Siegfried Zepf: Allgemeine psychoanalytische Neurosenlehre, Psychosomatik und Sozialpsychologie. Ein kritisches Lehrbuch. Zweite erweiterte und aktualisierte Auflage (3 Bde, 1147 Seiten). Psychosozial-Verlag. Gießen 2006.

 

Im Vorwort der erweiterten Neuauflage seines Werkes zitiert der Autor einen Rezensenten, der die im Jahr 2000 erschienene Erstauflage des „kritischen Lehrbuchs“ mit Freuds „Traumdeutung“ verglichen hatte: beide Bücher seien grundlegend, denn was „Die Traumdeutung“ für das 20. Jahrhundert bedeutet habe, das reiche das „Lehrbuch“ als zukunftweisendes Erbe an das 21. Jahrhundert weiter. Siegfried Zepf greift diesen Ball auf und spielt ihn so zurück: er habe „nichts Neues gedacht, sondern lediglich über das bereits Vorhandene nochmals nachgedacht und versucht, in kritischer Würdigung bestehender Konzepte das darin Enthaltene zum Vorschein und in einen systematischen Zusammenhang zu bringen“.

Das ist nicht wenig. Das ist eine Herkulesaufgabe. Denn das von Freud begonnene Projekt kritisch zu würdigen – und das heißt ja: es fortzusetzen –, setzt voraus, daß man beiseite räumt, was sich während eines Jahrhunderts über Freud aufgetürmt hat, um so das, was Freud tatsächlich gesagt hat, von dem zu trennen, was er angeblich gesagt haben soll. Diese Aufgabe lohnt sich, denn die Lektüre des „kritischen Lehrbuchs“ erweist, daß vieles von dem, was nach Freud gesagt worden ist, bloß alter Wein in neuen Schläuchen ist, und manch alter Freudscher Hut noch heute wie angegossen paßt.

In rekonstruierter Gestalt kann man Freuds Projekt dann auch fruchtbar zur Diskussion stellen. Man gewinnt allerdings nicht viele Freunde unter den zeitgenössischen psychoanalytischen Autoren, wenn man deren Abhandlungen als „Sammelsurien von Bruchstücken heterogener und in sich widersprüchlicher Konzeptionen, die als gleichermaßen gültige Sichtweisen gelten, obwohl sie miteinander unvereinbar sind“, kennzeichnet und den Stand der gegenwärtigen Diskussion als „Eklektizismus“ und Meinungspluralität“ kritisiert. Wer solch starke Worte gebraucht, muß man belastbare Belege vorweisen. Und Zepf liefert sie – in Hülle und Fülle. Oft genügt es schon, wenn er die immanenten Widersprüche der als Kritik an oder Ergänzung zu Freud vorgetragenen Theorien herausarbeitet. Aber auch wenn die Autoren ihre Thesen konsistent gefaßt vorgetragen, heißt das noch nicht, daß sie damit auch auf dem von Freud bestellten Feld von Nutzen waren. Metaphorisch gesprochen: der Hinweis, daß Äpfel und Birnen zu Marmelade zu verarbeiten sind, trifft zwar zu, aber das heißt nicht, daß dieser Vergleich die wesentliche Gemeinsamkeit von Äpfeln und Birnen treffen würde.

Kritische Einwände trägt Zepf nicht zuletzt im Abschnitt über „Analytische Sozialpsychologie“ vor. Hier demonstriert er die unter dem Gewand scheinbarer Modernität verborgene Antiquität von Beiträgen, deren Autoren davon überzeugt sind, sie stützten sich auf Freud oder ließen ihn weit hinter sich. Zepf merkt trocken an, sie seien bloß weit hinter Freud Reflexionsstand zurückgefallen. Wen solche polemischen Zuspitzungen nicht abschrecken, der wird auch Gefallen am Vergleich finden, den Zepf zwischen der Gedankenstärke zieht, die für die „Astrologieecke in einem Sonntagsblättchen“ nötig ist (diese Formulierung übernimmt er von Parin), und der „Logik“, mit der in „Aufsätze(n) Kernbergscher und Bohleberscher Prägung“ über gesellschaftliche Zusammenhänge hergezogen wird. Und wer auch noch heute – also lange nach der Zeit, in der alle, nur „wir“ nicht, vom Wetter sprachen – die These für falsch hält, die psychoanalytische Theorie erreiche „das Außen“ nicht (früher hieß das einmal: „die Gesellschaft“), eine These, die Reimut Reiche 1995 u. a. mit Verweis auf Adorno vorgetragen hat, den tröstet Zepf mit einem Adorno-Zitat, nämlich diesem: „Die Trennung von Gesellschaft und Psyche ist falsches Bewußtsein; sie verewigt kategorial die Entzweiung des lebendigen Subjekts und der über die Subjekte waltenden und doch von ihnen herrührenden Objektivität.“

Zepf nennt die Dinge also beim Namen. Und so kann er die Spreu vom Weizen trennen – eine Trennung, die er während des gesamten Argumentationsgangs durchhält. Er geht dabei jeweils auf den Kontext ein, in dem Freud einen Begriff geprägt und gebraucht hat, erläutert gegebenenfalls die damit verbundenen Unzulänglichkeiten und verfolgt dann weiter, inwieweit dieser Kontext berücksichtigt worden ist, wenn ein späterer Autor unter Berufung auf Freud den entsprechenden Begriff benutzt. Ja, eine solch gründliche Untersuchung der theoretischen, therapeutischen und methodischen Begriffe Freuds lohnt die Mühe, erweist sie diese Begriffe doch als flexibel und sperrig zugleich – flexibel genug für jedes kreative Nach- und Weiterdenken und viel zu sperrig für jeglichen Zeitgeist.

Begriffe erhalten ihren Sinn bekanntlich nicht freischwebend, sondern nur in einem Kontext. Wie jeder weiß, der die psychoanalytische Literatur kennt, sind nun aber viele Freudsche Begriffe längst aus dem Zusammenhang gerissen worden, in dem sie ursprünglich einmal standen. Deshalb muß man sich, wenn man mit Freud und nicht über ihn (hinweg) reden will, den Kontext wieder erarbeiten, in dem er seine Begriffe gebraucht hat – oder aber man gebraucht sie in sorgloser Willkür.

Paradebeispiel für den Nachweis solcher Beliebigkeit ist der Narzißmus-Begriff. In dem Kapitel, in dem Zepf unterschiedliche Narzißmus-Konzepte – sie reichen von Ferenczi, Balint und Grunberger bis zu Kohut und Kernberg – vorstellt, untersucht er den Narzißmus-Begriff zunächst im Kontext der Theorie Freuds, um dann zu zeigen, wie sich in den anschließenden Reden über Narzißmus Identisches und Verschiedenes mischten und am Ende unterschiedliche Begriffe für Gleiches und gleiche Begriffe für Verschiedenes im Gebrauch sind. Diese babylonische Sprachverwirrung macht dann jeden möglichen Erkenntnisfortschritt wieder zunichte.

Das Kapitel über die Narzißmus-Konzepte zeigt aber auch, daß es Zepf nicht darum geht, die Meinungspluralität durch eine dogmatische Freud-Exegese zu ersetzen. Er plädiert vielmehr für die Fortführung und Weiterentwicklung des Freudschen Ansatzes – bei Wahrung des originären Erkenntnisinteresses der Psychoanalyse.

Dieses Interesse ist durch den Gegenstand und die ihm angemessene psychoanalytische Beobachtungsmethode ausgezeichnet. Zepf erläutert das im Kapitel über den „wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse und ihrer Begriffe“. Die Entwicklung und Konstruktion der Persönlichkeit kann nun aber wiederum mit Hilfe sehr unterschiedlicher wissenschaftlicher Strategien untersucht werden. Das wird durch den Exkurs über die Bindungstheorie deutlich, den Zepf unternimmt, um die eigen- und andersartige (nämlich die auf die psychische Realität gerichtete) Zielsetzung der psychoanalytischen Beobachtungsmethode zu unterstreichen. Das heißt nicht, daß andere Beobachtungsmethoden keine Berechtigung hätten; das heißt aber, daß sie sich vom Freudschen Ansatz sowohl im Hinblick auf den Gegenstand wie die Methode unterscheiden. Die Entwicklung und Konstruktion (beziehungsweise die therapeutische Nachentwicklung und Rekonstruktion) der Repräsentanzenwelt, die im Kontext affektiver und sprachlicher Beziehungen (beziehungsweise im Spiel und Gegenspiel von Übertragung und Gegenübertragung) erfolgt –sind bei Freud eben doch anders gefaßt als bei Bowlby (worauf schon René A. Spitz hingewiesen hat).

Mit einem Wort: wer Inner-Afrika erkunden will, kommt mit dem Reiseführer für die Antarktis im Gepäck nicht weit. Wer aber weiterkommen und sich im Dschungel (der psychoanalytischen Literatur) zurechtfinden will, für den ist das „kritische Lehrbuch“ von Zepf von außerordentlichem Nutzen.

 Bernd Nitzschke (Düsseldorf)