Bernd Nitzschke

 

Messer im Herz, Dreieck im Kopf

Vignetten zu einer Pornographie der Gefühle

Über Andreas-Salomé, Nietzsche, Freud, Tausk – und einige andere

 

 

I

Die junge Russin

1 Sie heißt – als Romanfigur – Fenitschka und trägt ein «nonnenhaftes Kleidchen». Als Autorin, im Leben dort draußen, trägt sie ein ebensolches, wenngleich als Leibchen um die Seele gewickelt. Dennoch, nein besser, viel besser: deshalb wird sie, die junge Russin, im Leben wie im Roman zur Femme fatale. Sie ist immer ihre eigene Dop­pelgängerin. Und gleichzeitig steht sie bloß als die Hälfte ihrer selbst vor dem Spiegel. Aber noch hartnäckiger als die Suche nach ihrer ver­lorenen Hälfte ist die nach einem Dritten. Soweit die Requisiten des innerseelischen Dramas, das auf der Bühne des Lebens, im Ro­man, der ihr Leben ist, inszeniert wird: Die projektiven Gestalten der Hälfte, der Doppelgängerin und des Dritten tauchen im Außenraum wieder auf, während sie auf der Seele nur als Schatten liegen, dort tief unten, eben im Schattenreich, ihre blutsaugerische, vampireske Exi­stenz fristen. Bring den Toten-Seelen Blut der Lebenden, denn danach dürsten sie, Odysseus! Nietzsche, noch ehe er sie je zu Gesicht bekommen hatte, schrieb: «Grüßen Sie diese Russin von mir, wenn dies irgend einen Sinn hat: Ich bin nach dieser Gattung Seelen lüstern. Ich gehe nächtens auf Raub darnach aus.»

Das steht in einem Brief an Paul Rée, Freund Nietzsches, Philosoph wie dieser, später Armenarzt in Westpreußen und im Oberengadin, Jude, der erbitterten Selbsthaß pflegt, Pessimist aus Passion, der am Ende bei einer Bergwanderung in den Alpen zu Tode stürzt. Paul Rée hat Nietzsche von einer jungen Russin berichtet, die er soeben in Rom, im Salon der Malwida von Meysenbug, kennengelernt hatte. Und Nietzsche antwortet prophetisch: Lüsternheit nach kranken Seelen ist im Spiel.

Zwei Freunde tauschen sich über eine Frau aus, artig, subtil und sehr sublim wird der homosexuelle Verkehr gepflegt, wie auch sonst im Leben, wenn zwei Männer im Gespräch über eine gemeinsam begehrte Frau – oder gar in deren Körper – einander begegnen. Zunächst ist die junge Russin die Dritte im Bunde. Doch das Dreieck ist gleichseitig: Von jedem Punkt, in dem sich zwei der Linien treffen, bis zu jedem der beiden noch verbleibenden Punkte ist die Strecke gleich lang; gedreht wie gewendet, verändert sich das Dreieck in dieser seiner grundsätzlichen Eigenschaft nicht. Der Dritte im Bunde ist deshalb austauschbar; und er kann seine Position im Dreieck selbst wechseln. Die Szene als solche bleibt dabei stabil.

Das Arrangement dient dem Schutz, den der Dritte gegen den Zweiten bietet, gegen die schreckliche Nähe des Einen wie des Anderen.

Zurück zur Romanfigur. Es ist Herbst in Paris. Nacht im Quartier Latin, Streit in einem Café an der Ecke. Die junge Russin bemerkt eine Grisette am Nachbartisch, die von ihrem Begleiter gedemütigt und beschimpft wird. Die junge Russin durchläuft eine spontane, impulsive Bewegung, sie streckt ihre Hand nach der Grisette aus. Dann, plötzlich, hält sie in der Bewegung inne: sie «errötet stark». Denn neben ihr sitzt der Romanheld: Max Werner. Und dem entblößt die unbeherrschte Bewegung der nonnenhaft gekleideten Dame aus feiner Gesellschaft das verdeckte Bild der Grisette. Fenitschka hat, ohne dies zu wissen, die andere Hälfte ihrer selbst am Nachbartisch entdeckt. Nun schämt sie sich, weil sie sich verraten weiß.

Max Werner gerät ob dieses Schauspiels in «verliebte Neugier», wird gar «zu nervöser Erregung aufgereizt». Derweil tauschen die beiden Frauen Blicke, also Gefühle. Die Grisette erhält auf diesem Weg «Hilfe», «Liebkosung». Als sie das Lokal verläßt, bedankt sich die «Hure» bei der «Nonne», ebenfalls wortlos, aber blickreich. Die Sprache der Gesten, die Sprache des Körpers, ersetzt facettenreich – und durch keine noch so differenzierte Wortsprache einholbar – das laute wie das gedruckte Wort. Die Körper drücken sich ineinander aus, benutzen sich wechselseitig als hochempfindlichen Film, der, erst einmal belichtet, das Negativ des jeweils anderen in sich birgt, um es – falls die Gelegenheit kommen oder die Notwendigkeit dies erzwingen sollte – als Positiv wieder von sich zu geben. Das ist der gewöhnliche Weg der psychischen Imprägnierung, die bisweilen – bei entgleisenden Dialogen der Körper – zur psychischen Infektion führen kann.

Beim Hinausgehen bleibt die Hure einen kurzen Augenblick vor der nonnenhaften Geschlechtsgenossin stehen; die Damen bieten sich wechselseitig Gelegenheit, einander zu gefallen. Die Lippen der Grisette öffnen sich, heißt es dazu in der Erzählung. Unschuldig die Worte, die zu solch üppigen Spaziergängen im Reich der Phantasien einladen. Aber dann heißt es schon wieder keusch: Sie «lächeln einander an wie Schwestern». Und das sind sie ja auch, die Hure und das feine Mädchen, die Hysterikerin: Schwestern, Zwillinge, Identitäten. Es sind zwei Gestalten einer Person, die sich in den Spiegeln verschiedener Brennweite bricht, dort im Glas ihr bizarres Abbild hinterläßt. Wenn sie aus der Welt der Spiegel tritt, dann sind beide verschwunden: die Hure wie Nonne.

Das Spiel der beiden Damen gefällt dem jungen König. Doch er begreift nichts, das heißt: er begreift nur sich selber. Anstatt nämlich zu verstehen, daß mit der Grisette auch die andere Hälfte Feintschkas im Pariser Morgengrau verschwindet, anstatt, wenn überhaupt, dann dieser mit dem Nebel verschmelzenden Gestalt nachzueilen, leitet Max Werner nun seine Niederlage ein. Honett bittet er Fenitschka, zu einem Tässchen Kaffee in sein Hotel zu kommen. Wie übel, mit dieser brünstigen Geilheit im Leib ein Tässchen Kaffee trinken zu wollen! Noch dazu mit einer dummen Göre, die alles so wörtlich zu verstehen scheint, wie es gesagt wird.

Max Werner und Fenitschka finden sich alsbald in einer ansonsten menschenleeren Pariser Hotelbar wieder, morgens, nachdem der Bauch der Stadt die ersten Blähungen schon hinter sich hat. Ganz allein sind sie nun aber auch wieder nicht, denn dann wären sie ja zu zweien: Die Flä­che, die das Dreieck ermöglicht, wäre zusammengefallen, es gäbe nur noch eine Linie zwischen zwei Punkten, und bewegte sich nun der eine Punkt auf den anderen zu, dann drohten die Gefahren der Vernichtung. Am Ende wäre gar alles nur ein Punkt. Und der könnte geradewegs auch Nichts sein. Das Dreieck, die Fläche, die zwischen den Punkten liegt, ist dagegen Etwas. Zum Beispiel: Raum. Platz. Freiheit. Sicherheit. Ab­stand. Und Distanz.

In der Erzählung «Fenitschka» muß ein «kleiner weißer Spitz» her­halten, den Dritten abzugeben. Der darf Fenitschka freudig besprin­gen, sie empfängt ihn ebenso freundlich. Doch Max Werner, der dane­ben steht, darf nicht, was der Köter darf. Als Max Werner Anstalten trifft, es dem Hunde gleichzutun, verwandelt sich Fenitschka in eine «Salzsäule». Sie erstarrt, fühlt sich alleingelassen wie ein «verirrtes Kind» im Walde. Schließlich wird sie überwältigt von «Ekel» und «Verachtung».

Die Erzählung wird symbolisch. «Ihr Blick lief an ihm hinab, und ihre Lippen wölbten sich [...]» Wieder der Blick. Wieder die Lip­pen. Diesmal allerdings öffnen sie sich nicht, vielmehr scheinen sie etwas auszuspucken – Verachtung, Ekel. Die Hysterikerin erbricht sich, wenn sich der Mann, den sie zuvor gereizt hat (ohne dies zu wissen), in eindeutiger Absicht nähert. Darauf reagiert ihr Ge-Wissen, das noch von einem anderen Zusammenhang weiß als ihr Kopf.

Max Werner hatte zuvor die Tür der Hotelbar verriegelt, den Schlüssel trägt er jetzt in seiner Hosentasche. Dorthin, auf diese Stelle, fällt der Blick der nonnenhaft gekleideten jungen Russin, ein Blick der Verachtung und des Ekels, ein Blick der Empörung. Fenitschka, die Gefangene ihrer eigenen Konflikte, hat geholfen, ein Arrangement herbeizuführen, das es ihr gestattet, sich jetzt als die Gefangene eines zudringlichen, gewalttätigen Mannes zu empfinden. Der Blick, das ist ihre letzte Waffe. Und unter diesem Blick Fenitschkas be­fällt Max Werner ein «Zwang». Automatisch und mechanisch muß er reagieren, so als sei er eine Marionette, gebunden an geheimnisvolle Fä­den, ausgeliefert einem Spiel der Kräfte, dessen Regeln er nicht kennt: «Seine Hand fuhr, ohne daß er es ihr im geringsten anbefohlen hätte, in seine Tasche und zog, ohne sich um den Lümmel zu kümmern, der dumm, rot und wie ein Schulknabe dastand, den Schlüssel heraus [...].» Der Lümmel, von dem hier die Rede ist, das ist Max Werner, der im Verlaufe der Handlung Fenitschkas Freund und Vertrauter werden wird, der zum Neutrum degeneriert, mit dem sie es aushält, das sie braucht, um sich an das mühselige Geschäft der Liebe und der Gefühle zu wagen.

Der Lümmel, der da dumm und rot steht, das ist der, vor dem das nonnenhafte Geschöpf Angst hat. Und diese Angst sieht so aus: «Ihr Gesicht trug noch immer denselben Ausdruck, der es fast verzerrte – als säße ihr eine Raupe am Halse und kröche langsam weiter.»

Gewiß, das ist keine meisterhafte Sprache, die Lou Andreas-Salomé uns hier vorführt. Ein drittklassiger Kolportageroman, billige Handels­ware in geschraubter Ausdrucksweise und mit viel Seelenschmalz eingefettet. Doch Fenitschka ist Lou; und deshalb sind die hier geschilderten Ängste, ist diese Geschlechtsphobie einer Hysterikerin, die «ahnungslos» die Männer reizt, um sie dann entrüstet von sich zu weisen. exemplarisch. Es handelt sich tatsächlich um einen «Schlüssel»-Roman, der die erstaunliche Metamorphose einer von Geschlechtsangst geschüttelten und erstarrten (ab­wechselnd sich auflösenden und versteinernden) Tugendboldin zu einer (am Ende des Romans) hurenhaft emanzipierten Frau vorführt, der die ekelhafte Raupe der Geschlechtsangst noch immer den Hals hinaufkriecht, wenn auch jetzt bei anderer Gelegenheit und unter anderem Vorwand.

Am Ende des Romans sind wir in Rußland. Max Werner ist jetzt ein Neutrum (jedenfalls in Beziehung auf Fenitschka). Und das einstige nonnenhafte Wesen frönt jetzt einer heimlichen, verbotenen und «freien» Liebe.

Am Ende hat sich dann ein neues Dreieck konstelliert: Max Werner, ein russischer Geliebter und Fenitschka. Das lasterhafte Mädchen erhält einen Brief vom Geliebten, den sie in Anwesenheit Max Werners öffnet. Das Lesen dieses Briefes löst bei Fenitschka eine ähnliche Reaktion aus wie seinerzeit die Attacke in der Pariser Hotelbar: «Der Ausdruck ihres Gesichtes hatte sich ganz verwandelt – zum Erschrecken verwandelt hatte er sich.» Was ist geschehen? Max Werner denkt an Untreue, Betrug, gar an den Tod. Fenitschka klärt ihn auf. Es geht um Schlimmeres. Das Dreieck droht wieder einmal in eine Linie umzukippen, auf der die Punkte dann aufeinander zurollen könnten: «Er will, daß wir uns heiraten sollen.»

Der russische Softie, um den es geht – «jung und lieb ist er» –, bringt wieder einmal das Arrangement durcheinander; die Inszenierung droht zu scheitern. Ein Mann achtet nicht auf die Vorausset­zungen und Bedingungen, die es der Hysterikerin gestatten, sich ihm zuzuwenden. Ein Mann provoziert Nähe, ohne auf die notwen­dige Distanz zu achten, will die Bühne verlassen, hinter die Kulissen blicken. Fenitschka ist zu Tode erschrocken: «Mir ist so furchtbar zu Mut, sagte sie hilflos [...].» Eine «flammende Röte» zeigt sich, wie da­mals in Paris, auf ihrem Gesicht. Sie erkennt jetzt, daß Sinnlichkeit allein sie an den Jungen gebunden hat, nicht Liebe. Jetzt droht Bindung, jetzt ist Flucht notwendig. Wo sie idealisieren (lieben), können sie nicht begehren; und wo sie sinnlich begehren, sind sie unfähig zur Liebe und Bindung. Dieser so richtige Satz Freuds ist doch so falsch: Hatte Freud nicht geglaubt, dieser Satz treffe auf Männer, ausschließlich auf Männer zu? Er hat sich geirrt. Dieser richtige Satz gilt auch für Frauen, für die Hysterikerin insbesondere. Letzte Nacht, sagt Fenitschka zu Max Werner, habe sie von Paris geträumt. Da befand sie sich «irgendwo unter den Grisetten». Im Traum funktioniert die Verdrän­gung nicht mehr, kommt die andere Hälfte der Hysterikerin zum Vorschein, die sie im Wachleben nur dann realisieren kann, wenn sie sorgfältig auf das Arran­gement achtet, das sie vor Bindung schützt. Nur wenn sie spalten kann (heimlich Hure, offiziell Dame der Gesellschaft), fühlt sie sich sicher. Das werde ihr aufgezwungen, argumentiert sie; das sei die Doppelmoral des Patriarchats, meint sie. Wie sehr hat sie sich bei den Agenten der offiziellen Moral zu bedanken, die ihr eine Rechtferti­gung für ihr eigenes gespaltenes und geteiltes Selbst liefern. Wie be­drohlich wäre es für sie, sich als ganze Frau, mit all ihren Impulsen, Gefühlen und Schwächen Einem gegenüberzustellen. Die Moral, unter der sie leidet, bietet ihr Sicherheit, Schutz vor Hingabe und Abhängig­keit, vor dem Schrecken in sich, den die Nähe zum Anderen provo­zieren könnte.

Aber wieder einmal findet Fenitschka einen Ausweg. Hatte seiner­zeit Max Werner sie in der Hotelbar eingeschlossen, war sie seine Gefangene, so kehrt sie das Spiel nun um. Sie schließt Max Werner als den notwendigen Zeugen, als den Dritten, der die Schlußszene begleiten soll, in ihrem Schlafzimmer ein. Von dort aus soll er das Gespräch belauschen, das sie mit dem eben jetzt zu erwartenden Geliebten führen wird. Der russische Softie erhält zum Abschied eine kalte Dusche, nicht ohne die deutliche Versicherung seiner Geliebten, er sei der einzige, den sie so ganz und gar liebe; gerade deshalb müsse sie sich aber von ihm trennen, lässt sie ihn wissen. Wie recht sie hat! Derweil hockt Max Werner im Schlafzimmer und spielt den Lauscher an der Wand, umgeben von Reizwäsche und vom Ge­ruch des Parfüms der nonnenhaften Kokotte, die sich seit jenen Tagen in Paris kein bißchen geändert hat, die nur ein wenig geschickter mit den «Verhältnissen» umzugehen weiß. Ihre Tränen fließen, endlich hat sie Mitleid – mit sich selber.

2 Paul Rée stellen wir uns am besten so vor, wie er sich einst selbst vorgestellt hat, als er am Vierwaldstätter See im Schlafraum einer Herberge einem Fremden begegnete (nach den Worten Paul Deußens, des Schopenhauer-Fans, die sich in dessen Autobiographie «Mein Leben» wiederfinden). Paul Deußen macht die Tür auf und – «Richtig! Dort hinten in der anderen Ecke lag schon einer im Bett. <Guten Abend!>, sagte ich. <Guten Abend>, tönte mir eine sanfte, wohl­klingende Stimme entgegen. <Erlaube mich vorzustellen: Dr. Deußen aus Marburg.> <Sehr angenehm! Ich bin Paul Rée, Doktor der Philo­sophie.> Ich überlegte, was alles für Fächer [...] sich unter dem Namen eines Doktors der Philosophie verbergen konnten und fragte daher [...] vorsichtig weiter: <Philosophie im weiteren oder im engeren Sinne?> <Philosophie im engsten Sinne>, erwiderte der Unbekannte. Wieder eine kleine Pause, darauf ich: <Haben Sie sich schon an irgendeinen Philosophen näher angeschlossen?> Auf diese Frage erwiderte der Un­bekannte nur ein Wort, und dieses einzige Wort bewirkte, daß ich mit einem Satze an seinem Bette war, seine Hand in der meinigen hielt und er aus einem gänzlich Fremden zu einem Freunde, einem Bruder ge­worden war. Dieses eine Wort war der Name: <Schopenhauer>.»

Erinnern wir uns: Zwei Frauen werden (in Paris) Schwestern, weil jede von ihnen in der anderen die eigene verdrängte Hälfte ihres Selbst erkennt. Es handelt sich um einen Austausch von Blicken und Gefüh­len, wortlos. – Zwei Doktoren der Philosophie im engeren und eng­sten Sinne aber tauschen erst einmal Worte aus, bis sie durch ein Schlüssel-Wort das Identi­sche im jeweils anderen entdecken. Danach macht der eine einen Satz zum Bette des anderen; und sie werden Brüder. Hier versöhnt die Gleichheit, das Bekenntnis zum selben Philosophen, der noch dazu nicht die allerbeste Meinung von den Frauen hatte.

Paul Rée war Pessimist von Beruf und Schicksal, er war Schopenhauerianer (wie der junge Nietzsche, wie vor allem Richard Wagner). Er war der Freund Nietz­sches, er wurde zum Geliebten Lous. Ein kurzes Glück, danach war sein Pessimismus um so stärker. Aber gehen wir chronologisch vor:

Lou Salomé – den so ungemein schmückenden Beinamen «Andreas» führte sie noch nicht im Schilde, als sie Rée kennenlernte, denn ihr zukünftiger Gatte, der Iranist Andreas, war ihr damals noch nicht begegnet – reist, gerade 21 Jahre alt, in Begleitung der Frau Mama durch Italien. Man schreibt das Jahr 1882. Ein «Festjahr» sollte es werden, hatte Nietzsche gehofft. Lou kreuzt bei Malwida auf und lernt dort Paul Rée kennen, der gerade abgebrannt ist, weil er alles Geld beim Spiel verloren hat. Auch er ein Süchtiger, ein Spiel-Süchtiger. Der «lüsterne» Nietzsche, der noch in der Ferne weilt, paßt dazu ganz ungemein. Lou und Paul phantasieren sofort einen Bund fürs Leben, die ewige Zweisamkeit, eine Freundes- und Arbeitsgemeinschaft. Da erscheint, aus Sizilien angereist, der Philosoph Nr. 2 – und wird zum Dritten im Bunde. Lou spricht fortan von unserer «Dreieinigkeit, d. h. Nietzsches, Rées und meiner». Interessant diese spätere Formulierung: Nietzsche ist hier an die erste Stelle gerückt, Rée steht jetzt zwischen ihm und Lou (anfangs war es umgekehrt: Nietzsche war der Dritte Mann, der den Frieden zu stören schien). Rée ist dadurch allerdings auch Lou nähergerückt, die über ihn hinweg zu Nietzsche blickt, rückwärts, weil der nicht mitkommt. Lou schreitet voran.

Nietzsche («Gott ist tot») begegnet Lou (in ihren Worten ausge­drückt) erstmals «an einem Frühlingstag in der Peterskirche zu Rom». Dortselbst sitzt – und das ist kein Roman!, das ist eine Inszenierung, wie sie das Leben besser als jeder Dramatiker entwirft – Paul Rée in einem Beichtstuhl, observierend, wie sich seine Geliebte mit seinem Freunde unterhält. Nietzsche, Ende Dreißig, scheu, schüchtern, mit feinen Manieren und kurzsichtigem Blick, gerät in eine Art Taumel, Wahn: Er muß, er will, er wünscht, dieses Mädchen zu heiraten. Ihm erscheint die Idee, Paul Rée bei der Angebeteten als Heiratsvermittler auftreten zu lassen, ausgezeichnet. Also begibt sich Freund Rée zur Geliebten Lou und bittet sie um die Hand für Freund Nietzsche. Lou handelt überraschend: Ehe: nein – Zweisamkeit mit Rée: auch nein – Bund zu dritt: ja. Man beschwört die Phantasie und erblickt sich bereits zu dritt in Wien oder Paris als Künstler-Lebens-Liebesbund.

«Progressus moralis nullus est in rebus humanis.» So lautete einer der philosophischen, selbst erdachten Aphorismen des Paul Rée. Nietzsche, der Moralphilosoph, wußte solche Einsichten ins menschlich-allzumenschliche Getriebe zu schätzen. Er revanchierte sich: «Es lebe der Réealismus!»

Die Folie à trois, die in Rom beginnt, in der Schweiz fortgesetzt wird, zerbricht phasenweise in Folies à deux, wobei Lou aber Wert darauf legt, dem jeweils Abwesenden auch die intimsten Einzelheiten der Unternehmungen mit dem jeweils Anwesenden zukommen zu lassen. Wenigstens per Post muß die heilige Dreieinigkeit wiederherge­stellt werden. In einem Schweizer Fotoatelier allerdings übernimmt, für den Bruchteil einer Sekunde, Nietzsche das Amt des Regisseurs. Er denkt sich die Kulissen und Staffagen aus, die dazu herhalten sollen, den Dreierbund optisch darzustellen, ihn ins rechte Licht zu rücken, ihn in einem Film zu bannen. Als Hintergrund des arrangierten Fotos wählt er eine Landschaft aus, die das Bergmassiv der Jungfrau zeigt. Sodann stellen sich die Philosophen gemeinsam vor einen Karren, Lou, peitscheschwingend, in demselben hinter sich. Gehst du zum Weibe, vergiß die Peitsche nicht! An der Peitsche befindet sich ein Fliederstrauch. Lou lä­chelt versonnen, glücklich vielleicht, gewiß aber zufrieden. Mürrisch blickt hingegen Paul Rée an der Deichsel, neben sich Nietzsche, der mit mystischem Blick in die nicht vorhandenen Sterne guckt. Männergruppe mit Herzdame.

Lou hat einige Zeit mit Paul in Westpreußen auf einem Rittergut verbracht. Jetzt erscheint sie, von Bayreuth kommend, das Nietzsche zu dieser Zeit bereits meidet, in Thüringen, um mit dem Dritten im Bunde der Zweisamkeit zu frönen: Sie trifft Nietzsche in Tautenburg, «mit möglichster Ausschaltung störender Dritter», wie sie in einem Brief schreiben wird. Dem fernen Paul teilt sie alles Nötige schriftlich mit. Zum Beispiel dies: «Seltsam, daß wir unwillkürlich mit unsern Gesprächen in die Abgründe geraten [...], und wenn uns jemand zugehört hätte, er würde geglaubt haben, zwei Teufel unterhielten sich.» Lou und Nietzsche zwei Teufel, die sich an den Abgründen ihrer Seelen entlanghangeln, während sie glauben, auf den Gipfeln des Glücks und der idealen Liebe zu wandeln. Nietzsche spricht in Lou die «allerkindischsten Gefühle und Erinnerungen» an, weckt damit ihre Angst vor Nähe, Abhängigkeit, Unselbständigkeit, vor Hingabe, vor Versinken und Verschlungenwerden, vor Regression. Sie ist fasziniert und schockiert zugleich. Diese Nähe kann sie nicht aushalten ohne den Lauscher an der fernen Wand, ohne Paul Rée zu beschwören. Er wird zum Zeugen, zum Mit­wisser. Über sich und Nietzsche schreibt Lou an Rée: «[…] sind wir uns ganz nah? Nein, bei alledem nicht.» Ein «Schatten» – heißt es weiter – schiebt sich «zwischen uns», der «uns trennt». Der Schatten, der Dä­mon, der Störenfried und Fremde, eben der Dritte Mann, diese unend­lich variationsmächtige projektive Gestalt: Hatte nicht schon E. T. A. Hoffmann alle möglichen und unmöglichen Schattierungen dieses Phantoms, dieser Phantasie-Figur, die so real wie sonst kaum etwas ist, gezeichnet?

Die unheimliche Dialektik der Nähe! Liebe und Sinnlich­keit oder: Liebe oder Sinnlichkeit. Oder: nur noch Haß ...

«So wie die christliche Mystik (wie jede) gerade in ihrer höchsten Ekstase bei grobreligiöser Sinnlichkeit anlangt, so kann die idealste Liebe – gerade vermöge der großen Empfindungsaufschraubung in ihrer Idealität – wieder sinnlich werden. Ein unsympathischer Punkt, diese Rache des Menschlichen […]. Ist es dies, was mich von N.(ietzsche) entfremdet?» Das Menschliche, das Banale, das Einfache, das Grobe, das Unsublimierbare, das allenfalls im Wahnsinn kontradiktorisch Aufgeblähte und Aufgeschraubte, also DAS entfremdet Lou und Nietzsche oder Lou von Nietzsche. DAMIT weiß sie nun einmal nichts anzufangen. DAS ist für sie zu kompliziert, zu gefährlich. «In der Nähe Nietzsches einige Zeit gelebt zu haben und, anstatt ent­flammt worden zu sein, nur eine Beobachterin und kalte Registriermaschine zu sein – das ist auch etwas» (Peter Gast über Lou).

Aber ganz so einfach war es dann doch nicht! Lou war zu sehr von ihrem eigenen Gefühl bedroht, von sich selbst, davon mußte sie sich trennen, erst dies machte ihre Kälte aus, ihr Fähigkeit zur Registratur und ihre Unfähigkeit, den anderen durch die eigenen Gefühle zu verstehen. Da sie sich von sich getrennt hatte, war sie auch vom Anderen getrennt. Da sie vor sich Angst hatte, hatte sie auch vor dem Anderen Angst. Da sie sich nicht verstehen konnte, konnte sie auch den Anderen nicht verstehen. Wohl aber konnte sie ihn beobachten, analysieren. Später wird sie Psychoanalytikerin.

Nietzsche hatte viel gewagt, nicht nur die Gefahr, auf einen überstürzten Heiratsantrag hin einen Korb zu bekommen. Er hatte vor al­lem gewagt, sich zu trennen, um sich zu binden. Binden wollte er sich an Lou – die Mutter und die Schwester, die zusammen mit dem Sohn­Bruder wiederum ein Dreieck konfigurierten, dessen Bestand durch den Auftritt Lous gefährdet war, reagierten entsprechend heftig. Vorwürfe gegen den Sohn-Bruder Friedrich und Verleumdungen gegen Lou, die – seitens der Schwester Nietzsches – zeitlebens anhielten. Es war Nietz­sches letzte Chance, den Hyänen zu entkommen. Er zerwarf sich mit der Mutter und mit der Schwester, doch schließlich kehrte er reumütig und schwach zurück. Es war nicht nur die Einsamkeit, die ihn in Gestalt einer Fesselung an die Frauen «zu Hause» erwartete; es war auch der Wahnsinn, dieses pittoreske Bild der Einsamkeit, dem er jetzt entgegen­ging. Mutter und Schwester werden den wahnsinnigen Philosophen bis zum Tode pflegen. Pflege in Gestalt der Rache: die Rache des Menschlichen, Allzu-Unmenschlichen.

3 Als Lou den Iranisten Andreas zu heiraten beschließt, ist Nietzsche längst aus dem Spiel. Aber Paul Rée, der Spiel-Süchtige, ist noch immer mit von der Partie. Andreas hatte zwei Bedingungen zu akzeptieren, wollte er Lou zum Standesamt führen: erstens durfte die Ehe niemals körperlich vollzogen werden; und zweitens hatte er Paul Rée als den unerläßlichen Dritten hinzunehmen. Andreas willigte ein. Nicht so Rée, als der sein zukünftiges Schicksal vor Augen geführt bekommt. Er nimmt den Hut. Hinfort wird er sich nach einem Medizinstudium als Arzt den Armen und Ärmsten widmen, vielfach ohne Geld zu nehmen, ja seine Patienten noch finanziell unterstützend ...

Lou aber wird wieder einmal Mitleid haben, mit sich selbst, weil Rée sie verlassen hat. Mit ihren Worten ausgedrückt: «[...] noch erfüllte mich ja die Trauer um den entschwundenen Gefährten, den mithineinzunehmen meinem Mann zur Bedingung gemacht worden war, vor der er schließlich, zu allem entschlossen, ebenfalls nicht zurückschreckte.» Daß ihm, dem Gatten, der dann doch erfolgte Abgang des Paul Rée nichts nutzte, das sollte er wenig später feststellen: Rainer Rilke, ein zartes verhätscheltes Bürschchen, ein Jüngelchen mit treuem Blick, löste in Lou die heftigsten – und diesmal auch mütterlichen – Gefühle aus. Das Leben und Glück zu dritt waren wieder gesichert. Andreas, Lou und Rainer begeben sich auf die Reise – nach Rußland.

Am Vorabend der Verlobung mit Lou scheint Andreas aber doch einmal so etwas wie verquerer Männerstolz überfallen zu haben, auch wenn er nicht so recht wußte, was er damit anfangen sollte. Immerhin brachte er mit seiner Aktion Lou in einige Verlegenheit. Diese mußte nämlich fürchten, wegen der Impulshandlung ihres Verlobten in den Verdacht zu geraten, sie habe ihn umbringen wollen! Welche innere Konsequenz doch manchmal die paranoiden Befürchtungen der Menschen haben ...

Am Vorabend der Verlobung hatte sich (wieder einmal) eine Szene in Lous Leben abgespielt, eine Szene, die ein durchschnittlich begabter Dramaturg wohl deshalb aus jedem Drehbuch gestrichen hätte, weil sie gar zu unrealistisch klingt. In Lous Leben, das noch jede Slapstick-Komödie und fast noch jede klassische Tragödie übertrifft, aber spielte sie sich ab. Und zwar so: «Mein Mann trug, für abendliche Heimgänge in seine damals sehr entlegene Wohnung, ein kurzes, schweres Taschenmesser bei sich. Es hatte auf dem Tisch gelegen, an dem wir uns gegenüber saßen.» Ein Mann, eine Frau, ein Messer – und was geschieht jetzt? «Mit einer ruhigen Bewegung hatte er danach gegriffen und es sich in die Brust gestoßen.» Soweit Lou über die Tat ihres Zukünftig-Verlobten. Ausführlicher wendet sie sich in ihrer Schilderung nun aber wieder sich selbst zu: «Als ich, halb von Sinnen auf die Straße stürzend, von Haus zu Haus nach dem nächsten Wundarzt auf der Suche, von eilig mit mir Gehenden nach dem Unfall befragt wurde, hatte ich geantwortet, jemand sei in ein Messer gefal­len. Während der Arzt den auf den Boden gesunkenen Bewußtlosen untersuchte, machten ein paar Silben und seine Miene mir seinen Ver­dacht deutlich, wer hier das Messer gehandhabt haben mochte [...].»

Auf Lou fällt ein mörderischer Verdacht. Unschuldig wie sie ist – und sie hat sich diese unnachahmliche, weil instinktiver Abwehr zuzu­schreibende Naivität zeitlebens bewahrt – stellt sie nun aber richtig: die Phanta­sien des Arztes entsprechen nicht der faktischen Realität. Inwieweit sich in dieser Phantasie des Arztes die psychische Realität der Beziehung zwischen Lou und Andreas ­spiegelt, inwieweit der Arzt erfasst haben könnte, was hinter den Kulissen gespielt wurde, das interessiert Lou nicht (obgleich sie den Text, in dem sie die Szene schildert, 1933 unter der Überschrift «Lebensrückblick» verfasst hat, zu einem Zeitpunkt also, der sie als praktizierende Psychoanalytikerin ausweist). Sancta Simplicitas! Ma soeur mal aimée!

Andreas trägt nach der mörderisch-selbstmörderischen Tat ein Wundmal: «Der Umstand, daß das der Hand entglei­tende Messer die Klinge einklappte, hatte das Herz geschützt, doch gleichzeitig ein Dreieck verursacht, das die Wunde schwer heilbar machte.» Daraus ergibt sich hinfort ein neues Dreieck: Andreas, Lou und die symbolische Wunde des Dreiecks über dem Herzen ...

II

Wenn zwei Menschen miteinander reden,

muß ein dritter sterben

(Abänderung eines Fragments Nietzsches aus dem Sommer 1882)

1 Als sich 1882 in Rom die Bande zwischen Lou, Rée und Nietzsche ver­schlingen, bringt der Frühling dieses Jahres auch in Wien Verwicklungen mit sich. An einem Abend im April erscheint dort ein junges Mädchen aus Hamburg, Martha Bernays, zu Besuch bei der Familie Freud. Und schon im Mai sieht man Sigmund Freud und Martha Bernays Hand in Hand den Kahlenberg herabstei­gen. Flieder überall. Der junge Mann ist verliebt, die junge Frau ent­zieht sich, angeblich – wie Freuds Biograph Jones mitteilt – weil sie sich der Gefühle ihres Verehrers nicht sicher ist. Sie reist ab nach Hamburg. Der erste Brief, den sie erhält, beginnt mit der Schlager­-Melodie «My sweet little darling» und endet mit der Zeile «Ihr Dr. Sigm. Freud».

Freuds Brautbriefe, die bis heute (2009) nur zensiert und ausschnittsweise veröffentlicht worden sind, enthalten merkwürdige Phantastereien. Etwa diese: Sigmund und Martha haben sich am 17. Juni des Jahres «heimlich verlobt». Wenig später preist der Bräutigam seiner Geliebten einen seiner Freunde, Ernst von Fleischl, mit Worten an, die den Eindruck erwecken, er trete als Heiratvermittler für eben diesen Freund auf. Über Fleisch heißt es da etwa: «Er ist ein ganz ausgezeichneter Mensch» – «reich in allen Leibesübungen ausgebildet» – «mit dem Stempel des Genies» – «schön, feinsinnig, mit allen Talenten begabt» usw. ... Dann folgt ein phantastisches Szenarium, in dessen Verlauf Freud sich ausmalt, wie glücklich Martha sein könnte, wenn dieser Mann sie zur Frau nähme. Aber, so fährt Freud sich beruhigend fort: «Es war mir klar, daß ich die Geliebte nicht abtreten kann [...]. Martha bleibt mein Eigen.»

Freud führt hier, ohne allen äußeren Zwang, einen Rivalen in den Briefverkehr mit der Braut ein, um sich dann selbst zu bestätigen, daß dieser Mann die Braut nicht bekommen werde. Von Fleischl ist zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt, daß er an einer unheilbaren Krankheit leidet, deren Schmerzen er mit Rauschmitteln betäubt. Fleischl, der junge, schöne Mann, den Freud, wie er sich ausdrückt «mit der Leidenschaft des Verstandes» liebt, ist ein Süchtiger – und ein Dritter, der vorgestellt wird, um zu verschwinden. Fleischl stirbt 1891 an seiner Krankheit.

Solch merkwürdige Beschwörungen einer projektiven Gestalt beim Entdecker des «Ödipus-Komplexes» mutet nicht überraschend an. Oder doch? Freud stand, wie Jones meint, zeitweise in der Gefahr seiner Frau «hörig» zu werden. Der Dritte ist hier womöglich nur vordergründig der gefährliche Rivale. Hintergründig ist der Schutz, den er gewährt: der Dritte soll die drohende Verschlingung, die Rückkehr in die symbiotische Einheit mit der Muttergestalt, aufhalten. Das ist, neben aller Rivalität, eine wesentliche Funktion, die der Dritte zu erfüllen hat. Wäre die Konzeption des Ödipus-Komplexes eine Abwehrleistung, hinter der die konfliktreiche Beziehung zu einer Frau verborgen liegt?

Wie bekannt, reagierte Freud auf den Tod des Vaters mit einer schweren psychischen Krise. Angeblich, so hat er es selbst analysiert, waren es die ödipalen Todeswünsche gegen den Vater, die den Sohn, wegen des tatsächlichen Todes des Rivalen, in tiefe Selbstvorwürfe und Schuldgefühle verstrickten. Man kann den Ver­lust des Vaters nun aber auch als einen Verlust an Sicherheit deuten – weil mit dem Vater als dem Dritten der Schutz vor der halt-losen Verstrickung des Sohnes in die Zweierbeziehung (mit der Mutter – und ihrer Stellvertreterin) verloren geht.

Freuds Suche nach einem Dritten während der Zeit der Verlobung findet reichlich Stoff. Da gibt es den Max Mayer in Hamburg, der als Verehrer Marthas bekannt ist. Auf ihn werfen sich die projektiven Ängste (und Wünsche) des in Wien verbliebenen Sigmund. Max hat eine künstlerische Natur, er singt und komponiert, er verkörpert eben das, was Sigmund zeitlebens für sich als unerreichbar betrachtet. Eifersucht und Idealisierung kommen ins Spiel. Dann aber schreibt der zukünftige Analytiker: «[...] was Max Mayer betrifft, so glaube ich, das Gefühl glücklich bis zur letzten Spur ausgetilgt, stammt aus dem Mißtrauen gegen mich, nicht gegen Dich.» Wie sehr sich Freud in diesem Punkte selbst überschätzte, wird die Zukunft zeigen. Die projektive Gestalt, die hier Max Mayer heißt, wird ihn lebenslang begleiten, unaufgelöst, hartnäckig.

Die Spur ist nicht ausgetilgt. Kaum ist Max Mayer bewältigt, da taucht ein weiterer, diesmal tat­sächlich gefährlicher Dritter auf: Fritz Wahle. Auch er ist ein «Künstler»; als Intimus Marthas besitzt er das Privileg, sie zu begleiten. Er ist der Begleiter als klassische Figur, also jener Mann, der stets um die schöne Frau ist, die sich seiner bedient, mit ihm gesehen wird, im Theater, im Café, von dem niemand genau weiß, welche Rolle er wirklich spielt, der Zugang hat zu den intimsten Gedanken, vor allem zu jenen, die um Liebeshändel kreisen, der zuhören und beruhigen kann, der stets zur Stelle ist, wenn man ihn braucht, der der schönen Frau nahesteht, ihr als Schutzschild dient, wenn sie versucht, sich dem Geliebten zu nä­hern. Diese Gestalt ist vielseitig verwendbar, ist einsetzbar im Planspiel der Liebe.

Daß es sich bei Fritz Wahle auch noch um einen «Künstler» handelt, macht die Sache für Freud nur komplizierter: «Ich glaube, es besteht eine generelle Feindschaft zwischen den Künstlern und uns Arbeitern im Detail der Wissenschaft. Wir wissen, daß jene in ihrer Kunst einen Dietrich besitzen, der alle Frauenherzen mühelos aufschließt, während wir gewöhnlich vor den seltsamen Zeichen des Schlosses ratlos daste­hen u. uns quälen müssen, auch erst für eins den passenden Schlüssel zu finden» (aus einem Brief Freuds an Martha). Der symbolische Schlüs­sel, das symbolische Schloß. Ist es jener Schlüssel, den Fenitschka dem Max Werner aus der Hand nimmt, weil der damit die Tür verschloß, anstatt sie zu öffnen; ist es jener Schlüssel, den Faust, um ins «Reich der Mütter» zu gelangen, von Mephisto, also vom Teufel selbst, erhielt, und den er mit den Worten beschreibt: «Er wächst in meiner Hand! er leuchtet, blitzt!»? Ist es also der Schlüssel, mit dem richtig umzugehen, sich Freud «im Detail der Wissenschaft» zeitlebens «quält»?

Just an jenem Tag, an dem Martha mit Sigmund Hand in Hand durch den Wiener Frühling spazierte, an dem sie sich ihm dann aber entzog, küßte sie Fritz Wahle! Das wäre nicht weiter bemerkens­wert, wenn die Geschichte nicht so angelegt worden wäre, daß sie herauskommen mußte. Daraus entwickelt sich nun wieder eine Szene, die so grotesk (und zugleich erfunden) erscheint, daß sie kaum einem Boulevard-Theater zuzumuten wäre. Als Fritz Wahle von der heim­lichen Verlobung Marthas erfährt, bricht er vorsorglich in Tränen aus. Es scheint, als habe er seine Rolle als Begleiter doch anders gesehen. Im Beisein Schönbergs kommt es zu einer Aussprache zwischen Fritz und Sigmund. Fritz droht erst einmal, sich und Sigmund zu erschießen. Sodann gibt er sich mit weniger zufrieden und zu erkennen, Martha werde die Verlobung sofort lösen, wenn er das wünsche. Sigmund steht da – und versteht die Welt nicht mehr. Daraufhin fordert Fritz Schreibgerät und Papier und verfaßt im Beisein der beiden anderen Männer einen Brief an Martha («geliebtes Marthchen» – «unendliche Liebe»). Sigmund wird der Brief präsentiert. Er liest und zerreißt das Papier. Daraufhin ist Fritz gekränkt. Er eilt vom Ort des Geschehens. Schönberg und Sigmund hinterher. Sie holen Fritz ein. Der weint hemmungslos. Sigmund ergreift seinen Arm, die Tränen ebenfalls in den Augen, und geleitet ihn nach Hause. Anderntags schreibt Sigmund einen Brief an sein «geliebtes Prinzesschen» in Hamburg, um den Vorfall mitzuteilen: «Am nächsten Morgen faßte u. schämte ich mich. Der Mann, der mich weinen gemacht, muß viel tun, bis ich ihm verzeihe. Er ist nicht mehr mein Freund, wehe ihm wenn er mir Feind wird [...].»

Freund und Feind, Beschützer und Rivale – der Dritte ist unentbehrlich. Später wird Freud schreiben, «einen intimen Freund und einen gehaßten Feind» habe er immer benötigt, um sich in der Welt zurechtzufinden. Freud spaltet die emotionale Realität nach Maßgabe dieser beiden projektiven Figuren. Das geht auch so: zunächst liebt er (Fließ, Jung), dann, nach einem abrupten Abbruch der Beziehung, haßt er. Wie­der äußert sich der spätere Analytiker in einem Brief an Martha: «Die Lösung liegt, glaube ich, darin, daß nur in der Logik Widersprüche existenzunfähig sind, in den Gefühlen bestehen sie aufs Beste neben­einander.»

Nach dem Vorfall mit Fritz irrt Sigmund noch stundenlang ziellos durch die nächtlichen Straßen Wiens. Dann pumpt er sich Geld und fährt zu Martha nach Hamburg. Und doch bleibt der Vorfall mit Fritz Wahle «unvergeßlich», bemerkt Freud noch Jahre später. Wie richtig das ist, wie sehr das unvergeßliche Trauma, der ungelöste Konflikt, eine Tendenz zur Wiederholung besitzt, werden wir noch sehen. Zunächst können wir vermuten, daß die Szene, die sich hier abspielte, auf dem Höhepunkt der Verliebtheit des jungen Freud, infantilen Wurzeln hatte. Denn: war es nicht Freud selbst, der Theoretiker, der erklärte, die Verliebtheit bringe unverges­sene infantile Szenen, Erinnerungen, Konflikte, Traumata, Wün­sche und Ängste ans Tageslicht?

Vater, Mutter, Sohn, das ödipale Dreieck – in Freuds Kindheit hat es eine charakteristische Abwandlung (oder Ergänzung) erfahren. Freuds Vater Jakob heiratete in zweiter (oder dritter?) Ehe eine junge Frau, Amalie, die mit Jakobs Sohn Philipp aus erster Ehe, also Freuds Halbbruder, fast gleichaltrig war. Ihn verdächtigte Sig­mund (wie auch Jakob), er habe mit der Mutter ein Verhältnis.

Sind Ernst von Fleischl, Max Mayer und Fritz Wahle Reinkarnationen Philipps? Halbbrüder, nicht «Väter»? Wenn dem so sein sollte, was wäre dann von Freuds Theorie der Kastrationsangst zu halten? Be­kanntlich meinte Freud, der Sohn gebe aufgrund der Angst, vorn Vater kastriert zu werden, den Wunsch, die Mutter geschlechtlich zu besit­zen, auf. Ist aber nicht vielleicht die Kastrationsangst die projektive Umkehr eines Kastrationswunsches, der sich auf den Ri­valen, den Halbbruder Philipp, richtete? Ihn müßte man kastrieren, da­mit er nicht mehr mit der Mutter verkehren kann. Und andererseits: Was heißt Penisneid? Ist der kleine Sigmund nicht neidisch auf die Kunst des großen (Halb-)Bruders, auf den Künstler, der den richtigen, den passenden Schlüssel besitzt? Penisneid also beim Sohn ... und die Zuschreibung dieses Neides auf die Tochter – wieder eine projektive Abwehr? Ich meine, es wäre an der Zeit, Freuds «Kernkomplex» der Neurose (Ödipus-Theorie, Kastrationsangst und Penisneid) auch noch einmal anders, nämlich im Kontext der Biographie Freuds zu hinterfragen.

2 Wenn zwei Menschen wie Lou Andreas-Salomé und Sigmund Freud aufeinandertreffen, die beide in charakteristischer Weise den Dritten in ihrem Leben und Lieben benötigten, dann, so steht zu er­warten, kommt es zur Explosion. Wie könnten diese beiden sich ein­ander nähern, ohne eines Dritten zu bedürfen? Erinnern wir uns: Der Dritte ist Rivale und Schutz zugleich; er ist ein Spiel-Ball, aber auch die projektive Gestalt des Doppelgängers, der jenen verdrängten, abgespaltenen Teil des Selbst repräsentiert, der erst einmal aus dem Spiel von zweien herausgehalten werden muß und dann in Gestalt des Dritten wieder ins Spiel ge­bracht werden kann.

Handelt es sich um eine Frau und zwei Männer, repräsentieren die Männer zwei Hälften, die zusammengesetzt einen ganzen Mann ergeben könnten. Vom Standpunkt der Frau aus betrachtet, wäre dieser ganze Mann aber zu gefährlich, zu über­wältigend; also teilt sie, um zu herrschen. So hält sie sich den «ganzen» Mann vom Leibe, indem sie jeweils nur die eine Hälfte zu Wort kom­men läßt. Das provoziert Haß bei beiden Männern, und der richtet sich dann auf den jeweils anderen Mann, weil der scheinbar realisieren kann, was beiden versagt bleibt.

Nietzsche notiert im Som­mer 1882 (auf seine Erfahrungen, die er eben jetzt macht, zurückgrei­fend): «Das Eisen haßt den Magneten, wenn der Magnet das Eisen nicht ganz an sich ziehen kann – und doch zieht.» Und: «[...] was uns hindert ganz zu lieben, hassen wir am meisten.» Da der Haß sich aber nicht am geliebten Objekt realisieren darf, weil die Angst besteht, das Liebesobjekt damit zu zerstören, wird er sich auf einen Dritten richten – auf den Rivalen. Dieser muß aus dem Wege geschafft, zerstört werden, damit das Glück zu zweit endlich zu erreichen ist. Auch wenn das eine Illusion ist. Eine Illusion deshalb, weil mit der Beseitigung des Dritten die Ambivalenz der Nähe zwischen den beiden nur wieder verschärft werden würde. Eben weil mit dem Dritten auch der Schutz entfällt, den dieser (unfreiwillig) gewährt.

Der Dritte, um den es in der Beziehung zwischen Lou und Freud geht, heißt Viktor Tausk. Er ist Psychoanalytiker und gilt bis heute als einer der Pioniere der psychoanalytischen Schizophrenielehre. Er be­schäftigte sich mit einer Krankheit, die den Extremfall einer Teilung des Selbst und einer Ambivalenz der Gefühle darstellt, einer Krankheit zum Tode (der Seele). Schizophrenie, geteiltes Herz: Mes­ser im Herz, Dreieck im Kopf.

Vielleicht geht es dabei auch um das Zerreißen eines Dritten im Kampf, den zwei miteinander führen: das Kind, in dessen Innerem Vater und Mutter einander mörderisch bekriegen?

In der Nacht vom 2. zum 3. Juli 1919 erschießt sich der Psychoanalytiker Viktor Tausk in Wien. Man erinnere sich: Am 15. Juli 1882 schrieb Freud den Brief an Martha, in dem er von der «gene­rellen Feindschaft zwischen den Künstlern und uns Arbeitern im Detail der Wissenschaft» berichtete. In diesem Brief wurde der «Schlüssel» erwähnt, den die Künstler besitzen, um das Herz der Frauen (oder ihr «Schloß») zu öffnen. Tausk beging in einer Nacht vom Mitt­woch auf Donnerstag Selbstmord. Eben um diese Zeit tagte traditionsgemäß die «Mittwoch-Gesellschaft», der Kreis, in dem sich die um Freud gescharten Anhänger der Psychoanalyse versammelten. Im Jahr 1919 fand die letzte Sitzung der «Mittwoch-Gesellschaft» vor der Sommerpause am 2. Juli statt. Tausk erschießt sich also in einer Stunde, in der sich seine Kollegen um die Analyse des Seelenle­bens bemühen. Symbolische Wunden – symbolische Handlungen ...

In einem «Nachruf» rühmt Freud den Selbstmörder Tausk als «ungewöhnlich begabten Wiener Nervenarzt», den eine «scharfe Beobachtung, treffendes Urteil und eine besondere Klarheit des Ausdrucks» ausgezeichnet hätten. Er sei durch «philosophische Begabung» wie durch «ganz hervorragende medizinisch-psychologische Fähigkeiten» aufgefallen, heißt es weiter über Tausk. Wer ihn gekannt habe, habe «seinen lauteren Charakter, seine Ehrlichkeit gegen sich und andere und seine vornehme Natur» geschätzt, die «ein Bestreben nach dem Vollendeten und Edlen auszeichnete». Man habe gespürt, daß man «einen bedeutenden Menschen vor sich habe», wenn man ihm gegenüberstand. Der Nachruf schließt mit der Bemerkung, Tausk sei «ein ehrenvolles Andenken» in der Geschichte der Psychoanalyse «sicher».

Es sind dies Worte, die den Verstorbenen preisen; es sind diese Worte, die nicht zuletzt an jene erinnern, die Freud dem sterbenden Ernst von Fleischl in einem Brief an die Braut widmete … Doch mit dem «ehrenvollen Andenken» in der Geschichte der Psychoanalyse hat es, was Tausk betrifft, seine eigene Bewandtnis. Jones diagnostiziert in seiner Freud-Biographie Tausk als Schizophrenen. Und der Psychoanalytiker Eissler bescheinigte Tausk «perverse Impulse», ja, er stellte ihn als einen Mann vor, der Frauen gegenüber «sadistisch» gehandelt habe; der versucht habe, Frauen an sich zu binden, um sie dann zu «zerstören». Und was Freud betrifft, so sind die offiziellen Worte im «Nachruf» auch alles andere als ehrlich. Lou gegenüber äußerte er sich einen Monat nach dem Tod von Tausk ganz anders (aber wir wissen ja von Freud selbst, daß Gegensätzlichkeiten nur für den Verstand, keineswegs für das Gefühl unvereinbar sein müssen): «Ich gestehe, daß er mir nicht eigentlich fehlt: ich hielt ihn seit langem für unbrauchbar, ja für eine Zukunftsbedrohung. Ich hatte Gelegenheit, einige Blicke in den Unterbau zu tun, auf dem seine stolzen Sublimierungen ruhten, und ich hätte ihn längst fallengelassen, wenn Sie ihn nicht in meinem Urteil gehoben hätten», schrieb Freud an Lou.

Nun muß man wissen, daß Tausk Lous Geliebter war (wenngleich nicht mehr zum Zeitpunkt, als er sich erschoß, und vermutlich auch niemals im explizit sexuellen Sinne). Tausk, Lou, Freud – das war auch ein Dreieck. In ihrem Antwortschreiben an Freud entgegnete Lou: «ich hatte ihn lieb». Offenbar ignorierte sie die «sadistischen» und «zerstörerischen» Tendenzen Tausks, die Eissler später diagnostizierte. Und ein anderer Analytiker, Paul Federn, der Grund genug gehabt hätte, Tausk zu verunglimpfen, war er doch von ihm zeitweise nicht sehr wohlwollend behandelt worden, bemerkte be­züglich des Selbstmordes von Tausk, das Motiv hierfür sei wohl gewesen, daß er «die Abwendung Freuds» gespürt habe (wenn es sich hierbei auch nur um ein Motiv unter anderen gehandelt haben mag, denn ein Selbstmord hat oft viele Motive). Federn hält die Waage, vergleicht Tausk und Freud und bemerkt hinsichtlich Tausk: «[...] er war nicht gut – so wenig Freud gut ist.»

Was die von Federn erwähnte «Ablehnung» Tausks durch Freud betrifft, so hatte sie einen konkreten Inhalt. Tausk, der Freud bewunderte, hatte versucht, von diesem analysiert zu werden. Freud hatte die Bitte abgelehnt. Ein ähn­licher Vorfall ereignete sich einige Jahre später bei Wilhelm Reich, den Freud ebenfalls nicht analysieren wollte. Reich verfiel in eine schwere Depression, erkrankte an Lungentuberkulose und mußte sich mehrere Monate aus Wien zurückziehen. Er hielt sich zur Kur in einem Sanatorium in der Schweiz auf, wo ihn die freundlichen Briefe erreichten, die Freud ihm nun schrieb. Um solche Reaktionen der Schüler Freuds verstehen zu können, muß man wissen, wie stark die Abhängig­keiten und Idealisierungen, die Rivalitäten und Hoffnungen im Kreis um Freud waren – und in psychoanalytischen Zirkeln noch immer sind. Und wenngleich die Über-Vater-Gestalt Freud heute nicht mehr in der Außenwelt lebt, und die Idealisierung gelegentlich in Dämonisierung (Freud-Bashing) umschlägt, so besteht ihre Über-Macht in der Phantasiewelt doch weiter.

Tausk war promovierter Jurist. In Berlin arbeitete er als Journalist und Schriftsteller – kurz: er war «Künstler». Um Psychoanalyti­ker zu werden, absolvierte er noch ein Medizinstudium. Seine erste Ehe scheiterte, danach verlobte er sich wiederholt. Kurz vor dem Ein­gehen einer neuen Ehe erschoss er sich. Seine Beziehungen zu Frauen waren problematisch, konfliktgeladen, selbstzerstörerisch. Auf einem Bild, das seine Mutter als junge Frau darstellt, durchbohrte er mit einer Nadel jene Stelle, an der er das Herz der Mutter vermutete. Auch Wilhelm Reich hatte als Knabe einen symbolischen Muttermord be­gangen. Er hatte dem Vater (scheinbar versehentlich) von einer außerehelichen Affäre der Mutter berichtet, weshalb sich die Mutter, ent­deckt, wenig später das Leben nahm.

Tausk war gewiß ein problemati­scher Mensch. In einem Brief an seine erste Frau bescheinigte er sich «Depressionen» und «Zwangsvorstellungen». Doch er besaß auch eine seltene Gabe: Empathie, die bis zur höchsten Stufe der Sensi­tivität für die Gefühle und Gedanken anderer Menschen reichen konnte. Das war eine «unheimliche» Begabung. Tausk konnte in anderen Menschen, die sich von ihm «durchschaut», «erkannt» und «ertappt» fühlten, paranoide Ängste auslösen. Auch Freud hatte hinsichtlich Tausk paranoide Ängste. Tausk könne (Freuds) «Gedanken lesen». Freuds Abgrenzungs­bedürfnis gegenüber Tausk war entsprechend stark. Zeitweise fühlte er sich von Tausks Kongenialität bedroht, unterstellte er ihm Gedankendiebstahl. So meinte er, Tausk könne Gedanken, die er sich durch Einfühlung in Freuds Gedankenwelt angeeignet habe, noch vor Freud zu Papier bringen.

Für Freud war Tausk der «unheimliche» Doppelgänger, der immer einen Schritt voraus ist, der im unpassenden Moment Dinge ausspricht, an die der andere bloß denkt. Lou berichtet, Freud habe ihr einmal während einer Diskussion in der «Mittwoch-Gesellschaft» einen Zettel zugeschoben, auf dem stand: «Weiß er schon alles?» Manifest bezog sich diese Frage darauf, ob Lou Tausk bereits etwas aus einem Gespräch mitgeteilt habe, das sie zuvor mit Freud geführt hatte. Gemeint war aber auch der Tausk, der soeben einen Vortrag hielt, von dessen Inhalt Freud annahm, es seien seine Gedanken, die er allerdings noch nicht veröffentlicht hatte.

Lou notiert in ihrem Tagebuch, Tausk besitze eine «leidende Gefühlshaftigkeit bis zur Selbstauflösung». Gemeint war damit die mit dem Verlust der Ich-Grenzen verbundene Erfahrung der Welt, die den Betreffenden befähigt, über das durchschnittliche Maß hinaus in die Gefühlswelt anderer Menschen einzutauchen. Das kann als äußerst bedrohliche Form der Nähe empfunden werden, vor allem dann, wenn man sich ohne größere Distanz in einer Beziehung nicht sicher fühlt. Solche Distanz hielt Freud aufrecht, nachdem er sich anfangs, in der Beziehung zu Martha, fast verloren hätte. Er konnte sich aber auch sicher fühlen, wenn sich der andere aufgab – wie am Ende die Tochter Anna gegenüber dem Vater. Freud fürchtete das ozeanische Gefühl, das emotionale Verschmelzen mit dem anderen oder – was dasselbe ist – mit den eigenen Leidenschaften, denn er stand zeitlebens in der Gefahr «hörig» zu werden; und was das für ihn bedeutete, das hatte er während der Zeit der Verlobung mit Martha erfahren. Das Couch-Ritual gewährte denn auch intensive Nähe bei gleichzeitiger Abstinenz (Distanz), eine kunstvolle Distanz-Nähe-Regulation, die für Freud so notwendig war.

Tausk war für Freud eine Bedrohung, eine «Zukunftsbedrohung», wie Freud sich in dem bereits zitierten Brief an Lou ausgedrückt hatte. Tausk in Lehranalyse zu nehmen, das wäre für Freud zuviel Nähe gewesen.

Soweit sich Freud durch Tausk bedroht fühlte, mußte er sich distanzieren. Aber der Mann, von dem er sich distanzieren mußte, faszinierte ihn auch. Gab es da nicht doch noch einen Weg, an ihn heranzukommen, einen Blick in seinen «Unterbau» zu werfen, ohne sich ihm in gefährlicher Nähe ausliefern zu müssen? Freud lehnte Tausk 1918 als Lehranalysand ab. Gleichzeitig mit dieser Ablehnung machte er ihm aber auch ein Angebot: er konstruierte eine Beziehungsfalle, entwarf eine Doppelbindungsstrategie aus Ab­lehnung und Annahme. Freud schlug Tausk also vor, zu Helene Deutsch in Analyse zu gehen, die ihrerseits bei Freud in Analyse war. Und da man in der Analyse aufgefordert ist «alles» zu sagen, was einem einfällt, würde Helene Deutsch in ihrer Analyse bei Freud gewiß auch manches zu Tausk einfallen. Ein perfektes Dreieck! Tausk nahm Freuds Angebot an.

Freud soll nun aber auch gegenüber Helene Deutsch verschiedentlich ge­äußert haben, Tausk erscheine ihm «unheimlich». Der liegt nun seit Ja­nuar 1919 bei Helene Deutsch auf der Couch – doch Ende März 1919 gebietet Freud dem von ihm selbst vorgeschlagenen Arrangement wieder Einhalt. Es ist wieder Frühling in Wien. Und Freud fällt jetzt ein, daß Tausk die Lehranalyse bei Helene Deutsch nur deshalb akzeptiert habe, um durch Helene Deutsch (als Mittel zum Zweck) mit ihm, Freud, indirekt kommunizieren zu können. Damit unterstellt er, was er selbst wollte: teilhaben, ohne sich in gefährliche Nähe zu begeben. Helene Deutsch wird von Freud nun vor die Wahl gestellt: entweder er (Tausk) oder ich (Freud). Helene Deutsch überlegt nicht lang. Sie setzt ihre Analyse bei Freud fort und beendet die Analyse mit Tausk. Sie läßt Tausk fallen. Drei Monate später bringt sichTausk um.

3 In Freuds Gesammelten Werken finden sich «Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie». Es finden sich aber auch, drei «Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens». Sie tragen die Titel: «Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne» (I); «Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens» (II); «Das Tabu der Virginität» (III). Freuds Gedanken über das allgemeine «Liebesleben» sind aufschlußreich. Gehen wir kurz auf drei wesentliche Punkte ein:

(I) So beschreibt Freud eine typische Objektwahl von Männern, bei der eine Frau wird geliebt, die nicht mehr «frei» ist, und ein «Geschädigter Dritter» mit von der Partie ist. Es ist eine ödipal-inzestuös begründete Wahl, bei der der (übertragene) «Vater» in Gestalt des Rivalen einbezogen ist. Diese Variante der Objektwahl bietet, laut Freud, ein hervorragendes Betätigungsfeld für «feindselige» Regungen, denn sie gibt Grund zur Eifersucht. Eine zweite Variante dieser Objektwahl ist die «Dirnenliebe», wie Freud sich ausdrückt. Hier wird eine Frau gewählt, deren Sexualität wahllos ist. Diese Frau muß nun «gerettet» werden. Zu diesem Zweck muß sie anderen Männern entrissen werden. Dieses Arrangement, ich sagte das anfangs schon, erlaubt auf subtile Weise den homosexuellen Verkehr zweier Männer, die sich im Leib einer Frau begegnen. Freud charakterisiert die Männer, die diesem Typus folgen, so: «Erst wenn sie eifersüchtig sein können, erreicht die Leidenschhaft ihre Höhe, gewinnt das Weib seinen vollen Wert, und sie versäumen nie, sich eines Anlasses zu bemächtigen, der ihnen das Erleben dieser stärksten Empfindungen gestattet [...]. In grellen Fällen zeigt der Liebende keinen Wunsch, das Weib für sich allein zu besitzen, und scheint sich in dem dreieckigen Verhältnis durchaus wohl zu fühlen.» Feindseligkeit und Eifersucht – bei verdeckter Homosexualität, die Freud nicht erwähnt – so konstituiert sich, nebst aller Liebe zur Frau, ein Feld, auf dem sich die Männer begegnen können. Und wenn ein zweiter Mann im Spiel ist, dann kann die Frau nicht mehr so gefährlich werden; dann kann die Gefährlichkeit am Gegner bewältigt werden, als der nun der andere Mann (und nicht mehr die Frau) erscheint. In Anderen können so die Affekte, die im Spiel der reinen Liebe nicht vorkommen dürfen, abreagiert werden. So kann der Andere das Böse der Geliebten wie des Liebhabers repräsentieren.

(II) Grobe Sexualität und himmlische Liebe scheinen nicht vereinbar zu sein. Wenn das eine vorhanden ist, darf das andere nicht sein. Im Grunde geht es dabei wieder um das Problem: Wohin mit den «bösen» Affekten, die bei «reiner» Liebe unstatthaft sind? Wohin mit der Ambivalenz der Gefühle? Wie umgehen mit der Tatsache, daß Liebe und Haß meist gleichzeitig vor­handen sind, einander wechselseitig konstituieren, weil Nähe, wenn sie wahrhaftig ist, Konflikte nicht ausschließt, sondern provoziert? Wird das Problem in dem einen Fall dadurch gelöst, daß ein zweiter Mann als Dritter mit im Spiel ist, so gibt es im anderen Fall die Möglichkeit, das Begehren und damit die Frau aufzuspalten. Die eine Frau ist dann die Frau, die reinen Herzens geliebt werden kann (die Nonne), während die andere Frau die sündige Frau ist (die Grisette), die die unreinen Begierden befriedigen soll. Wenn Zärtlichkeit und Sinnlichkeit beim Mann auseinander fallen, dann stimmt das Arrangement mit der geteilten Seele der Frau (Fenitschka) überein, die nicht in der Lage ist, die zwei Hälften ihrer selbst zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Das Problem, das Freud im zweiten Beitrag zum Liebesleben beschäftigt, ist demnach dasselbe wie im ersten: Verehrung ist dann möglich, wenn es sich um eine «reine» Frau handelt, während «Verachtung» das die Potenz stärkende Mittel ist, das die Nähe zur «sündigen» Frau ermöglicht. Psychische Impotenz bietet dem Mann hingegen Schutz vor der «ganzen» Frau, in der sich die Hure und die Nonne, Sinnlichkeit und die Zärtlichkeit und schließlich gar Verehrung und Verachtung vereinen könnten.

(III) Wenn Freud schließlich über das «Tabu der Virginität» spricht, dann kommt er zum Kern der Problems. Hier konfrontiert er sich unmittelbar mit «Männerängsten», also mit seiner Angst. «Der Mann fürchtet, vom Weibe geschwächt, mit dessen Weiblichkeit angesteckt zu werden.» Das heißt: der Mann fürchtet, ohne den Schutz eines Dritten, in der Symbiose mit der Mutter (oder dem Muttersurrogat) unterzugehen und damit seine Macht, seine Potenz, seine Individualität zu verlieren. Deshalb errichte der «Primitive» – über den Freud immer dann spricht, wenn er den «Zivilisierten» meint – ein Tabu. Die Entjungferung überläßt er dem Priester, einem erfahrenen Schamanen oder dem Stammesältesten. Das ist der Dritte, der gegen das gewappnet ist, wovor sich der «primitive» (infantile) Mann fürchtet: gegen die Ansteckung, die psychische Infektion. All die Gefahren, die bei Druchlässigkeit oder gar beim Zusammenbruch der Ich-Grenzen auftreten, müssen in Schach gehalten werden. Und Verliebtheit, auch das hat Freud festgestellt, ist der Zustand par excellence, der zur Aufhebung der Ich-Grenzen und damit zur Verwechslung von Du und Ich führen kann. Dagegen richtet sich der Schutz, den der «Primitive» in Gestalt des «erfahrenen Man­nes» herbeisehnt, des Mannes, der weiß, wie mit solchen Ängsten umzugehen ist oder sie gar nicht erst hat. Die ödipale Konstellation, die Freud beschrieben hat, ist ein Abwehrarrangement, das sich gegen die verschlingende mütterliche Symbiose, gegen den Verlust des Ich, gegen die Auflösung des Selbst und der Objektwelt, also gegen das «Nichts», den Wahnsinn, richtet. Vor der ödipalen Entwicklungsstufe liegt das «Reich der Mütter», in das der Teufel den Faust schickt. Wer dieses Reich (wieder) betreten will, der muß «Künstler» sein und mit dem «Schlüssel» umgehen können, den der Teufel verleiht. Einen Ersatzschlüssel hat Freud mit dem psychoanalytischen Arrangement bereitgestellt.

III

Das un-heimliche Auge

1 Von E. T. A. Hofmann gibt es ein Selbstbildnis (undatiert), das an die späten Selbst-Studien van Goghs erinnert. Zwei Geistes-Verwandte, zwei Schicksals-Genossen, die einander nie begegnen konnten, blicken den Betrachter mit dem gleichen Bedürfnis an, die Augen aufgerissen und versunken, hilfesuchend und stechend, tief und starr, leer und abgründig, verzweifelt und forschend, einsam und die Fülle des menschlichen Blickes in sich vereinigend, das sind die Augen, hinter de­nen ein drittes Auge späht: das un-heimliche Auge. Erinnern wir uns: Freuds Arrangement ist ein Arrangement des Blickes. Nicht gesehen zu werden, aber selbst zu sehen. Freud hat wiederholt bekundet, er könne es nicht vertragen, von Patienten angestarrt zu werden; deshalb – auch deshalb – hat er dieses Arrangement erfunden, das ihm einen Blick in den «Unterbau» erlaubte, ohne sich selbst entblößen zu müssen.

Freud litt an einer «Eisenbahnphobie», wenn er sich diese auch anders erklärte, als wir es hier versuchen wollen. Was heißt das denn, in einem Abteil zu sitzen und nicht bestimmen zu können, wer ge­genüber Platz nimmt? Wer wird uns anstarren, ausspähen, beobachten? Da gibt es kein Entrinnen. Die «Eisenbahnphobie», das ist die Angst vor dem Auge des Anderen. An Franz Alexander schreibt Freud 1928: «[…] denn die Beschäftigung mit der Analyse wirkt ähnlich schädlich auf die eigene Psyche wie die der Röntgenstrahlen auf die eigenen Gewebe. Es bedarf beständiger Gegenarbeit um sich davor zu schützen.» Und wie kann man sich vor dem «bösen» Blick schützen? Denken wir an Kohut: Es ist «der Glanz im Auge der Mutter», der das Kind, dessen Seele, zum Leben erweckt. Das Auge der Mutter – das ist der erste und wichtigste Spiegel des Menschen. Wer sich in diesem Spiegel wiederfindet, wer hier ein unverzerrtes Bild seiner selbst entdeckt, der ist erlöst. Wem dieser Spiegel fehlt, der sucht ihn zeitlebens – vergebens: Narziß, der sich in allem reflektieren möchte, um endlich in sich selbst zu ertrin­ken. Was aber, wenn aus dem Auge der Mutter der «böse», der bannen­de, der verzerrende Blick hervorsticht? Dann bleibt das Kind verschlossen, eingeschlossen. Es ist dieser frühe Augen­-Blick, der über das künftige Schicksal entscheiden wird. So entsteht die Einsamkeit im Angesicht des Men­schen. Das Kind wird die Welt später sehen, wie es sie von früh an erlebt hat; es wird sich dann so fühlen wie hinter einer Glaswand: so, als sei es von der Welt getrennt. Das ist die gläserne Welt. In ihr begegnen die Blicke einander ohne sich zu berühren.

Sartre schreibt («Das Sein und das Nichts»): «Der Blick, den die Augen offenbaren, von welcher Art sie auch sein mögen, ist reine Ver­weisung auf mich selbst [...]. So ist der Blick zunächst ein Vermittler.» Angeblickt zu werden und anzublicken – so konstituieren sich Subjekt und Objekt im Verbund mit Berührung und Lauten. Der Blick aber benötigt die Entfernung, denn er ist ohne Distanz unmöglich. Er will Nähe unter der Voraussetzung von Distanz. Und noch bevor das Wort verstanden wird, sind die Blicke verstanden worden. Blicke versteinern, verzaubern, machen Angst oder glückselig. Mit einem Blick bannt Fenitschka Max Werner. Mit einem Blick vermittelt sie der Grisette am Nebentisch «Hilfe» und «Liebkosung».

E. T. A. Hoffmann, Sohn eines Alkoholikers und einer hysterischen Mutter, die von Weinkrämpfen geschüttelt wird, fanatisch auf Ord­nung im Haushalt bedacht ist, Ordnung im Außen schafft, um dem inneren Chaos einen sichtbaren Halt entgegenstellen zu können. Der Sohn wächst in einer leeren Wüste auf. Kein freund­licher Blick trifft ihn. Er bleibt zeitlebens einsam. Vom Vater und von der Mutter erhält er eine doppelte Natur. Später wird das Motiv des Doppelgängers seine Erzählungen – etwa die «Elixiere des Teufels» – charakterisieren. Der gegensätzliche Charak­ter der Eltern reproduziert sich im Inneren des Sohnes, der zeitlebens nach Einheit ringt, ohne sie je erreichen zu können. Doppelt ist alles in seinem Leben. Das physiologisch determinierte Doppelbild, das die Augen liefern, bei ihm kommt es nie zur Deckung. Weil er ein-sam ist, sieht er alles doppelt. Immer liebt er zwei Frauen gleich-zeitig. Er ist zerrissen. Nie kann er sich für eine Frau entscheiden. Seine Persönlichkeit bleibt zeitlebens gespalten. Er besäuft sich, bis er halluziniert. In seinem Tagebuch notiert er am 6. Januar 1804: «Anwandlung von Todes-Ahnung-Doppelt-Gänger.»

Bevor er sich an die «Elixiere des Teufels» macht, studiert er die Lehrbücher der Psychiatrie; Philippe Pinel und Christian Reil sind verbürgte Autoren, deren Werke er für seine Novellen be­nutzt hat. «Schizophrenie» ist für ihn kein abstrakter Terminus; diese Erfahrung ist für ihn Lebens-Erfahrung, Todes-Erfahrung. Dieser Erfahrung verdankt er die Kreativität, die Imagination und die Fähigkeit zur Transzendenz der alltägli­chen Wirklichkeit. Seine Phantasmagorien sind Wahnsinn. E. T. A. Hoffmann beschreibt seinen Wahnsinn so: «Man sagt, daß der Hysterismus der Mütter sich zwar nicht auf die Söhne vererbe, in ihnen aber eine vorzüglich lebendige, ja ganz exzentrische Phantasie erzeuge [...]. Ich meine nicht jenen kindischen albernen Wahnsinn der Weiber, der bisweilen als Folge des gänzlich geschwächten Nervensy­stems eintritt, ich habe vielmehr jenen abnormen Seelenzustand im Sinn, in dem das psychische Prinzip, durch das Glühfeuer überreizter Phantasie zum Sublimat verflüchtigt, ein Gift worden, das die Lebens­geister angreift, so daß sie zum Tode erkranken und der Mensch in dem Delirium dieser Krankheit den Traum eines anderen Seins für das wa­che Leben selbst nimmt».

Wählen wir eine der Erzählungen E. T. A. Hoffmanns aus, die Geschichte vom «Sandmann», der Gestalt also, die dem Kind Sand in die Augen streut, so daß es die Außenwelt nicht mehr sehen kann, müde wird und wie gebannt ins Innere, in die Traumwelt starrt, in der sich Monster, Geister, Ungeheuer und Gespenster tummeln, die das Kind nun als wahre Wirklichkeit erleben muß. Kaum hat die Erzählung begonnen, da ist schon die Rede von den Augen – den Augen der Geliebten Klara. Sie lächelt Nathanael «mit ihren hellen Augen so anmutig» an. Später schreibt Nathanael ein «Ge­dicht». Er überläßt sich dabei seinen Phantasien, und schon verwan­deln sich Klaras Augen. Sie ruft ihm zu: «[...] ich habe ja meine Augen, sieh mich doch nur an!» Nathanael «blickt in Klaras Augen; aber es ist der Tod, der mit Klaras Augen ihn freund­lich anschaut».

Er sieht nicht Klaras Augen; er sieht in ihren Augen nur immer die Blicke aus grauer Vorzeit, die ihn tödlich anstarren – die Blicke der wahnsinnigen Mutter.

Der Brillenverkäufer Coppola, der in das Leben des Studenten Nathanael tritt, um ihm ein Perspektiv zu verkaufen, ein Fern-Glas, durch das er die Welt verändert sehen wird, dieser Coppola verrückt die Perspektiven des glücklich liebenden Nathanael. Plötzlich wird die Vergangenheit zur Gegenwart; und Coppola wird zum Advokaten Coppelius, zu einer Gestalt aus frühen Kindertagen, die mit dem Vater Nathanaels an geheimnisvollen alchimistischen Experimenten teilgenommen hatte. Bei diesen Experimenten verunglückte der Vater tödlich. Auch damals ging es schon um die Augen: Coppelius und der Sandmann, das waren für das Kind ein und dieselbe Gestalt, ein drohendes Monster, das die Augen des Kindes zu stehlen versuchte. «<Augen her, Augen her>, rief Coppelius mit dumpfer dröhnender Stimme.» Die Erinnerung an jene Kindheitser­lebnisse und -phantasien versetzt den Studenten Nathanael, jetzt, da er dem Brillenverkäufer begegnet, in eine «zerrissene Stimmung des Gei­stes». Er schreibt einen Brief, in dem er über sein Unglück berichtet. Klara erhält diesen Brief. Sie antwortet, beschwörend – die Realität, hier und heute, beschwörend, versucht sie den Geliebten von seinen Phantasiebildern zu befreien, den Unterschied zwischen Innen und Außen, Damals und Jetzt betonend. Er möge doch mit seinen Augen die Welt sehen, anstatt mit jenen, die an den Gestalten der grauen Kindheit kleben: «Geradeheraus will ich es Dir nur gestehen, daß, wie ich meine, alles in Deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte.» Und da sie zwischenzeitlich mit ihrem Bruder Lothar über Nathanael gesprochen hat, teilt sie nun auch dessen Ansichten Nathanael mit. Es sei gewiß, meine Lothar, «daß die dunkle phy­sische Macht, haben wir uns durch uns selbst ihr hingegeben, oft fremde Gestalten, die die Außenwelt uns in den Weg wirft, in unser Inneres hineinzieht, so, daß wir selbst nur den Geist entzünden, der, wie wir in wunderlicher Täuschung glauben, aus jener Gestalt spricht. Es ist das Phantom unseres eigenen Ichs [...].»

So wie sich die Reihe des Brillenhändlers, des Advokaten und des Sandmanns für Nathanael zu einer unaufgelösten, drohenden Gestalt verdichtet, so ist die Reihe Tausk, Fritz Wahle, Max Mayer, Ernst von Fleischl, Philipp für Freud zu einer Reihe geworden, die ihn, unaufgelöst, zur Aktion, zum Handeln in der Gegenwart zwingt. Die Angst vor Tausk, dem Doppelgänger, das ist eine infantile Angst. Es ist eine tödliche Angst, eine unheimliche Angst. Sie stirbt nicht mit Tausks Tod.

Auch Nathanaels Versuch sich, in der Gegenwart handelnd, mit der Angst vor dem Sandmann auseinanderzusetzen, wird tödlich enden. E. T. A. Hoffmann schildert meisterhaft, authentisch, den Kampf zwischen Damals und Jetzt, der in der Seele des Nathanael tobt. Es gibt immer wieder Einbrüche der Vergangenheit und immer wieder Befreiungsversuche, die sich an die Gegenwart, an die Gegenwart der Ge­liebten, knüpfen. Sieht Nathanael im Auge Klaras den Tod, so sehen andere Menschen die Gegenwart mit anderen Augen. Sie erkennen in Klaras Augen einen «See [...], in dem sich des wolkenlosen Himmels reines Azur, Wald und Blumenflur, der reichen Landschaft ganzes buntes, heitres Leben spiegelt». Diese Menschen sehen in Klaras Augen das Leben, nicht den Tod. Doch Nathanael packt das «Entsetzliche», er «zürnt» Klara, die «die Existenz des Dämons nur in seinem eigenen Innern statuiere». In solch einem Augen-Blick stößt er Klara von sich. Er brüllt sie an: «Du lebloser, verdammter Automat!»

Die lebendige Frau und die automatische, mechanische, seelenlose Puppe – daraus ergibt sich das zweite Handlungsmotiv, das der Erzählung vom «Sandmann» zugrunde liegt. Der Brillenverkäufer Coppola verkauft Nathanael ein Perspektiv. Dieses vor Augen, erblickt Nathanael in der Gliederpuppe Olimpia die wunderschönste, liebevollste, lebendigste Frau der Welt. Er tanzt mit der Puppe, er spricht mit ihr, er verliebt sich in die seelenlose Puppe. In ihr, die leblose, glanzlose Augen hat, muß er ein Bild wiedergefunden haben, das tief in seiner Seele nistet: das Bild der leblosen, durch keinen Blick die Seele des Sohnes spiegelnden Mutter. Zwanghaft, automatisch verliebt sich Nathanael in die Puppe: «Eiskalt war Olimpias Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte Olimpia ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen [...].» Es ist seine Liebe, es ist seine Sehnsucht, die er in den toten, leeren Augen der Puppe wiederfindet. «[...] die Legende von der toten Braut ging ihm plötzlich durch den Sinn [...].» Schließlich wird Olimpia bei einem Streit zerrissen, der zwischen ihren beiden Konstrukteuren, dem Physiker Spalanzani und dem Opti­ker Coppola, entbrennt.

Zwei Männer streiten sich um eine leblose Frau, um eine Puppe. In diesem Moment packt Nathanael «der Wahn­sinn mit glühenden Krallen». Um geheilt zu werden kehrt Nathanael zu Klara zurück. An dieser Stelle schaltet sich E. T. A. Hoffmann als Erzähler in den Fortgang der Handlung ein. Der Vorfall, so berichtet er, habe in den Teezirkeln der Stadt tiefes Mißtrauen hinter­lassen. Hinfort habe sich bei den Zeugen der Geschichte «abscheuli­ches Mißtrauen gegen menschliche Figuren» eingeschlichen. «Um nur ganz überzeugt zu werden, daß man keine Holzpuppe liebe», verlangten hinfort manche Männer von ihren Frauen Proben, etwa Konversationen, die erweisen sollten, «daß dies Sprechen wirklich ein Denken und Empfin­den voraussetze». Denn niemand konnte sicher sein, wen er vor sich hatte: einen Automaten oder einen Menschen? Infolge solcher Proben wurden manche «Liebesbündnisse [...] fester und [...] anmutiger, andere dagegen gingen leise auseinander».

Als Nathanael geheilt zu sein scheint, besteigen er und Klara einen Aus­sichtsturm. Oben angekommen, nimmt Nathanael Coppolas Fernglas zur Hand. Sowie Klara vor diesem Perspektiv erscheint – sowie er sie unter dieser Perspektive be­trachtet –, «brüllte er wie ein gehetztes Tier» los: «Holzpüppchen dreh dich – Holzpüppchen dreh dich». Es ist Coppolas Blick-Winkel, der ihm die Geliebte nun als Holzpuppe erscheinen läßt. Er versucht Klara vom Turm zu stoßen; Lothar, der Bruder, rettet Klara. In der Menge am Fuße des Aussichtsturms meint Nathanael jetzt den Advokaten Coppelius, also den Brillenhändler Coppola, also den Sandmann zu erkennen. Vom Wahnsinn gepackt stürzt er sich daraufhin zu Tode.

2 Im Todesjahr Tausks, 1919, erscheint Freuds Schrift «Das Unheimliche». Darin beschäftigt sich Freud mit der Erzählung vom «Sandmann». Vielleicht sollte man diese Schrift als zweiten Nachruf auf Tausk, das heißt, als Kommentar zur konfliktreichen Beziehung Freud-Tausk lesen? Freud schreibt: «Warum tritt der Sandmann jedes­mal als Störer der Liebe auf? Er entzweit den unglücklichen Studenten mit seiner Braut und ihrem Bruder, der sein bester Freund ist, er ver­nichtet sein zweites Liebesobjekt, die schöne Puppe Olimpia, und zwingt ihn selbst zum Selbstmord, wie er unmittelbar vor der beglückenden Vereinigung mit seiner wiedergewonnenen Clara steht.» Tausk begeht Selbstmord, wie er unmittelbar vor seiner zweiten Eheschließung steht. Das Unheimliche, der Schreck der Nähe, zwingt ihn zur äußersten Distanz. Freud schreibt, beim Unheimlichen handle es sich um «jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbe­kannte, Längstvertraute zurückgeht». Unter welchen Bedingungen, so fragt Freud weiter, wird «das Vertraute unheimlich»? Es ist das Heimliche, das bekannt wird, das Geheimnis, das entdeckt wird, das Verdrängte und Abgespaltene, das plötzlich und unerwartet in der Ge­genwart Wirklichkeit gewinnt, und sei es auch nur in der Gestalt eines Doppel­gängers, der sich als Projektionsfläche für Teile unseres eigenen innerseelischen Dramas anbietet, und uns damit erschreckt. Damit – mit diesem Teil von uns – wollen wir nichts zu tun haben. Es sind die Gefühle, die als Schatten in uns fortleben.

Die Toten-Seelen, das sind die Vampire. Solange sie Blut trinken, bleiben sie am Leben. Im elften Gesang der Odyssee steigt der Held ins Totenreich (also in die eigene Seele) hinab, um dort längst verges­senen Schatten zu begegnen. Er reicht ihnen Blut – zunächst dem blinden Seher Teiresias, dann der Mutter. Anderen Seelen, die auftauchen, verwehrt er mit dem Schwert von seinem Blut zu trinken. Teiresias und die Mutter, zu neuem Leben erwacht, sagen ihm die Zukunft voraus. Die Zukunft entschlüsselt sich also infolge eines Abstiegs in die Vergangenheit. Es ist diese Szene, die Pate gestanden hat für jene Szene, die Goethe im zweiten Teil des Faust beschwört, wenn es um den Eintritt des Mannes ins «Reich der Mütter» geht.

Odysseus er­weckt zu neuem Leben nur das, was er bewältigen kann. Doch schon das Bild der Mutter, das, vom Blute genährt, lebendig wird, übersteigt fast seine Kraft, erweckt in ihm – Todessehnsucht:

 

«[...] da schwoll mein Herz vor inniger Sehnsucht,

Sie zu umar­men, die Seele meiner gestorbenen Mutter.

Dreimal sprang ich hinzu, an mein Herz die Geliebte zu drücken;

Dreimal entschwebte sie leicht, wie ein Schatten oder ein Traumbild,

Meinen umschlin­genden Armen; und stärker ergriff mich die Wehmut.

Und ich redete sie an und sprach die geflügelten Worte:

Meine Mutter, warum ent­fliehst du meiner Umarmung?»

 

Dreimal versucht Odysseus die Mutter zu fassen, dreimal entzieht sie sich ihm. Drei, das ist eine heilige Zahl. Die dreigestaltige Große Göttin der Vor­zeit, wie sie sich in den Gorgonen-Schwestern zeigt, in den Töchtern des Meeres, des Nichts, des Wahnsinns: Stheno, Euryale und Medusa. Die Dreieinigkeit Vater, Sohn und Heiliger Geist, die das patriarchalisch-christliche Denken an die Stelle der matriarchalen Großen Göttin gesetzt hat. Der Wiederholungszwang sei das Charakteristische des Unheimlichen, meinte Freud. Die Zahl Drei ist denn auch keine Summe, vielmehr wiederholt sich Ein-und-Dasselbe dreimal. Also hat der Mensch im Märchen drei Wünsche frei. «Die drei Männlein im Walde.» «Die drei Spinnerinnen.» «Die drei Schlangenblätter.» «Der Teufel mit den drei goldenen Haaren.» «Die drei Sprachen.» «Die drei Glückskinder.» «Die drei Feldscherer.» «Die drei Handwerksbur­schen.» «Die drei Brüder.» «Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein.» «Die drei schwarzen Prinzessinnen.» «Die drei Faulen.» … Vom Märchen bis zur Dialektik: Auf die These folgt die Antithese und darauf folgt die Synthese, während die Zahl Zwei den Gegensatz, die Teilung, die Spaltung, die Verdoppelung, die Schizo-Phrenie, die Desintegration symbolisiert, die aufzuhalten wäre, wenn zwei eins werden könnten. Das aber macht Angst, denn das bedeutet: Rückkehr zu den Müttern. Vor dieser Angst schützt die Triangulierung.

Freud hat in der Schrift über «Das Unheimliche» seinen Abstieg ins Reich der Mütter als scheinbare Rand-Notiz vermerkt. In diesem Zusammenhang ist bei Freud von einer «unbeabsichtigten Wiederkehr» die Rede. An anderer Stelle schreibt er, «daß der Unterschied zwischen der Mutter und der Hure doch nicht so groß sei, daß sie im Grunde das nämliche tun». Zwanghaft-zufällig gerät Freud nun dreimal ins Reich der Mutter-Huren: «Als ich einst an einem heißen Sommernachmittag die mir unbekann­ten, menschenleeren Straßen einer italienischen Kleinstadt durch­streifte, geriet ich in eine Gegend, über deren Charakter ich nicht lange in Zweifel bleiben konnte. Es waren nur geschminkte Frauen an den Fenstern der kleinen Häuser zu sehen, und ich beeilte mich, die enge Straße durch die nächste Einbiegung zu verlassen. Aber nachdem ich eine Weile führerlos herumgewandert war, fand ich mich plötzlich in derselben Straße wieder, in der ich nun Aufsehen zu erregen begann, und meine eilige Entfernung hatte nur die Folge, daß ich auf einem neuen Umwege zum drittenmal dahingeriet. Dann aber erfaßte mich ein Gefühl, das ich nur als unheimlich bezeichnen kann, und ich war froh, als ich unter Verzicht auf weitere Entdeckungsreisen auf die kürz­lich von mir verlassene Piazza zurückfand.» Hier atmet Freud wieder auf. Anders als Goethe, für den nach zehn Jahren Weimarer Askese, nach zehn Jahren Schmachten im Dienste der Frau von Stein, die italienischen Huren Erlö­sung bedeuten (Goethe erlebt in den Armen einer römischen Schankwirtin erstmals leibhaftiges Liebesglück). Anders als Goethe flieht Freud aus der Gasse der Huren, aus dem Reich der Mütter, die bei Goethe auf einem «Dreifuß» sitzen.

Freud blieb das Reich der Mütter zeitlebens «unheimlich». Das Weib war für ihn ein «Rätsel», «dark coutinent», terra incognita – unbekanntes Land, imaginäre Landschaft. Und doch meinte Freud, er kenne die Weiblichkeit. Jedenfalls war er in der Lage den Penisneid der Frau zu analysieren. In der Schrift über «Das Unheimliche» heißt es: «Wer etwas Kostbares und doch Hinfälliges besitzt, fürchtet sich vor dem Neid der anderen, indem er jenen Neid auf sie projiziert, den er im umgekehrten Falle empfunden hätte. Solche Regungen verrät man durch den Blick [...]» (Herv. – B. N.). Wer besitzt den Penis, und wer ist neidisch? Wer hat Angst den Penis zu verlieren? Wer sind die anderen, die den Penis (und damit die Männlichkeit) rauben könnten? Kastrationsangst und Penisneid, das sind die Ausgeburten der Phantasie, die als projektive Umkehr des Kastrationswunsches (gegen den beneideten Rivalen) und als der auf das Weib projizierte Neid entschlüsselt werden könnten, eines Neides, den empfindet, wer den Rivalen bei einer Sache weiß, für die ihm der rechte Schlüssel fehlt.

«Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich», meinte Freud. Unheimlich ist es, wenn man schicksal­haft mit den eigenen – heimlichen, verheimlichten – Wünschen konfrontiert wird; wenn sich der Körper immer aufs neue in die Gasse der Huren verirrt, aus der der Geist zu fliehen versucht. Unheimlich ist es, wenn das Auge, bedingt durch eine veränderte Perspektive, im scheinbar lebendigen Menschen einen Automaten erkennt. Unheimlich ist es, wenn ein Doppelgänger auftritt, der Gedanken «lesen» und aussprechen kann, von denen ich nichts wissen (lassen) will.

3 E. T. A. Hoftmann schöpft, nach Ansicht Freuds, aus Erfahrungen, die sich einer «Ich-Störung» verdanken, wenn er seine Erzäh­lungen mit dem Charakter des «Unheimlichen» ausstatten will. Dabei wird auf einen seelischen Zustand zurückgegriffen, bei dem das Ich noch nicht fest von der Außenwelt (und damit vom Gefühlsleben anderer Menschen) abgegrenzt ist. Kommt es zur Ich-Regression (und damit zur emotionalen Verschmelzung zweier oder mehrerer Menschen), so stellt sich die Frage: Sind das meine Emotionen oder sind es die Emotionen des anderen, die ich da erlebe oder miterlebe? Werden meine Gedanken durch die Gedanken des anderen beeinflußt, verändert, gesteuert, gemacht? «Doppelgängertum», so Freud, ist gleichbedeutend mit dem «Auftreten von Personen, die wegen ihrer gleichen Erscheinung für identisch gehalten werden müssen»; eine «Steigerung» erfährt «dieses Verhältnis durch Über­springen seelischer Vorgänge von einer dieser Personen auf die andere – was wir Telepathie heißen würden –, so daß der eine das Wissen, Fühlen und Erleben des anderen mitbesitzt». Das führt zur «Identifizierung mit einer anderen Person, so daß man an seinem Ich irre wird oder das fremde Ich an die Stelle des eigenen versetzt, also Ich-Verdoppelung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung [...].» Diese Regression stellt einen seelischen Zustand wieder her, den Freud beim Kind wie beim «Primitiven» gleichermaßen annimmt. Diesem Zustand entspricht eine Entwicklungsphase, in der die «All­macht der Gedanken» – wohl besser: die Allmacht der Gefühle – vorherrschend ist. Die Verschmelzung des Ich mit dem Objekt ist hierbei die Regel, nicht die Ausnahme. Das Objekt hat hier nur solange eine Existenz(berechtigung), solange es als Teil des Ich erlebt werden kann, während das Ich zu sterben droht, wenn sich das Objekt ablöst. Dann macht sich das Objekt selbständig. Als getrenntes Objekt wird es zum eigenständigen Subjekt. Geschieht dies, ist die narzißtische Allmacht desjenigen bedroht, der bisher – scheinbar – über das nunmehr getrennte Objekt verfügen konnte. Jetzt wird All-Macht zur Ohn-Macht. Jetzt besitzt der von mir getrennte Mensch die ganze Macht – und ich bin (Ich ist) auf Gedeih oder Verderb von seiner Präsenz abhängig.

Diese elementare Form von Abhängigkeit ist die Voraussetzung für die Wirksamkeit der «Technik der Magie» (Freud). Der Primitive fürchtet entsprechende «Geheimkräfte» – sagen wir bes­ser: Er fürchtet Kräfte, die in ihm etwas bewirken können; die gegen sein bewußtes Wollen Emotionen provozieren. Es sind diese magischen Kräfte des menschlichen Körpers, Gefühle und Affekte, die ein eigen-mächtiges Spiel entfalten. Magier ist, wer dieses Spiel im anderen hervorrufen und beherrschen kann. Opfer der Magie wird, wer die Regeln dieses Spiels nicht kennt. Er muß passiv erdulden, anstatt Emotionen aktiv steuern (und damit sich selbst beherrschen) zu können.

Es ist immer ein Wechsel-Spiel, das sich zwischen dem emotionalen Vermögen des einen und dem des anderen Menschen entfaltet. Der eine erweckt im anderen, was der in sich nicht kennt – und doch besitzen sollte, anstatt davon besessen zu werden. Freud bemerkt dazu: «Das Unheimliche der Fallsucht, des Wahn­sinns, hat denselben Ursprung. Der Laie sieht hier die Äußerung von Kräften vor sich, die er im Nebenmenschen nicht vermutet hat, deren Regungen er aber in entlegenen Winkeln der eigenen Persönlichkeit dunkel zu spüren vermag. Das Mittelalter hatte konsequenterweise und psychologisch beinahe korrekt alle diese Krankheitsäußerungen der Wirkung von Dämonen zugeschrieben. Ja, ich würde mich nicht verwundern zu hören, daß die Psychoanalyse, die sich mit der Aufdeckung dieser geheimen Kräfte beschäftigt, vielen Menschen darum selbst unheimlich geworden ist.»

Unheimlich ist es, wenn die dunklen Phantasien, die Schatten der Vorzeit, im Wachbewußtsein unverhofft auftauchen, Gestalt gewinnen, greifbar, aber noch nicht beherrschbar werden. Zur Verwirrung kommt es, wenn sich diese Bilder nicht mehr von den Gestalten der Außenwelt abtrennen lassen, wenn sich Phantasie und Wirklichkeit so sehr vermischen, daß Inneres und Äußeres, Ich und Du nicht mehr zu unterscheiden sind. Wenn der Zauberer oder die Hexe Zugang zum Inneren des Verzauberten oder Verhexten erlang en, können sie die dort begrabenen Seelen mit magischer Kraft zu neuem Leben erwecken. Und haben die toten Seelen Blut getrunken, dann sind sie nicht mehr ohne fremde Hilfe zu bannen.

Der «Hexenhammer» ist eine Anleitung zur Bannung der Dämonen –und damit eines der ersten Lehrbücher abendländischer Psychologie, neuzeitlicher Psychologie. Bei den Dämonen handelt es sich um die Abbilder jener Emotionen, die das Hexenspiel zwischen den Menschen – das Wechsel-Spiel der Emotionen – entfachen und die gegen den Willen eines oder beider Beteiligter wirken. Dem «bösen» Blick kommt hierbei eine ausgezeichnete Rolle zu. Über die alten Weiber, deren Seele voll Schlechtigkeit erfüllt ist, heißt es im «Hexenhammer» denn auch: «Ihr Blick ist giftig und schäd­lich, und zwar am meisten für Kinder, die einen zarten Leib haben und leicht empfänglich sind für Eindrücke.» Und weiter lesen wir: «Es kann nämlich geschehen, daß ein Mann oder eine Frau, wenn sie den Leib eines Kna­ben ansehen, ihn durch Vermittlung des bloßen Anblickes und der Ein­bildung oder irgendeiner sinnlichen Leidenschaft erregen; und weil eine solche mit körperlicher Veränderung verknüpft ist, und die Augen sehr zart sind, weshalb sie Eindrücke sehr leicht aufnehmen», infiziert der böse Blick des Zauberers oder der Hexe die Augen des zarten Knaben, und durch dessen Augen hindurch werden die «inneren Teile des Knaben selbst» erreicht.

Von psychischer In­fektion ist hier die Rede, von emotionaler Ansteckung, die zur Erregung der Einbildungskraft, der Phantasien und Imaginationen, aber auch zur Erhitzung oder Erkältung des kindlichen Körpers führt. Der Blick verwandelt: «Große Kraft liegt in den Augen», zitiert der «Hexenhammer» den Psalmisten. Der Blick des Zauberers oder der Hexe erregt im Kopf des Angeblickten Vorstellun­gen, die «in seinem Körper Giftstoffe» erzeugen, Giftstoffe, die den Körper verändern, aufweichen oder erstarren lassen; Giftstoffe, die psychisch oder somatisch – eigentlich: psycho-somatisch – stören und schließlich gar zerstören können. Die Angst vor den Dämonen ist, so interpretiert, eine berechtigte Angst, nämlich die Angst, der Anblick des der anderen könnte die Teufel in der eigenen Brust hervorlocken und die «reine» Seele verstören.

War Tausk – und das ist unsere letzte Frage – für Freud ein sol­ches «Angstobjekt», ein Doppelgänger, der in ihm auszulösen ver­stand, was Freud nicht wollte, was er gebändigt zu haben glaubte?

Freud der Asket, der Beherrscher der Leidenschaften, der Mann, der sich mit dem Gesetzesbegründer Moses verglich, der die Vernunft zur «Diktatur» erheben wollte, der Mann, der die Dämo­nen im eigenen Inneren fürchtete wie den Leibhaftigen, vor allem, wenn der sich in Gestalt einer Frau näherte … und Tausk, den diese Dämonen durchs Leben jagten, dem sie überall begegneten, immer wieder, vor allem in Gestalt von Frauen. Tausk, der Lou geliebt hatte, der «perverse» Züge besaß, wie Eissler diagnostizierte, der die Herzen brach und vergaß, wie er sein eigenes Herz dabei in Stücke riß. Tausk, der «Künstler», der eine «Zukunftsbe­drohung» war, wie Freud schrieb. Er vermisse ihn nicht, teilte Freud Lou nach dem Tod Tausks mit. Mit all seiner Sensibilität und Imagination war Tausk ein «Künstler»; dann aber war er auch noch ein «Arbeiter im Detail der Wissenschaft». Hier galt sein Interesse – wen würde das verwundern? – dem Krankheitsbild «Schizophrenie». In dem Jahr, in dem Freuds Arbeit über «Das Unheimliche» erschienen ist (1919), veröffentlichte auch Tausk eine Abhandlung. Sie trug den Titel: «Über die Entstehung des <Beeinflussungsapparates> in der Schizophrenie». Die SCHRIFT I (Freud) und die SCHRIFT II (Tausk) sollten, wie ich meine, wie die Vor- und Rückseite einer SCHRIFT III gelesen werden, die als solche noch zu entziffern wäre. Und wer Sinn für Zahlenmystik besitzt, der sei noch einmal darauf hingewiesen: Tausk erschoß sich der Nacht zwischen dem Zweiten und dem Dritten (2./3. Juli 1919).

Der Schizophrene, so Tausk, fühle sich durch die dämonische Macht eines «Beeinflussungsapparates» beeinträchtigt. Dieser Apparat, so glaubt der Kranke, kann Gedanken und Gefühle beeinflussen oder auch entziehen; er soll Körperreaktionen hervorrufen oder auch hemmen können. Der Apparat übernimmt damit gleichsam die «Steuerung» der Gedanken, Gefühle und Körperreaktionen, die der Kranke selbst nicht ausüben kann. Er ist angesichts dieser unheimlichen Kräfte ohnmächtig. Er hat seine Macht an den «Apparat» verloren. «Führerlos» sei er «herumgewandert», schreibt Freud, als er sich an eine Episode während einer Reise durch Italien erinnert. Immer wieder – scheinbar automatisch, ja, mechanisch wie eine Puppe, die an unsichtbaren Fäden hängt – ist er in die Gasse der Huren geraten. Er wollte heraus – und geriet doch immer wieder hinein. Ist es Zufall, wenn Tausk für die Fähigkeit des «Beeinflussungsapparates», den Körper zu manipulieren, gerade das Beispiel der «Erektion» ausgewählt hat? Hierbei scheinen die geheimnisvollen Mächte, die «dämonischen» Gewalten eine ganz besondere Rolle zu spielen. Denn in diesem Fall ist das «Unbewußte» des einen mit dem «Unbewußten» des anderen besonders eng verbunden.

Der Verlust der Kontrolle, den der Kranke erlebt, der sich vom «Beeinflussungsapparat» gesteuert erlebt, geht mit einem Verlust der Abgrenzung gegenüber der Außenwelt einher: «Der Kranke hat das Bewußtsein verloren, ein psychisches Sonderwesen, ein Ich mit eigenen Grenzen zu sein», schreibt Tausk. Der Kranke, der zwischen sich und dem Anderen keine Grenze (mehr) erleben kann, wird sich um die Rückgewinnung (oder erstmalige Aufrichtung) einer solchen Grenze bemühen müssen – denn nur so kann er sich vor der scheinbaren Allmacht des Anderen (und vor dem «Beeinflussungsapparat») schützen. Der Ohnmacht entspringt der Wille zur Macht: Nicht er soll mich, ich will ihn beherrschen. Gelingt es, den Anderen zum willenlosen Objekt meiner Bedürfnisse zu machen, dan muß ich keine Angst mehr vor dem Anderen haben. Diesem Wunsch, das Objekt zu kontrollieren, um nicht selbst von ihm kontrolliert zu werden, kommt der «Dritte» gerade recht. Er kann bei der Auflösung der Verschlingung mit dem Zweiten helfen – oder aber verhindern, daß es überhaupt zu einer solchen Verstrickung kommt. Ist kein Dritte verfügbar, wird einer von zweien dran glauben müssen: er wird sich aufspal­ten – und so einen Teil von sich selbst zum Dritten machen.

 

Der vorstehende Text ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags, der erstmals unter dem Titel Messer im Herz, Dreieck im Kopf. Vignetten zur Pornographie der Gefühle erschienen ist in: Konkursbuch 10, 1983, 53-88.