb» (S. 16). Daß das angeführte Zitat nur zu verstehen ist, wenn man den Kontext des Briefes an Wagner mitberücksichtigt, verschweigt der Autor. Nietzsche hatte sich Wagner gegenüber als ein Lei­dender dargestellt, der «Schmerzen über Schmerzen einschluckt», der «alle vier bis acht Tage» dreißigstündige Anfälle hat, von Kopf- und Augenschmerzen befallen, die ihn hindern, zu schreiben und zu lesen, nahezu das Todesurteil für einen Schriftsteller. Wegen der rasenden Schmerzen sucht Nietzsche Linderung in der «milden Luft» Italiens, wohlwissend, daß er sich hüten muß, zu «sehen» oder zu «hören», da jeder plötzliche Reizzuwachs einen neuen Anfall auslösen könnte. Das Argument eines Leidenden dient Verrecchia dazu, ihn als Ignoranten zu verhöhnen. Im übrigen macht sich dieser Autor – nach fast einem Jahrhundert Psychoanalyse – daran, eine «Legende» zu zerstören, de­ren Unsinn so eklatant ist wie das Unvermögen des Autors, sie tatsäch­lich zu analysieren. Gemeint ist die Legende, die Nietzsches Schwester begründet hat: Nietzsche sei bis zum Zusammenbruch in Turin ein nahezu gesunder Mensch gewesen, der wegen Abusus von Schlafmitteln schließlich seinen Geist zerrüttet habe. Die Gewährsleute für Verrecchias Gegenthese sind Möbius und Stekel; beide sind der Ansicht, Nietzsche sei schon lange Zeit vorher psychisch gestört gewesen. Eine weitergehende, sinnvolle Erörterung der Krankheitsgenese wird nicht geliefert. Statt dessen dienen die Verweise auf Möbius und Stekel als Hilfsmittel, Nietzsches Philosophie als die Ausgeburt eines kranken Gehirns zu denunzieren. Dabei gibt der Autor eine Tollheit nach der anderen zum besten, etwa: Nietzsche sei kein Philosoph; er habe sich niemals mit «Erkenntnistheorie» (S. 130) beschäftigt; er habe so über den Menschen gesprochen, «als wäre dieser etwas vom Tierreich völlig Losgelöstes» (S. 132); er habe überhaupt keine originellen Gedanken gehabt; er habe allenfalls dort, wo andere nein sagten, ja gesagt (und umgekehrt); usw. usw. Ich benutze die Gelegenheit des Hinweises auf Nietzsches anhaltende Lese- und Schreibunfähigkeit, die ihn zwingt, die Hilfe von Freunden (etwa die Köselitz’) in Anspruch zu nehmen, die ihm vorlesen und seine Handschriften in eine lesbare Gestalt bringen, zu einer kurzen Anmerkung. Wenn über Nietzsche als Aphoristiker geschrieben wird – auch dies häufig in Form eines Vorwurfs, er habe keinen zusammenhängenden Text zustande gebracht –, so wird ein wichtiger Grund für die Benutzung des Aphorismus fast stets übersehen, eben die Unfähigkeit des halbblinden Nietzsche, längere Zeit zu schreiben. Auch diesbezüglich geben die Briefe Nietzsches wiederholt Auskunft, etwa: «Fahren Sie fort, bei der Corr(ektur) zu winken und zu warnen. Der Boden des Mißverständnisses ist bei dieser Schrift sooft in der Nähe; die Kürze, der verwünschte Telegrammstil, zu dem mich Kopf und Auge nötigt ist die Ursache» (3. 11. 1879, an Köselitz). Über seine «arme stückweise Philosophie», über sich als «unvollstän­diger aphoristischer Philosophus» klagt Nietzsche auch in einem Brief an Rée (August 1881). Die Krankheit zwingt zur Kompensation und läßt Nietzsche (neben Lichtenberg und Schopenhauer) zum bedeutendsten Aphoristiker der deutschen Sprache werden. Gedankensplitter höchster Reinheit oder – um mit Verrecchia zu reden: «lexikalische Knallfrösche» (S. 227).

Ein zweites Beispiel zeigt neben der verfälschenden Interpretation des Briefes Nietzsches an Wagner die Miserabilität der Argumentation Verrecchias noch deutlicher auf. Aus einem Brief an Köselitz anläßlich des Todes von Richard Wagner zitiert der Autor diesen Satz: «[...] ich glaube sogar, daß der Tod Wagners die wesentliche Erleichterung war, die mir jetzt geschafft werden konnte» (19. 2. 1883). Und er suggeriert, Nietzsche habe Wagners Tod gleichsam genossen, um sodann ein nie­derträchtiges Fazit zu ziehen: «Entweder war Nietzsche schon damals verrückt oder ein moralisches Monstrum» (S. 104). Bereits im Brief an Köselitz deutet Nietzsche an, in welcher Hinsicht der Tod Wagners eine «Erleichterung» für ihn bedeutete; in Hinsicht auf das Ende einer langjährigen, qualvollen Beziehung: «Es war hart, sechs Jahre lang Gegner dessen sein zu müssen, den man am meisten verehrt hat, und ich bin nicht grob genug dazu gebaut.» Noch deutlicher heißt es in einem zwei Tage später geschriebenen Brief an Malwida von Meysenbug: «W(agners) Tod hat mir fürchterlich zugesetzt [...]. Trotzdem glaube ich, daß dies Ereigniß, auf die Länge hin gesehn, eine Erleichterung für mich ist. Es war hart, sehr hart, sechs Jahre lang Jemandem Gegner sein zu müssen, den man so verehrt und geliebt hat, wie ich W(agner) geliebt habe; ja, und selbst als Gegner sich zum Schweigen zu verurtheiten zu müssen – um der Verehrung willen, die der Mann als Ganzes verdient» (21. 2. 1883 ). – Nietzsche «verrückt oder ein moralisches Monstrum», wie Verrecchia schreibt? Wie wäre dann die folgende Feststellung Verrecchias über Dr. Förster, den Mann Elisabeth Nietzsches, zu würdigen, der nach Verrecchias Meinung «auf den guten Gedanken gekommen war, sich umzubringen»? (S. 342). Belassen wir es bei diesen wenigen Hinweisen auf ein Buch, das – unter dem Vorwand einer «Entmythologisierung» (S. 10) Nietzsches – in übelster Weise verleumderisch ist. Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt: Wer Dokumentationsmaterial über die letzten Monate Nietzsches in Turin, über den Krankentransport nach Basel und über Nietzsches Klinikaufenthalte bei Wille in Basel und bei Binswanger in Jena sucht, findet es im Buch von Verrecchia zusammengefaßt; das Wichtigste davon stammt allerdings nicht aus Funden des Autors, sondern aus den Schriften seiner Vorgänger.

Literatur

Hemecker, W. W.: Der Physiologe Zarathustras – Freuds Freund P. Manuskripte 30 (Heft 110), 1990, 5-11.

Nietzsche, F.: Sämtliche Briefe, Bd. 1-8 (hg. von G. Colli und M. Montinari). München (dtv) 1986.

Verrecchia, A.: Zarathustras Ende. Die Katastrophe Nietzsches in Turin. Wien (Böhlau) 1986.

Der vorstehende Text ist erstmals unter dem Titel Lebenslanges Leiden – und der Wille zur Macht über das Leiden erschienen in Psyche 42, 1988, 439-447; veränderte Fassung in: Bernd Nitzschke: Die Liebe als Duell … und andere Versuche, Kopf und Herz zu riskieren, Reinbek 1991, S. 224-236.