Stefan Goldmann: Via regia zum Unbewußten. Freud und die Traumforschung im 19. Jahrhundert. Psychosozial-Verlag Gießen 2003

Stefan Goldmann hebt mahnend den Zeigefinger und deutet auf ein bislang „wenig betretenes Forschungsfeld“ hin: Zur Traumforschung im 19. Jahrhundert läge noch keine „detaillierte Gesamtdarstellung“ vor; und noch keiner habe es „als eine Aufgabe angesehen, Freuds Anknüpfungspunkte an seine Vorgänger systematisch herauszuarbeiten“ (S. 7). Wer solchermaßen Defizite erkannt hat und sich stark genug fühlt, die Herkulesaufgabe zu schultern, der kann zu neuen Ufern der Erkenntnis aufbrechen. Eben dies versucht Goldmann. Er will das Wurzelwerk freilegen, dem Freuds „Traumdeutung“ entsprossen ist. Und tatsächlich, schon ein erster Blick ins Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, Philosophen und Traumforscher des 19. Jahrhunderts als Taufpaten scheinbar originär psychoanalytischer Termini zu entdecken, erweist sich als lohnend: Das „Vorbewußte“ und die „Urphantasie“ tauchen bei Fichte (1864) auf; von „Traumquelle“ und „Traummaterial“ sprach Krauss (1858/59); die „Traumarbeit“ kannte Robert (1886); und von „Traumgedanken“ ist schon bei Scherner die Rede, dessen Werk „Das Leben des Traums“ (1861) Goldmann als „Grundbuch der Traumforschung des 19. Jahrhunderts“ (S. 44) identifiziert, weshalb er es in den Mittelpunkt seiner einleitenden Betrachtungen über die „unbewußt symbolisierende Phantasietätigkeit“ rückt.

Im 2. Kapitel wendet er sich vor allem naturwissenschaftlich orientierten Forschern in Leipzig zu. Er geht dabei auf Strümpell, Wundt und Fechner ein, den Freud in einem Brief an Fließ, in dem er sich über Literaturrecherchen zum Thema Traum beklagt, lobend hervorhebt: „Das bisschen Literatur ist mir schon zuwider. Das einzig vernünftige Wort ist dem alten Fechner in seiner erhabenen Einfalt in den Sinn gekommen. Der Traumvorgang spielt auf einem anderen psychischen Terrain“ (Freud 1986, S. 325f.). Im 3. Kapitel stellt Goldmann die Auffassung vom Traum als Wunscherfüllung in der schönen Literatur dar. Und im 4. Kapitel kommt er zur Sache, um die es ihm geht. Es geht ihm nicht um ein Potpourri vorläufiger Begriffsverwendungen und vorformulierter Einsichten; vielmehr hängt er sein Forscherherz an eine Leistung Freuds, die er folgendermaßen charakterisiert: Freud habe eine „Reihe bedeutender (…) Gesichtspunkte“ aufgegriffen, aus denen er eine „systematische Beschreibung der ineinandergreifenden Mechanismen des ‚psychischen Apparates’, kurzum die ‚neue Psychologie’ mit ihrer spezifischen Topik, Dynamik und Ökonomie“ (S. 174) entwickelt habe. Freud habe diese Leistung erbringen müssen, setzt Goldmann nach, weil er eine radikale Position formuliert hatte: „Gegenüber der Tradition vollzieht Freud eine Wendung, indem er erstmals jedem Traum die Wunscherfüllung unterstellt. Durch diese apodiktische Formulierung genötigt, die Mechanismen der Traumarbeit detailliert und systematisch darzustellen, entwirf er eine ‚neue Psychologie’, die von den zeitgenössischen Rezensenten der ‚Traumdeutung’ kaum wahrgenommen wird“ (S. 12). Dieses apodiktische Urteil Goldmanns wird man kaum teilen können, wenn man die zeitgenössischen Rezensionen (Kimmerle 1986) noch einmal nachliest. Die Rezensenten der „Traumdeutung“ erkannten Freuds Leistung nämlich. Und sie gingen (z. T. anhand ausführlicher Zitate aus der „Traumdeutung“) auch dann auf die „neue Psychologie“ ein, wenn sie diese nicht anerkannten.

Die „neue Psychologie“ sollte, auf den Traum angewandt, erklären, wie aus diversen Veranlassungen (Körpersensationen in der Nacht, Eindrücken des vergangenen Tages, verdrängten Kindheitserlebnissen) der sinnlos erscheinende manifeste Traum entsteht; und wie sich daraus mit Hilfe einer neuen Untersuchungsmethode (freie Assoziation) und Deutungstechnik der latente, d. h. sinnvolle Trauminhalt rekonstruieren läßt: die phantasierte Erfüllung eines (infantilen) Wunsches. Um zu diesem Ziel zu gelangen, war gleichsam ein umgekehrter Schöpfungsakt notwendig: die Aufhebung der Trennung zwischen Tag und Nacht (Wachleben und Traumleben), Land und Meer (Bewusstem und Unbewusstem). Die Überwindung jener Mauer, die Voraussetzung der Konstituierung der modernen Zweckrationalität war (vgl. Nitzschke 1974), legte die Wege wieder frei, die der „Zivilisationsprozeß“ verschüttet hatte, und eröffnete so ein „tieferes“ Verständnis der menschlichen Natur.

Wollte man die geheime Ordnung im scheinbaren Chaos des Traumlebens wieder entdecken, mußte man also rückwärts gehen. Eben das hat Freud versucht. Das haben andere vor ihm aber auch schon versucht. Ich greife Heinrich Spitta heraus, einen aus der „Galerie der Traumforscher“, die Goldmann im 5. (und letzten) Kapitel seines Buches portraitiert. Spittas Buch „Die Schlaf- und Traumzustände der menschlichen Seele mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den psychischen Alienationen“ (ursprünglich eine Habilitationsschrift) erschien 1892 in zweiter Auflage. In einem Brief an Fließ, in dem er sich zu seinen Vorgängern äußert, spottet Freud: „Einer heißt Spitta (to spit = Speien)“ (1986, S. 388). In der „Traumdeutung“ wird Spitta dann als einer der „Herabsetzer des Traumlebens“ vorgestellt. Er habe zwar zugestanden, „daß dieselben psychologischen Gesetze, die im Wachen herrschen, auch den Traum regieren“, sich aber nicht „die Mühe“ gegeben, diese Tatsache mit der „beschriebenen psychischen Anarchie und Auflösung aller Funktionen im Traum“ (Freud 1900, GW II/III, S. 63) in Einklang zu bringen. Nun gut, dieser Mühe hat sich Freud unterzogen. Dafür bewundert ihn Goldmann, der sich Freuds Urteile zueigen macht, anstatt sich der Mühe zu unterziehen, Freuds Verdikte über Spitta anhand von dessen Text detailliert zu überprüfen. Goldmann ist mit dem Meister gar so innig verbunden, daß ihn freudianische Gefühle heimsuchen: Die „langweilige, ja abschreckende Lektüre“ von Spittas Werk habe in Freud „das Gefühl“ (S. 17) (im fraglichen Brief Freuds an Fließ heißt es aber nur: „den Eindruck“!) aufkommen lassen, er hätte sich am liebsten nie mit der Sache des Traums beschäftigt.

Andererseits weiß Goldmann auch, daß Spitta (21892) – neben Strümpell (1877), Hildebrandt (1875), Radestock (1878) und Volkelt (1875) – zu denjenigen gehört, die “die materiellen Grundlagen für das erste Kapitel der ‚Traumdeutung’“ bereitgestellt haben. „Mit dem Quellenmaterial, das diesen Werken entnommen ist, lassen sich weite Strecken des in die Forschungsprobleme einleitenden Kapitels (der „Traumdeutung“ – B. N) bestreiten“ (S. 160). Nicht nur das! Spitta hat mehr zu bieten als nur Material für einen großen Baumeister. So postuliert er „die völlige Continuität des menschlichen Seelenlebens“ und leitet daraus ab, „Wachen, Traum, Wahnsinn“ seien „denselben psychologischen Gesetzen“ unterworfen, also „durch unendlich viele Gradationen mit einander verknüpft“ (21892, S. VIII). Und er gibt den Rat, „verbindende Mittelglieder“ zu suchen, um das Sinnlos-Erscheinende sinnvoll verstehen zu können. So sei die Rede eines ideenflüchtigen Kranken „durch Ergänzungen“ wieder „ohne allen Zwang zu einem geordneten Ganzen wohl zusammen(zu)setzen“ (21882, S. 133).

Es lohnt sich also, Spitta noch einmal – und diesmal ohne Freuds (resp. Goldmanns) Brille zu lesen! Goldmanns Identifikation mit Freud fällt jedoch vergleichsweise weniger ins Gewicht als die partielle Blindheit, die er mit den Herausgebern der „Freud-Studienausgabe“ teilt, nach der er die „Traumdeutung“ zitiert (und nicht etwa nach dem Abdruck in Freuds „Gesammelten Werken“ oder nach der Originalausgabe von 1900, was ja nahe gelegen hätte). Wo die Herausgeber der „Studienausgabe“ im Dunkeln tappen, da hält Goldmann auch kein Licht bereit. So entgeht ihm die von Hans Wehr verfaßte Arbeit über „Das Unbewusste im menschlichen Denken“ (1887), auf die Otto Rank aufmerksam gemacht hat, als er das Literaturverzeichnis der „Traumdeutung“ in einer späteren Auflage ergänzte. Die Herausgeber der „Studienausgabe“ bezeichnen die Existenz dieser Schrift als „zweifelhaft“ und behaupten, der Titel habe sich „als nicht verfizierbar erwiesen“ (1972, S. 15). Sie hätten Rank vertrauen sollen, dessen Hinweis auf Wehr belegt, daß manches von dem, was Freud der Welt psychoanalytisch nahezubringen versuchte, schon zum Bildungskanon höherer Bildungsanstalten gehörte, als Freud mit seiner Arbeit begann. Wehrs Schrift erschien im „Verlag der k. k. Oberrealschule“ zu Klagenfurt. Darin formulierte er das Programm des aufgeklärten Bürgertums so: „(...) aller geistige Fortschritt scheint überhaupt keine andere Aufgabe zu haben, als unbewusste Erkenntnisse in den Bereich des Bewusstseins heranzuziehen und sie zu bewussten Erkenntnissen zu machen. Auf dieser Umwandlung von Unbewusstem in Bewusstes scheint alles geistige Streben zu beruhen, darauf hin scheint alle Culturarbeit der Menschheit seit Beginne abzuzielen“ (1887, S. 33). Ein halbes Jahrhundert später wird aus diesem Programm ein geflügeltes psychoanalytisches Wort: „Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee“ (Freud 1933, S. 86).

Wehr führt in seiner Schrift weiter aus, daß zwar der Gedanke, der das „Resultat eines Denkprozesses“ ist, bewußt werde, doch „der Weg, auf dem man zu demselben gelangt, oder die dazu nöthigen Zwischenresultate bleiben sehr häufig dem Bewusstsein verborgen“. Auch „die plastischen Gestalten des Traumes kommen, ziehen vorüber und gehen, ohne dass die Willkür des Träumers darauf den mindesten Einfluss hätte“ (1887, S. 19). Weder das wache noch das träumende Denken kennen also die Zwischenschritte oder (um noch einmal mit Spitta zu reden) die „Mittelglieder“, die Ausgangspunkt und Endresultat (im Falle des Traums: den verdrängten infantilen Wunsch mit dem manifesten Trauminhalt) verbinden und das Zustandekommen eines Trauminhalts oder einer Erinnerung verständlich(er) machen. Das „Feld, auf dem das unbewusste Geistesleben bedeutsamer als irgendwo auftritt“, ist denn auch nach Ansicht von Wehr das Gedächtnis. „Nach meinem Dafürhalten sind alle reproducierten Vorstellungen durch Association erzeugt, d. h. durch irgend einen äußeren Anstoß, freilich oft auf dem Wege vielfach verzweigter Vermittlung, angeregt worden (...). Gelingt es, die ganze Assoziationskette bis zu dem Anfangsgliede, dem äußeren Anstoß, zurück zu verfolgen, so ist es (...) evident, dass dieser psychische Vorgang kein freier war“ (1887, S. 37). Mit anderen Worten: die „freie“ Assoziation ist determiniert. Sie befreit zwar vom Denkzwang der Zweckrationalität, doch sie offenbart zugleich den Zwang der Natur. Also sind Es oder Ich anders – als die wohlerzogene Vernunft uns glauben macht. Diese Einsicht ist grundlegend für die „neue Psychologie“ Freuds.

Literatur

Fichte, I. H. (1864). Psychologie. Die Lehre vom bewussten Geiste des Menschen, oder Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins, begründet auf Anthropologie und innerer Erfahrung, 2 Bde. Leipzig.

Freud, S. (1900). Traumdeutung. GW II/III. Studienausgabe Bd. II.

Freud, S. (1986). Briefe an Wilhelm Fliess 1887-1904. Frankfurt/M.

Freud, S. (1933). Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XV.

Hildebrandt, F. W. (1875). Der Traum und seine Verwertung für’s Leben. Leipzig.

Kimmerle, G. (Hg.) (1986). Freuds Traumdeutung. Frühe Rezensionen 1899-1903. Tübingen.

Krauss, A. (1858/59). Der Sinn im Wahnsinn. Eine psychiatrische Untersuchung. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 15, S. 617-671 u. 16, S. 10-34, S. 222-280.

Mitscherlich, A., Richards, A., Strachey, J. (1972). Editorische Einleitung. In: Dies. (Hg.): Sigmund Freud, Studienausgabe Bd. II: Die Traumdeutung. Frankfurt a. M., S. 13-19.

Nitzschke, B. (1974). Die Zerstörung der Sinnlichkeit. München.

Radestock, P. (1878). Schlaf und Traum. Eine physiologisch-psychologische Untersuchung. Leipzig.

Robert, W. (1886). Der Traum als Naturnothwendigkeit erklärt. Hamburg.

Scherner, K. A. (1861). Das Leben des Traums. Breslau.

Spitta, W. (21892). Die Schlaf- und Traumzustände der menschlichen Seele mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den psychischen Alienationen. Freiburg i. Br.

Strümpell, L. (1877). Die Natur und die Entstehung der Träume. Leipzig.

Volkelt, J. (1875). Die Traumphantasie. Stuttgart.

Wehr, H. (1887). Das Unbewusste im menschlichen Denken. Klagenfurt (Verlag der k. k. Oberrealschule). Text unter: http://www.werkblatt.at/nitzschke/text/Wehr-Traum.pdf

Bernd Nitzschke, Düsseldorf

Die Rezension ist erschienen in: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung 8, 2004, S. 134-138.