Bernd Nitzschke

Wunscherfüllung und Illusion.
Dem Alten Adam ins Auge sehen – die Psychoanalyse überlebt das 20. Jahrhundert.

Nirgendwo ist der in diesem Jahrhundert erreichte Fortschritt so greifbar wie auf dem Gebiet der Information und der Kommunikation. Das Internet ist Synonym schrankenlosen Wissens und bietet die Möglichkeit, mit Menschen über alle Ländergrenzen hinweg zu kommunizieren. Man ist nicht mehr allein auf dieser Welt, wenn man im Internet surft - auch wenn man sich ganz einsam fühlen sollte.

Aber auch unsere altvertrauten Formen, uns zu uns selbst und zu anderen in Beziehung setzen, sind abgespeichert - in unseren archaischen Triebwünschen und in den kollektiven Ritualen, mit denen wir ihnen begegnen, in unserer Kultur also. Die Zählebigkeit unserer Natur beherrscht uns - so sehr wir auch die Natur mit Hilfe unserer Kultur zu beherrschen glauben. Keiner hat das mehr betont als Sigmund Freud, der am Anfang dieses Jahrhunderts eine Wissenschaft schuf, die sich mit dem archaischen Erbe des Menschen, mit seinen animalischen und infantilen Triebwünschen beschäftigt.

Der Neandertaler am Computer, der infantilen Allmachtsphantasien von der Beherrschbarkeit der Welt nachhängt - dieses Bild widerspricht Freuds Menschenbild und seinem Kulturverständnis jedenfalls nicht. Freud, der konservative Revolutionär, deckte in jedem Fortschritt die Wiederkehr des Alten auf - und erklärte die überlieferte und im Grunde religiöse Überzeugung, der Alte Adam sei zu überwinden, für aussichtslos. Freud hat damit der Erfüllbarkeit einer alten und doch so modernen Wunschvorstellung widersprochen. Kein Wunder, daß seine Botschaft auf Widerspruch stieß.

Und so gleichen die Einsprüche gegen die Psychoanalyse, die auch schon einmal als Irrtum des Jahrhunderts (Dieter E. Zimmer) abqualifiziert worden ist, am Ende des Jahrhunderts noch immer jenen, die bereits am Anfang des Jahrhunderts erhoben worden sind. Der kleinste gemeinsame Nenner all dieser Einwände gegen die Psychoanalyse, lautet: sie sei unwissenschaftlich. Der Einwand ist berechtigt, wenn Wissenschaft als Synonym der Fähigkeit begriffen wird, die Welt oder - im konkreten Fall - den Menschen neu zu erschaffen. Nimmt man Abstand von diesem Wunsch, Gott ähnlich zu werden, ist die Psychoanalyse eine Wissenschaft. Sie schafft Wissen über den wünschenden Menschen - und zeigt die Grenzen seiner Wünsche auf. Also verschafft sie uns ein Wissen, das wir nicht ohne weiteres wissen wollen. Denn es widerspricht unseren Wünschen. Also wehren wir uns nicht nur gegen dieses Wissen, sondern auch gegen die Methode, mit der es zu erlangen ist. Der Tod der Psychoanalyse ist deshalb auch eine in diesem Jahrhundert immer wiederholte Prophezeiung.

Über derlei vorweggenommene Grabreden äußerte Freud bereits am Anfang des Jahrhunderts: "Den Stand der Psychoanalyse in Deutschland kann man nicht anders beschreiben, als indem man konstatiert, sie ... rufe bei Ärzten wie bei Laien Äußerungen entschiedenster Ablehnung hervor ... Ich habe etwa ein Dutzend Male im Laufe dieser Jahre ... zu lesen bekommen: nun sei die Psychoanalyse tot, endgültig überwunden und erledigt! Die Antwort hätte ähnlich lauten müssen, wie das Telegramm Mark Twains an die Zeitung, welche fälschlich seinen Tod gemeldet hatte: Nachricht von meinem Ableben stark übertrieben. Nach jeder dieser Totsagungen hat die Psychoanalyse neue Anhänger und Mitarbeiter gewonnen oder sich neue Organe geschaffen."

Sollte Freud recht haben, stünde der Psychoanalyse eine glänzende Zukunft bevor. Schließlich war nie mehr Totsagung der Psychoanalyse als heute. Das Freud-bashing (Freud-Abwatschen) ist seit Jahren in den USA verbreitet. Und auch hierzulande hat es inzwischen Konjunktur - nachdem die Psychoanalyse in den 60er und 7Oer Jahren eine vorrübergehende Renaissance erleben durfte. Doch die Zeiten haben sich geändert - und mit ihnen das intellektuelle Klima.

So haben die Grabreden, die der Berner Psychotherapieforscher Klaus Grawe in den letzten Jahren auf die Psychoanalyse hielt, nicht nur in wissenschaftlichen, sondern auch in populären Medien Verbreitung gefunden (Stern, Spiegel, Focus usw.). Grawe gilt der veröffentlichten Meinung als Kronzeuge gegen die vermeintlich antiquierte Psychoanalyse. Kurztherapie ist das Schlagwort der Stunde, das Patienten und Kassen gleichermaßen elektrisiert. Warum noch lange Psychoanalysen, wenn sich lebenslanges Leiden aufgrund früher Traumatisierungen und chronischer seelischer Konflikten auch in 40 oder 50 Stunden beseitigen läßt, wie Grawe behauptet?

Inzwischen haben namhafte Empiriker und Methodenkritiker, keineswegs nur Psychoanalytiker, Grawe widersprochen und nachgewiesen, daß er im Umgang mit empirischen Daten jede Sorgfalt vermieden hat, seine Schlüsse also auf Sand gebaut sind (z.B. Markus Fäh, Gottfried Fischer: 'Sinn und Unsinn in der Psychotherapieforschung', Psychosozial Verlag 1998). Doch davon wollte das allgemeine Publikum nichts mehr wissen. Also kamen die Kritiker Grawes in den populären Medien kaum zu Wort. Mögen die Mittel der Informationsvermittlung auch einen nie gekannten Stand erreicht haben - unsere Mittel, Informationen zur Kenntnis zu nehmen, die unseren Wünschen widersprechen, sind deshalb noch nicht angewachsen.

Freuds Botschaft, es sei viel erreicht, wenn es gelinge, psychisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln - soll heißen: einen Menschen zu befähigen, der Not des Lebens anders als mit neurotisch motivierten Wunscherfüllungsphantasien zu begegnen - ist nicht publikumswirksam. Sie stößt auf Widerstand. Denn der Wunsch nach Heil ist stärker als der nach Heilung, die doch nur darauf hinauslaufen kann, beschädigtes Leben anzuerkennen und sich damit auszusöhnen.

Solche Selbstversöhnung setzt die Bereitschaft zur Trauer voraus, die wir empfinden, wenn wir anerkennen, daß die Vergangenheit nachträglich nicht zu korrigieren ist. Psychotherapie - wie Freud sie auffaßte - kann deshalb nicht mehr erreichen als die Umwandlung pathologischer (und das heißt: verweigerter) Trauer in durchgearbeitete (und das heißt: abgeschlossene) Trauer. Zu ändern ist also bestenfalls unsere Einstellung gegenüber dem Leid, das wir erfahren haben. Es wieder aus der Welt, aus der eigenen Lebensgeschichte schaffen zu wollen, bedeutet neues Leid. Davon zeugt jeder Wunsch nach Rache. Wiedergutmachung im strengen Sinn des Wortes gibt es hingegen nicht.

Das gilt nicht nur im individuellen, das gilt auch im kollektiven Fall. Auch das Kollektiv bedarf der Versöhnung, der Aussöhnung mit sich selbst, wenn es alte Wunden vernarben lassen und keine neuen Wunden schlagen will. Ein unzeitgemäßer Kritiker der Kultur, also ein aufgeklärter Verteidiger der Kultur, hat dazu einst bemerkt: "Die menschliche Kultur - ich meine all das, worin sich das menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat und worin es sich vom Leben der Tiere unterscheidet - und ich verschmähe es, Kultur und Zivilisation zu trennen - zeigt dem Beobachter bekanntlich zwei Seiten. Sie umfaßt einerseits all das Wissen und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur zu beherrschen und ihr Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzugewinnen, andererseits all die Einrichtungen, die notwendig sind, um die Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung der erreichbaren Güter zu regeln ... Menschliche Schöpfungen sind leicht zu zerstören und Wissenschaft und Technik, die sie aufgebaut haben, können auch zu ihrer Vernichtung verwendet werden."

Freud schrieb dies wenige Jahre vor der Errichtung des Archipels Gulag, vor Auschwitz und Hiroshima nieder. Sein Blick war illusionslos - und er hielt deshalb jeden Schrecken für menschenmöglich. Freuds Hoffnung, es ließe sich mit unseren Triebwünschen anders umgehen, wenn wir die daraus erwachsenden Illusionen als solche durchschauten, anstatt sie bis zum bitteren Ende, bis zum staatlich organisierten Massenmord, in Szene zu setzen, bezeichnete er selbstironisch als Illusion. Er glaubte an die aufklärerische Kraft der Vernunft, also an die Einsicht, daß die menschliche Welt nicht grenzenlos machbar ist, wohl aber menschlich zu gestalten wäre. Glauben wir am Ende des Jahrhunderts noch immer an Freuds Illusion?

Frankfurter Rundschau (Beilage) –  “Das 20. Jahrhundert”, 8. 12. 1999, S. 12