Lou Andreas Salomé, Anna Freud: „... als käm ich heim zu Vater und Schwester“ - Briefwechsel 1919-1937. Herausgegeben von Daria A. Rothe und Inge Weber. Göttingen (Wallstein Verlag) 2001

Der Briefwechsel zwischen Lou Andreas-Salomé und Anna Freud, diesen beiden ewigen Töchtern, die - jede auf ihre Weise - an den „Vater“ gebunden bleiben, beginnt im Dezember 1919. Lou ist knapp sechzig, Anna ist gerade vierundzwanzig Jahre alt geworden. In den folgenden Jahren tauschen sie viele private Meinungen, jedoch wenig tiefgehende Ansichten zu Themen aus, die in den 1920er und 1930er Jahren die öffentliche (psychoanalytische oder politische) Diskussion beherrschen. Gelegentlich blitzen Schlaglichter auf. Etwa wenn Lou schreibt: „Göttingen ist durch seine Deutschvölkischheit widerwärtig geworden“ (März 1924). Oder wenn es heißt: „Interessant wieweit wirkliche Idiotie sich am lieben Vaterland entzünden kann“ (Lou, September 1924).

Anna Freuds Mitteilungen, die während der Jahre des Briefwechsels Analysandin und Krankenpflegerin ihres Vaters, dann auch selbst Analytikerin und schließlich Sekretärin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) wird, beschränken sich oft auf das Nötigste, wenn es um offizielle Angelegenheiten geht: „Vor einigen Tagen hat Romain Rolland uns einen Besuch gemacht. Er ist sehr sympathisch“ (Mai 1924). Über Abende in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung lesen wir: „Einer der letzten Vorträge war von Silberer, der sich inzwischen umgebracht hat“ (Januar 1923). Oder: „Vorgestern war wieder ein großer Vereinsabend bei uns (...). Als Thema das Buch von Dr. Reich: Die Funktion des Orgasmus“ (Januar 1928). Und zu einem Thema, das 1934 den Luzerner Kongress beherrschte, heißt es lapidar: „Der Kongreß hat fast den ganzen Sommer für sich genommen, denn ich war ja Sekretärin der I.P.V. und es war fast nicht zu bewältigen (...) Reich mußten wir ausschließen, es ist nicht mehr mit ihm gegangen“ (Dezember 1934).

Die Briefe, von denen weit mehr als die Hälfte in der ersten Hälfte der 1920er Jahre geschrieben worden sind, lesen sich dennoch interessant. Sie erlauben Einblicke in den privaten Alltag und in die Gefühlswelt zweier Frauen, die sich als „Schwestern“ begegnen, während sie – auf je unterschiedliche Weise – die Männer scheuen. So sammelt Lou Söhne: den Philosophen Nietzsche, den Dichter Rilke, den Wissenschaftler Andreas, mit dem sie in Josephsehe lebt: „Wir waren ja ein Ehepaar nach ganz selbst-eigenem Muster und das nahm sich ungefähr so aus: das Tiefste unserer Zusammengehörigkeit bestand im zarten Schutz womit wir gegenseitig – und auch voreinander! – unsere Einsamkeit behüteten“ (Dezember 1930). Anna meidet die Männer auf andere Weise: „... zum Heiraten bin ich nicht geeignet.“ Für einen Mann wäre sie nur ein Möbelstück, „nicht besser als ein Tisch oder ein Sopha oder mein eigener Schaukelstuhl“ (Januar 1924).

Lou versteht die Einsamkeit gut, über die Anna schreibt: „... irgendwie innerlich, glaube ich, bin ich eigentlich ein Einsiedler und bin nur so in die unruhige Welt hineingeraten“ (März 1934). Zehn Jahre früher hatte Anna geschrieben: „Schade, daß ich nicht als indischer Wandermönch auf die Welt gekommen bin. So etwas möchte ich gerne noch werden“ (Juni 1924). Lou verstand zu trösten: „Wärest Du nun wirklich der indische Wandermönch, der zu sein Du Dir wünschst, so träfen wir uns wohl dennoch irgendwo ...“ Für eine solche Begegnung bedürfte es keiner „verzweiflungsvollen Begehrlichkeit“, die man sich am besten „nach dem Bilde des Koitus“ vorstellt, „dessen Einförmigkeit Lebemänner sich künstlich aufzuputzen suchen müssen“ (Lou, Juni 1924). Es geht also auch ohne Lebemänner – wenngleich nicht ohne Vater. Dazu heißt es bei Anna, die über ihre quälenden Phantasien schreibt: „... habe ich bei Papa ein Stück Analysenfortsetzung begonnen, wieder in den Abendstunden ... Anlaß dazu war uns ein nicht ganz wohlgeordnetes Verhalten meines eigenen geehrten Inneren, eine ganz unziemlich gelegentliche Vordringlichkeit der Tagträume mit einer wachsenden, auch körperlichen Intoleranz gegen die Schlagephantasie und ihre Folgen, ohne daß ich sie noch entbehren könnte“ (Mai 1924).

Die Beziehung der Tochter zum Vater ist besonders bedrückend in den Jahren nachzuvollziehen, in denen sich Freuds Krebserkrankung entwickelt. Der Briefwechsel gibt intime Details über Freuds selbstdestruktives Verhalten im Zusammenhang mit den Operationen und dem danach wieder aufgenommenen Rauchen preis. Zunächst wird die Krankheit noch verharmlost, obgleich Freuds süchtiges Rauchen von Beginn an Thema ist: „Gestern Abend hat Papa plötzlich mitgeteilt, daß er sich Samstag Vormittag ... eine kleine Operation im Rachen machen lassen wird: Wucherungen, die angeblich bei Rauchern manchmal vorkommen“ (18. April 1923). Und wenige Tage später heißt es dann: „Papa raucht, aber nur sehr eingeschränkt, jetzt vielleicht drei Zigarren täglich“ (4. Mai 1923). Lou erkennt den Ernst der Lage - und die Bedeutung, die die Tochter für den Vater haben wird: „Dein enges Um-den-Vatersein erhält ... jetzt besondere Wichtigkeit; wenn irgend Jemand, so hast Du jetzt eine Mission zu erfüllen“ (9. Mai 1923). Meint sie die Pflege des Vaters? Oder hegt Lou gar die Hoffnung, Anna könnte ihrem Vater das Rauchen ausreden? Wohl kaum. Anfang Oktober 1923 wird Freud ein zweites Mal operiert. Noch ist er im Krankenhaus, da heißt es schon wieder: „Denke Dir, heute war Papa den halben Nachmittag angezogen außer Bett und hat seine erste Zigarre geraucht. Prof. Pichler hat heute Vormittag den Tampon gewechselt und auch sonst einiges an der Wunde erleichtert.“ (19. Okotber 1923). Und wenige Wochen später: „Rauchen sehe ich ihn sehr viel, fast wieder unaufhörlich“ (Anna, Januar 1924).

Unaufgelöste Fixierungen an infantile Liebes“objekte“ führen zu zwanghaften Wiederholungen, auch zu fortgesetzten Loslösungs- und Reparaturbemühungen, jedoch kaum zu Bindungen jenseits der infantilen Welt. Das ist die Basis des Verständnisses, das Lou und Anna füreinander aufbringen: die Suche nach Erlösung aus der Einsamkeit - und die Gewissheit, dass diese Suche zu keinem Ende führen wird. Also sorgen sie füreinander wie Geschwister, die auf ihre Eltern warten und während der Wartezeit einander die Eltern zu ersetzen versuchen.

Das wird besonders deutlich im Versuch Annas, Lous Körper mit selbsthergestellten Strickwaren zu umhüllen, wofür sich Lou zunächst recht ordentlich bedankt: „Du, die Jacke ist mir doch ganz unglaublich. Daß Du so viel Arbeit an mich wenden sollst und ich ganz in Dich eingekleidet gehe, in eine Annahülle; wie sehr dürftest Du mich gern kratzen! Mir ist ja Wollgekratz so lieb“ (März 1922). „Zum Schluß noch etwas Praktisches: wie viele cm lang bist Du von der Schulter (ganz oben beim Halsansatz) bis zum Handgelenk, also die Länge des Kimonoärmels?“ (Anna, März 1922). „Meine liebe Anna, heute Morgen im Bett gefrühstückt mit Deinem Umhang um die frierenden Schultern ... und hatte dabei so recht das Gefühl von einem mir um den Halsgefallensein Deiner ... Ich freue mich wie ein Kind dran und sage mir immer wieder, daß Du diese ganze Zeit eigenhändig Dich damit bemüht hast!“ (November 1922). „Meine liebe Anna, ich sitz in Deinem Kleid, in Deinem Wollwunder“ (Juni 1924). Im Februar 1925 hat Lou dann aber genug: „Meine liebe Anna, - nein, nein! Du sollst mich nicht so weiter und weiter >bestricken und umgarnen<! Was schreibst Du da von einem weißwollenen Nachtgewandt?! Das würde ich ja doch nie des Nachts anziehen ...“ Doch Anna bleibt taub: „Dein Nachthemd-Schlafrock-Morgenkleid oder was es sonst ist, wächst“ (Mai 1925).

Ein Jahr später lernt Anna eine andere Schwester kennen: „Sie würde Dir auch sehr gut gefallen“ (Anna, Juli 1926). Dorothy Burlingham ist aus reichem Haus. Sie finanziert später die Privatschule, an der Anna unterrichten wird. Zunächst macht Dorothy eine Analyse bei Reik, und dann, ab 1927, macht sie eine Analyse bei Freud, während Anna ihre Kinder analysiert. 1929 zieht Dorothy mit ihren Kindern in die Etage über Freuds Wohnung in der Berggasse ein. 1938 emigriert sie mit der Freud-Familie nach England, um dort als Annas Lebensgefährtin zu bleiben.

Zwei Drittel aller zwischen Lou und Anna getauschten Briefe sind bis zu dem Zeitpunkt geschrieben worden, an dem Anna Dorothy kennen lernt. Nun werden die Abstände zwischen den Briefen länger - und immer länger, während sich die Briefe früher manchmal sogar überkreuzt hatten. Und während Anna früher schon den nächsten Brief an Lou schrieb, noch bevor Lou auf den vorangegangenen Brief Annas geantwortet hatte, ist es jetzt Lou, die rasch antwortet und lange warten muss, bis sie Antwort erhält. Auf Annas letzten Brief, der mit der Frage endet „Und Deine Gesundheit?“ (Januar 1937), kommt keine Antwort mehr: Lou stirbt am 5. Februar 1937.

Dem Buch haben die Herausgeberinnen, Daria R. Rothe und Inge Weber, ausführliche Anmerkungen beigefügt, so dass die Lektüre auch für LeserInnen verständlich wird, die keine speziellen Kenntnisse über psychoanalytische Theorien, Begriffe oder Autoren besitzen. Eine „Lebenstafel“, die die wichtigsten Daten der Briefschreiberinnen zusammenfasst, sowie ein Essay, in dem die Herausgeberinnen ihre Einschätzung des Briefwechsels darlegen, schließen die schön gestaltete Edition ab. Deren einziges Manko ist das Literaturverzeichnis. Dort finden sich Freuds Briefausgaben mal unter „F“ wie „Freud, Sigmund“, mal unter „S“ wie „Sigmund Freud“. Freuds Werke werden nicht nach dem Erscheinungsjahr, sondern nach dem Alphabet geordnet aufgeführt, was dazu führt, dass „Das Ich und das Es“ (1923) an erster und „Zur Einführung des Narzißmus“ (mit der falschen Jahresangabe: 1924) an letzter Stelle steht. Den Briefwechsel Anna Freuds mit Eva Rosenfeld findet man gleich zweimal, einmal unter „A“ wie „Anna Freud“ - und dann noch einmal unter „H“ wie „Heller, Peter“, der ihn herausgegeben hat. Schade, das Chaos am Ende der Briefausgabe trübt das ansonsten schöne Bild der Edition.

Bernd Nitzschke, Düsseldorf

Die Rezension ist erschienen in: psychosozial 25 (Nr. 90/Heft IV), 2002, S. 132-134