Oliver Rathkolb (Hg.): NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der „Reichswerke Hermann Göring AG Berlin“ 1938-1945. Bd. 1: Christian Gonsa, Gabriella Hauch, Michael John, Josef Moser, Bertrand Perz, Oliver Rathkolb, Michael C. Schober: Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: Politik-, sozial- und wirtschaftshistorische Studien. Bd 2: Karl Fallend: Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: (Auto-)Biographische Einsichten. Wien (Böhlau Verlag) 2001

Als 1998 in Deutschland die durch Sammelklagen in den USA angestoßene Debatte um Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter bereits im Gange war, fand man auf dem Gelände der ehemaligen „Reichswerke Hermann Göring“ in Linz in einem Keller unter einem ehemaligen Luftschutzturm eine der größten Sammlungen von „Lohn- und Personalunterlagen ehemaliger ZwangsarbeiterInnen“ (I, 9). Insofern war die internationale Aufmerksamkeit für diesen Fund gesichert. Darüber berichtet Oliver Rathkolb in der Einleitung zu den von ihm herausgegebenen Bänden über Zwangsarbeit und Sklavenarbeit. Außerdem steuert er einen Aufsatz bei, in dem noch einmal der typische Lebenslauf vormaliger Mitglieder der NS-Wirtschaftselite dargestellt wird, die nach dem Ende des Krieges ein Wirtschafts-„Wunder“ ganz eigener Art erleben durften: erst Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen - und dann, nach kurzer Haftzeit, Bewährung für eine neue Karriere.

Das Unternehmen, um das es hier geht, firmiert heute unter der Bezeichnung Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke (VOEST). Das Management des Unternehmens hat die Arbeit der nach dem Aktenfund einberufenen Historikerkommission in großzügiger Weise unterstützt und so mitgeholfen, die Firmengeschichte für die Zeit des >Dritten Reiches< vollständig zu rekonstruieren. Es begann 1938, als im >Heimatgau des Führers< ein Stahlwerk errichtet wurde, das ab 1941 den Betrieb aufnahm. Allerdings war das in bilanztechnischer Hinsicht ein Misserfolg, denn der Aufbau des Werks verschlang mehr Stahl, als am Standort Linz bis Kriegsende erzeugt werden konnte. Die Ausbeutung der Arbeitskräfte zahlte sich hingegen aus – wie Josef Moser anhand detaillierter Nachweise belegt. „Fremdvölkische Zivilarbeiter“ aus Holland, Dänemark und Norwegen, angeworbene Arbeitskräfte aus Tschechien oder Griechenland, Arbeitsverpflichtete aus Frankreich und Verschleppte aus Polen, Kriegsgefangene aus Russland und KZ-Häftlinge aus ganz Europa, die von allen die schlechtesten Lebensbedingungen vorfanden, wie Bertrand Perz in seinem Beitrag zeigt, arbeiteten bis zur Erschöpfung - und erhielten dafür keinen oder nur einen sehr kärglichen Lohn. Die zynische Rechtfertigung für die gnadenlose Ausbeutung fremder Arbeitskraft lieferte der Reichsführer SS Heinrich Himmler bei einer anderen Gelegenheit: „Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur so weit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen (...). Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird“ (I, 54).

Michael John berichtet über den Zusammenhang von Zwangsarbeit und NS-Industriepolitik am Beispiel des Rüstungskonzerns „Reichswerke Hermann Göring“. Der Konzern hatte den Verwaltungssitz in Berlin und einen seiner Produktionsstandorte in Linz. Neben der Stahlerzeugung gab es dort auch Panzerbau. Und deshalb war das Leben der Zwangsarbeiter vor allem in den letzten Kriegsmonaten extrem gefährdet, noch mehr als dies ohnehin der Fall war. Denn nun trugen die Bomber der Alliierten ihre Angriffe bis tief ins Reich vor. Und damit befanden sich die Zwangsarbeiter in einer paradoxen Situation, in der Herren und Knechte gemeinsam Grund zur Angst hatten, auch wenn den Herren Luftschutzbunker zur Verfügung standen, während die Knechte den Fliegern bisweilen auf freiem Feld ausgesetzt waren. Eine Zwangsarbeiterin erinnert sich: „Und einmal sind wir bei einem Bombenangriff (...) den ganzen Bach raufgegangen, den Mühlbach. Und da kann ich mich noch erinnern, da sind die KZler auf den Bäumen oben gehangen. Wie sie im Freien waren, wie es sie beim Bombardieren hinaufgeworfen hat“ (II, 81). Doch auch wenn die Arbeiter Unterschlupf gefunden hatten, blieben sie bedroht. Vaclav Dvorak, der heute als katholischer Generalvikar in Tschechien lebt, unter den Nazis Zwangsarbeit verrichtete und, kaum in die Heimat zurückgekehrt, von den Kommunisten ins Gefängnis und in die Uranminen gesteckt wurde, hat diese Erinnerung an die Bombenangriffe: „Manchmal war das ein Wunder, dass wir überlebt haben. Weil das war sehr, sehr schlimm. Viele von meinen Kameraden sind da gestorben. Sehr viele. Einige waren in den Kellern, wo Volltreffer waren. Alles wurde dem Erdboden gleichgemacht“ (II, 65).

In manchen Bereichen des Betriebs betrug der Ausländeranteil bis zu 90 Prozent. In der Frühphase (1938-1940) wurden viele der „Fremdarbeiter“ nicht durch direkten Zwang, vielmehr aufgrund von Zwangslagen rekrutiert (schlechte Ernährung und Arbeitsmöglichkeiten in den Herkunftsländern). Christian Gonsa zeichnet diese Situation am Beispiel der Griechen nach, für die schon damals gelegentlich der in der BRD später allgemein gebräuchliche Terminus „Gastarbeiter“ (I, 596) verwendet wurde: „Im Winter 1941/42 brach eine Hungersnot mit verheerender Wirkung vor allem in den Großstädten Athen und Saloniki aus. Allein im Raum Athen starben über 40.000 Menschen.“ Und deshalb meldeten sich viele Menschen zur Arbeit im Deutsche Reich, „um sich und der Familie das Leben zu sichern“ (I, 598). Das wurde ihnen nach dem Ende des Krieges zum Verhängnis. Man warf ihnen Kollaboration vor. Ohne Prüfung kamen viele - wie in der Sowjetunion – selbst dann in neue Lager, wenn sie von den Deutschen verschleppt worden waren oder als Kriegsgefangene Zwangsarbeit verrichtet hatten. Viele von ihnen starben im GULAG an den Folgen neuer Zwangsarbeit. Andere hatten Glück im Unglück und überlebten trotz Diskriminierung.

Über die demographischen Daten der Zwangsarbeiter gibt Michaela C. Schober in ihrem Beitrag anhand statistischer Aufstellungen detailliert Auskunft. Sie bietet auch eine Übersicht der Strafmaßnahmen, die für alle möglichen Delikte (von der „Gehorsamsverweigerung“ über das „Zuspätkommen“ bis zur „Arbeitsflucht“) ausgesprochen werden konnten. Gabriella Hauch konzentriert sich in ihrer Untersuchung hingegen auf geschlechtspolitische Aspekte der Zwangsarbeiterproblematik. So gab es spezielle Bordelle für Fremdarbeiter. Dadurch sollten deutsche Frauen vor der Versuchung zur >Rassenschande< geschützt werden. Ließen sie sich dennoch mit Fremdarbeitern ein, kamen die Frauen ins KZ, während deutsche Männer für Verkehr mit Fremdarbeiterinnen straffrei blieben oder mit geringen Strafen belegt wurden. Fremdarbeiter, die mit deutschen Frauen verkehrten, kamen hingegen ins KZ oder sie wurden zum Tod verurteilt. Ein besonderer Schwerpunkt des Beitrags von Gabriella Hauch bezieht sich schließlich auf das Schicksal zweier Jüdinnen: Die damals 17jährige Anna Fränkel und die damals 118jährige Ida Blutreich hatten sich Papiere verstorbener Ukrainerinnen besorgt und waren 1942 „freiwillig“ zum Arbeitseinsatz nach Deutschland gekommen, um der Judenverfolgung zu entgehen. Sie wurden in Linz dann aber später doch als Jüdinnen erkannt und ins KZ deportiert. Beide überlebten. Das Schicksal der einen hat Meyer Levin als „Die Geschichte der Eva Krongold“ (Frankfurt 1995) romanhaft beschrieben; die andere hat ihre Erlebnisse selbst unter dem Namen Niza Ganor dargestellt: „Wer bist du, Anuschka?“ (München 1999).

Karl Fallends Aufzeichnungen der Gespräche mit Überlebenden nehmen den ganzen zweiten Band ein. Darunter sind auch einige Gespräche mit ehemals regulär Beschäftigten der Hermann Göring Werke, so mit einem leitenden Angestellten, der in den besetzten Ländern unterwegs war, um Zwangsarbeiter zu rekrutieren. Auch nach dem Krieg war er sehr erfolgreich - und so kann er heute seine Gäste auf einem Gutshof nicht weit von seiner ehemaligen Wirkungsstätte begrüßen. Anderen geht es schlechter als ihm – so etwa dem ehemaligen Zwangsarbeiter, der aus Tschechien schrieb: „Herr Doktor, ich bin fast 78 Jahre alt und daher will ich mich nicht an die unangenehmen Dinge, wie der Angst um mein Leben während der Luftangriffe, dem Essens- und Zigarettenmangel, die Arbeit in der großen Hitze, die Trauer nach meiner Heimat und hauptsächlich an das übergeordnete Verhalten der meisten Deutschen und auch Österreicher zu uns, den Fremden, erinnern“ (II, 53). Sich nicht erinnern wollen: Man kann das verstehen – aber man kann nicht, verstehen, was man nicht selbst erlebt hat. Ein italienischer KZ-Überlebender hat das im Gespräch mit Karl Fallend so ausgedrückt: „Wir waren zu Tieren geworden! Sehen Sie, viele reden vom Hunger: Aber, um darüber sprechen zu können, muss man es erlebt haben. Es hat keinen Sinn, vom Hunger zu sprechen, ohne ihn gelitten zu haben“ (II, 273). Und ein Franzose, der als ehemaliger Sklavenarbeiter einen Bericht über seine Erlebnisse mit der Häftlingsnummer 60.577 unterzeichnet hat, schreibt darin: „Es war ein Dschungel, und die Menschen wurden zu Wölfen. Sie vergaßen, dass sie alle der gleiche Grund, nämlich der Kampf gegen den Faschismus, in diese Vorhölle gebracht hatte“ (II, 252). Karl Fallend, der als Kind eines VOEST-Arbeiters in Linz, also an jenem Ort aufgewachsen ist, an dem seine Gesprächspartner als ZwangsarbeiterInnen einen großen Teil ihrer Jugend einbüßten, hat mit Geduld und Einfühlung zugehört und so das Vertrauen von Menschen gewonnen, von denen einige nach einem halben Jahrhundert erstmals Gelegenheit hatten, über ihre Erlebnissen zu sprechen. Und so erhalten haben einige von denen, deren Schicksal in 38.000 Personalakten verborgen liegt, Gesicht und Stimme erhalten. Diese Stimmen sind in einem Buch festgehalten, das schon jetzt als Standardwerk zum Thema Zwangsarbeit angesehen werden kann. Karl Fallend hat diesen Stimmen aber auch durch ein Theaterstück Gehör verschafft, das im Januar 2002 in der Inszenierung von Nikolaus Büchel am Landestheater Linz uraufgeführt worden ist und den Titel trägt: AN WEN SOLL ICH SCHREIBEN? AN GOTT?

Bernd Nitzschke, Düsseldorf

Erschienen in:

Psychologische Revue - Rezensionszeitschrift für Psychologie und Sozialwissenschaften 1, 2002, S. 64-66