Paul Roazen: Wie Freud arbeitete. Berichte von Patienten aus erster Hand. Gießen (Psychosozial-Verlag) 1999

In den 60er und 70er Jahren hat Paul Roazen mit fünfundzwanzig - inzwischen verstorbenen –Analysanden Freuds Gespräche geführt, wobei er sich offenbar in Konkurrenz mit Kurt R. Eissler fühlte, der ähnliche Gespräche geführt und für das Freud-Archiv auf Tonband aufgenommen hatte. Dazu heißt es bei Roazen zu einem seiner Gespräche: „Wenn die Stracheys mir erlaubt hätten, ein Tonband zu verwenden, hätte ich anderen wissenschaftlich vielleicht einiges vorausgehabt, aber vielleicht hätte es dann auch kein wirkliches Gespräch gegeben. Es sei nur daran erinnert, wie irreführend tendenziös Eisslers Gespräch mit Hirst oder Edith Jackson im Ergebnis war“ (Seite 232). Damit sind zwei der zehn von Roazen nach nicht genannten Kriterien ausgewählten Interviewpartner gemeint, deren Gespräche im vorliegenden Buch ohne erkennbare Systematik aufbereitet werden. Albert Hirst, der 1903/04 und 1909/10 bei Freud war, ist der einzige „wirkliche“ Patient Freuds, der im Buch erscheint. Die anderen waren eher Lehranalysanden denn Patienten, auch wenn die Grenze fließend sein mag, was von Roazen jedoch nicht diskutiert wird. Von diesen Gesprächspartnern hatten zwei vor der Krebserkrankung Freuds ihre Analyse begonnen - Robert Jokel (er war nur zwei Monate bei Freud) und Kata Levy, die Schwester Anton von Freunds, nach dessen Tod dem Internationalen Psychoanalytischen Verlag ein großzügiges Erbe zukam. David und Mark Brunswick, Edith Jackson, Irmarita Putnam, Eva Rosenfeld sowie James und Alexis Strachey kamen hingegen erst in den 20er und 30er Jahren zu Freud und lernten ihn als kranken Mann kennen, dem das Reden bisweilen Schmerzen bereitete und der deshalb mitunter schlecht zu verstehen war.

Die vorliegenden Berichte ergänzen und bestätigen, was wir aufgrund systematischer Untersuchungen der Behandlungspraxis Freuds (Cremerius 1980) bereits wußten: Freud war kein „orthodoxer“ Psychoanalytiker. Er verhielt sich menschlich und machte aus Regeln keine Dogmen. „Und er habe auch seine Schüler nicht aufgefordert, sich >an Regeln zu halten<. Er wollte, daß sie gute >Versteher< waren, sagte sie (Eva Rosenfeld im Gespräch mit Roazen – B.N.); er sei zu klug gewesen, um bezüglich der Technik dogmatisch zu sein“ (Seite 210). Doch Roazen ist schlau genug, um Freud auch daraus einen Vorwurf zu machen: Den Anhängern „Freuds war sehr wohl bekannt, daß er sich selbst nicht an die proklamierten Ideale hielt, die er für andere hochhielt. So entwickelte sich eine Verschwörung des Schweigens, und ich glaube, daß die Kluft zwischen dem, was Freud propagierte, und dem, was er in der Praxis machte, so groß war, daß sie seine Schüler zusätzlich in ergebener Treue zusammenschweißte“ (Seite 19f.). Auf welches Verhalten welcher „Schüler“ Freuds mag diese Verschwörungstheorie zutreffen? Auf Jung? Rank? Ferenczi? Reich? Tausk oder Silberer? Die Letztgenannten sind besondere Zeugen der Anklage, die Roazen gegen Freud erhebt: „Silberers Selbstmord schien wie der von Tausk zu symbolisieren, was geschehen kann, wenn man Freuds Gunst verlor“ (Seite 137). Silberer hatte Konflikte mit Freud – gewiß. Doch wer diese Konflikte suggestiv mit Silberers Selbstmord verbinden will, der muß alle Tatsachen und Zusammenhänge ignorieren, die Silberers Suizid besser verständlich machen könnten (Nitzschke 2000).

Roazen will Freud aus allem und jedem einen Vorwurf machen – und er tut dies selbst dann, wenn er zu diesem Zweck Aussagen seiner Gesprächspartner (etwa Eva Rosenfelds Äußerung über Freuds flexible Handhabung technischer Regeln) ignorieren muß. Man liest das Buch aber nicht nur deshalb mit zunehmendem Ärger. Auch der Tratsch ermüdet, den Roazen keineswegs aus erster, vielmehr aus zweiter und dritter Hand erfahren hat und den er nun an seine Leser weiterreicht,. So habe man sich in Wien von einem bekannten Analytiker eine (Bett-)Geschichte erzählt – erzählte Hirst Roazen, der sie spießbürgerhaft weitererzählt. Am Ende des Buches erfahren wir, daß uns dennoch einiges erspart blieb. Denn hätte Roazens Ehrfurcht vor James und Alix Strachey nicht zu einem vorübergehenden Blackout geführt, wir hätten noch mehr Klatsch ertragen müssen. Roazen aber bedauert: „Leider habe ich damals nicht daran gedacht, aber ich hätte mehr auf Draht sein sollen, (um von den Stracheys zu erfahren? – B.N.) wer in Bloomsbury mit wem geschlafen hatte“ (Seite 225). Gut, daß es dazu nicht kam. Und so bleibt nur noch Roazens Schlußwort zu enträtseln: „Ich persönlich jedenfalls drücke Freud und der Psychoanalyse die Daumen“ (Seite 262). Ein Schelm, wer dabei an Roazens Deutung dessen denkt, was Freud während der Behandlung von Mark Brunswick (der an zwanghafter Selbstbefriedigung litt) „mit seinen Händen gemacht hatte“ (Seite 87).

Literatur

Cremerius, J. (1980): Freud bei der Arbeit über die Schulter geschaut. Seine Technik im Spiegel von Schülern und Patienten. Jahrbuch der Psychoanalyse, Beiheft 6, S. 223-236.

Nitzschke, B. (2000): Herbert Silberer. Der Selbstmord eines Psychoanalytikers. In: Ders.: Das Ich als Experiment. Essays über Sigmund Freud und die Psychoanalyse im 20. Jahrhundert. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), S. 15-94.

Bernd Nitzschke, Düsseldorf

Die Rezension ist erschienen in: Freie Assoziation, 4, 2001, S. 250-252