Gerhard Wittenberger, Christfried Tögel (Hg.): Die Rundbriefe des „Geheimen Komitees“. Band 1 (1913-1920), 320 Seiten; Band 2 (1921), 367 Seiten; Band 3 (1922), 304 Seiten; Band 4 (1923-1927), 411 Seiten. Tübingen (edition diskord) 1999-2006  


Die Korrespondenz des „Geheimen Komitees“ – dem ursprünglich neben Sigmund Freud und Otto Rank in Wien, Ernest Jones in London, Sándor Ferenczi in Budapest sowie Karl Abraham, Max Eitington und Hanns Sachs in Berlin angehörten – liegt nun vollständig editiert vor. Sie umfaßt eine Zeitspanne, die von 1913, also von der durch die Exkommunikation Alfred Adlers, Wilhelm Stekels und Carl Gustav Jungs aus der psychoanalytischen Bewegung ausgelösten Krise, bis zum 10. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß reicht, der im September 1927 in Innsbruck stattfand. Bei dieser Gelegenheit wechselten einige der Mitglieder des bislang inoffiziellen „Geheimen Komitees“ in den Zentralvorstand der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung über und erhielten so offizielle Funktionen: Eitingon wurde Präsident; Jones und Ferenczi wurden Stellvertreter; und Anna Freud, die später ins „Geheime Komitee“ aufgenommen worden war, bekam den Posten der Sekretärin.

Die Korrespondenz beginnt mit einem Brief Ferenczis, in dem er die organisatorischen Schachzüge erörtert, die zu unternehmen wären, um den 1913 noch amtierenden Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, also C. G. Jung, kaltzustellen. Sollte man den Verein auflösen? Sollte man austreten? Das Kopfzerbrechen hatte ein Ende, als sich Jung, gekränkt, von selbst zum Rückzug entschloß. Für die Zeit danach, also die Jahre während des Ersten Weltkriegs, liegen keine Briefe vor. 1918 hebt die Korrespondenz dann mit der Erörterung an, wie mit dem Geld zu verfahren sei, das der Budapester Brauer Anton von Freund zur Förderung der „Sache“ in eine Stiftung eingebracht hatte. Was es mit der Pflege dieser „Sache“ auf sich hatte, das hat Ferenczi 1919 Eitingon in drastischer Deutlichkeit mitgeteilt: „Der Zweck des Komitees ist kein geringer. Es gilt, die großen Ideen und Erkenntnisse Freuds über alle Fährlichkeiten, die ihr von externer wie von interner Seite drohen, zu bewahren, und der folgenden Generation zu überliefern. Zwar sind die Statuten unserer Gemeinschaft niemals in Worte gefaßt worden, doch glaube ich, daß es sich in erster Linie darum handelt, die Idee, Freuds Werk, möglichst unverändert zu erhalten. Wir haben es mit den Erzeugnissen eines in seiner Bedeutung noch gar nicht voll zu würdigenden Geistes zu tun. Alles, was er uns sagte und sagen wird, muß also mit einer Art Dogmatismus gehegt werden, auch Dinge, die man vielleicht geneigt wäre anders auszudrücken. Wie oft mußte ich nachträglich einsehen, daß die von ihm gegebene Erklärung doch die tiefste und zureichendste war. Die Fähigkeit, auf eine eigene Idee zu Gunsten der zentralen zu verzichten, ist also eine der Hauptbedingungen, an die die Mitgliedschaft des Komitees geknüpft ist.“ Schön. Dogmatismus und die Verabschiedung des eigenen Urteilsvermögens sind nun aber nicht jedermanns „Sache“. Im Komitee saß aber auch nicht jedermann. Ihm gehörten nur die „besten und zuverlässigsten Männer“ an (glaubte jedenfalls Jones, der die Idee, ein Komitee zu gründen, als erster hatte).

Und wenn an der Zuverlässigkeit eines der Mitglieder Zweifel auftauchten – dauerte es nicht lange und die Wege trennten sich. So schied 1924/25 Otto Rank aus, der (Zieh-)Sohn, der durch die Tochter (Anna Freud) ersetzt wurde, während es für den im Dezember 1925 verstorbenen Karl Abraham keinen rechten Ersatz gab. Beide Ereignisse finden ihren Niederschlag in der Korrespondenz. So heißt es im Rundbrief vom 14. Mai 1925 aus Wien, wo man offenbar die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben hatte, der verlorene Sohn werde den Weg in des Vaters Haus zurückfinden: „Rank ist aus seiner Depression heraus, wir setzen unsere Besprechungen fort, ich glaube, mit gutem Erfolg. Es gelingt mir (Freud – B.N.), ihm nachzuweisen, daß seine Theorie und seine Neurose sich in auffälliger Weise ergänzen.“ Dieser „Nachweis“ muß Rank den Rest gegeben haben: jedenfalls kehrte er Wien nun den Rücken und suchte sein Glück anderswo. Ebenso endgültig war Freuds Bruch mit Wilhelm Fließ, dem Freund aus alten Tagen, der noch immer in Berlin praktizierte. Der kranke Abraham hatte sich an Fließ gewandt, um sich von ihm helfen zu lassen. Am 17. Oktober 1925, also drei Monate vor seinem Tod, schreibt er in einem Rundbrief über seine Erfahrungen mit Fließ: „Ich habe einen Begriff von seinen ganz ungewöhnlichen Eigenschaften als Arzt bekommen.“ Außerdem, so teilt er mit, habe Fließ noch immer Interesse an Freuds Zustand gezeigt. Freud litt damals bekanntlich bereits seit mehr als zwei Jahren an einer Krebserkrankung im Rachenbereich. Und das Thema Rauchen bzw. Nichtrauchen hatte auch schon während der Zeit, als Freud und Fließ noch befreundet waren, eine Rolle gespielt, wobei der als Hals-, Nasen- und Ohrenarzt tätige Fließ vergeblich versucht hatte, Freud zum Verzicht auf das Rauchen zu bewegen. Abrahams Nachricht aus Berlin führte nun abermals zu einer heftigen Abwehrreaktion in Wien. Im nachfolgenden Rundbrief stand zu lesen: „Ich persönlich (Freud – B.N.) will Abraham gerne zugestehen, daß sein Konsiliarius Fließ ein ganz hervorragender Arzt ist. Aber wenn er berichtet, daß er sich teilnahmsvoll nach meinem Zustand erkundigt hat, so muß ich sagen, diese Sympathiebezeugung nach zwanzig Jahren läßt mich ziemlich kalt. Unsere große Freundschaft ging daran zugrunde, daß er ein latenter Paranoiker ist.“

Solch vertraulich-unzensierten Bekenntnisse, die in den Rundbriefen immer wieder auftauchen, gewähren Einblick in das persönliche Empfinden derer, die sich hier in „intimer Gemeinschaft zur Pflege der Psychoanalyse“ (Ferenczi) zusammengefunden hatten. Das lockert die bürokratisch abgefaßten Mitteilungen über Kongreßvorbereitungen, Ortsgruppensitzungen, Verlags- und Journalpolitik, Vortragstätigkeiten und Geldsorgen etwas auf und macht die Lektüre auch für diejenigen lohnend, deren Herz nicht an der Geschichte der Organisations- und Institutionspolitik der Psychoanalyse hängt.

Sie können sich bei Ferenczi bedanken, denn der ist immer für eine Überraschung gut, wobei seine Allmachtphantasien allerdings bisweilen recht nervtötend sind: „Ich bin überzeugt, daß die Psychoanalyse das Kristallisationszentrum einer neuen Weltanschauung bildet, das alle naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Gebiete zu einer Einheit zusammenfassen wird. Es ist gut, wenn die Vertreter der unverfälschten Psychoanalyse auf jedem Gebiete wenigstens die Direktiven für die Zukunft geben.“ Auf jedem Gebiet! Und so setzt Ferenczi denn auch tapfer auf sein Steckenpferd und fährt mit fröhlicher Wissenschaftsgläubigkeit fort: „Das vernachlässigte Gebiet der sog. ‚occulten’ Phänomene dürfte eine ganze Reihe wichtiger Funde liefern, wenn es von den Ps.Analytikern bearbeitet werden würde.“

Ach, wie unterhaltsam kann Wissenschaft sein! Zu unterhaltsam für den Geschmack der Komiteeler in Berlin fiel allerdings 1925 Georg Groddecks Besuch in der Stadt aus. Die Briefempfänger in London, Wien und Budapest vernahmen deshalb die nachstehende Klage: „Er hat wieder 3 Vorträge gehalten. (…) In einem der Vorträge unterbrach G. sich: er habe soeben von der Straße ein Autosignal gehört und wolle einmal seine freie Assoziation dazu mitteilen. Nach zuverlässigem Bericht (die Herren Abraham, Sachs und Eitingon waren beim Vortrag offensichtlich nicht zugegen und hatten sich aufs Hörensagen verlassen – B. N.) gab er nun weit über eine Stunde lang alle intimsten Einzelheiten seines Privatlebens zum besten, die sich u. a. auf seine anwesende Frau bezogen; dabei schwelgte er dauernd in den krassesten Ausdrücken.“

Ja, Zurückhaltung, das war Groddecks „Sache“ nicht! Und deshalb hatte er auch schon 1921 Anstoß erregt. Und zwar mit einem „psychoanalytischen Roman“, genannt „der Seelensucher“, der im Internationalen Psychoanalytischen Verlag erschienen war. Im Rundbrief vom 21. Februar 1921 berichten die Wiener, sie hätten Post erhalten: „Die Schweizer Gruppe hat offiziell beim Verlag gegen die Publikation des Groddeckschen Buches als einer schädlichen und pornographischen Erscheinung protestiert und ersucht, daß die Einfuhr des Buches (in die Schweiz – B. N.) verhindert werden möge.“ Freud und Rank ordneten die Eidgenossenschaft deshalb auf ihrer geographischen Negativ-Hitliste gleich hinter Amerika ein: „Nach Amerika ein zweites, weniger erfreuliches Land: die Schweiz.“

Gerhard Wittenberger und Christfried Tögel haben die Rundbriefe des „Geheimen Komitees“ insgesamt sachkundig aufgeschlüsselt und ihre Kommentare dabei stets leserfreundlich gestaltet, sie also nicht mit überflüssigen Details befrachtet. Sie haben damit der um sich greifenden Zwanghaftigkeit widerstanden, mit der Freudbriefwechsel (etwa Freud/Minna Bernays und – noch schlimmer – S. Freud/Anna Freud) neuerdings herausgegeben worden sind. Allerdings findet sich im Zusammenhang mit der Schweizer Empörung über Groddecks „Seelensucher“-Roman ein (verzeihlicher) Fehler: Das von Freud und Rank unterzeichnete Antwortschreiben ist – anders als im Kommentar („nicht erhalten“) vermerkt – doch überliefert und auch schon mehrfach nachgedruckt worden (zum Beispiel in: Psyche – Z. Psychoanal. 48, 1994, S. 419-423).

Die Echauffierung über Außenstehende – seien es nun schweizerische Anti-Pornographen, amerikanische Anti-Laienanalytiker oder solch wilde Männer wie der aus Baden-Baden – ist aber nicht der Hauptgegenstand der Korrespondenz. Das zentrale Thema der Rundbriefe stellen vielmehr die latenten – und oft auch manifesten – Eitelkeiten und die dadurch motivierten Streitigkeiten der Männer dar, die sich zusammengefunden haben der „Sache“ zu dienen – und sich dabei anzudienen versuchten. Jeder „Sohn“ hatte die Hoffnung, eines Tages vom „Vater“ auserwählt und als dessen Nachfolger auf den Thron gesetzt zu werden. Daß dies schließlich keiner aus dem Männerbund, sondern eine Frau (Anna Freud) schaffte, kann man als Ironie der Geschichte verstehen – oder als Ausdruck eines ungenügend durchgearbeiteten und deshalb am Ende verwirklichten Kastrationswunschs des Erfinders der Psychoanalyse interpretieren.

1922 war es allerdings noch nicht soweit. Da war die Nachfolgerin noch nicht in Sicht, und deshalb war das Hauen und Stechen auch noch nicht zu Ende. In diesem Jahr fällt wieder einmal Otto Ranks „Hammer“. Und so klagt der Getroffene verdrießlich: „Ranks hammer has once more fallen, this time on London, and, as it seems to me, very unfairly.“ Ein Jahr später muß sich Jones dann aber vorhalten lassen, er selbst habe nicht nur kastriert, nein, er habe sogar nihiliert! Er habe, so heißt es in einem Schreiben aus Budapest, Ferenczis 1909 erschienene Arbeit über Suggestion und Hypnose geplündert und die daraus entnommenen Gedanken dem Publikum im Jahre 1923 als seine eigenen offeriert. „Das ist doch nichts als eine konsequente Ausschaltung meiner Person“ (Ferenczi).

Ja, das war’s. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute: die kleinen Eitelkeiten und großen Originalitätsansprüche und die Gemeinheiten, die sich hinter weltmännischen Gesten und gestelzten Worten verbergen. Und ist so diese Korrespondenz nicht nur als Dokument der Organisations- und Institutionsgeschichte der Psychoanalyse zu lesen, sondern auch als Protokoll einer „geheimen“ Gruppentherapie, die schon deshalb scheitern mußte, weil die „Sache“, um die es ging, weit mehr, als sie ahnten, eine Sache der Beteiligten war.

Bernd Nitzschke (Düsseldorf)