Christian Schneider, Dr. phil., ist Mitarbeiter des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main. Letzte Publikation: gemeinsam mit Cordelia Stillke, Bernd Leineweber: Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus. (Hamburger Edition)
 

Verstehen und Verzeihen, Schweigen und Protest.

Über einige aktuelle Schwierigkeiten beim Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus.

 

Christian Schneider


Mit Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker", der vom Hamburger Institut für Sozialforschung" initiierten und durchgeführten Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" und dem Skandal um das sogenannte "Nazigold" gibt es eine Reihe aktueller Anlässe, die die langezeit in die akademische Diskussion abgedrängte Debatte über den Nationalsozialismus und seine Folgen in Deutschland, Österreich und der Schweiz wieder zu einer öffentlichen gemacht haben. Dabei ist, gemessen an früheren Diskussionen, eine bemerkenswerte Akzentverschiebung zu verzeichnen. In allen Fällen geht es heute, aus dem Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert zum historischen Nationalsozialismus, vor allem um zwei Fragen, nämlich das Problem der nachgeborenen Generationen mit dem Erbe des Nationalsozialismus und die Frage nach den "Grenzen des Verstehens", wenn man sich mit seiner Geschichte auseinandersetzt. Ich will im Folgenden versuchen, einige Überlegungen zu beiden Fragen anzureissen, die sich v.a. darauf beziehen, welche Möglichkeiten sich aus dieser aktuellen Diskussion ergeben. Es geht mir insbesondere darum, welche reflexiven Leistungen für meine Generation notwendig snd, um die Chance, die diese Anlässe für einen generationengeschichtlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus geben, nutzen zu können.

Jean Amery hat in einem Gespräch einmal sinngemäß gesagt, so richtig habe er nie verstanden, was der Nationalsozialismus gewesen sei: nicht aus der Perspektive des Opfers, nicht aus der dessen, der sich retrospektiv mit intellektuellen Mitteln anschickt, ihn zu analysieren. Nichtverstehen kann viele Gründe haben. Der einfachste scheint mir im vorliegenden Fall das Gefühl der Vergeblichkeit, das aus der Disproportion erwächst: der Disproportion von Ereignis und Reflexionskapazität, der schier erdrückenden faktischen Macht des Interpretandums für jede, und sei es die virtuoseste Interpretationskunst.
Eben diese "Unverhältnismäßigkeit" haben Alexander und Margarete Mitscherlich in der UZT zu einem zentralen Punkt ihrer Überlegungen gemacht, wenn sie - bezogen auf den NS - "Einfühlung in Verhältnisse fordern, die allein aufgrund ihrer Größenordnung Einfühlung unmöglich machen." Sie haben damit jeden, der sich mit verstehenden Mitteln der Thematik nähert, eindringlich auf das unausweichliche Paradox eines solchen Versuchs aufmerksam gemacht.

Es wäre ganz falsch zu sagen, irgendwann ereilte einen jeden Deutschen dieses Paradox: Längst gibt es in der Bundesrepublik einen gesellschaftlichen "cordon sanitaire" der neuen Normalität, der vor der Konfrontation mit dem Thema schützt - zu schweigen von seiner pädagogisch noch so wertvollen Präsentation in den zuständigen Erziehungsinstitutionen.
Wenn es einen ereilt, dann freilich mit einer Radikalität, die das höchst persönlich erworbene Wissen: all die "Aufklärung", die historische und moralische Sensibilität, die man sich zugutehält, fast spielerisch über den Haufen wirft. Wie ein Kind, dem sein Turm aus Bauklötzern zusammengestürzt ist, unterliegt man dann einem eminenten Form- und Gestaltverlust der Welt- und Selbstwahrnehmung, einem katastrophischen Entzug der sicherheitsgewährenden "Kontexte", in denen wir zu denken gelernt haben - und es ist nun eine Frage der Umstände, ob es gelingt, dagegen neue Sicherheitsklischees zu setzen, oder ob die Erlebniskatastrophe tatsächlich in ihrer ganzen affektiven Bedeutung zugelassen werden kann.
Eine ganze Generation von Antifaschisten hat sich in Deutschland darin verzehrt, die NS-Vergangenheit "vor dem Vergessen zu bewahren". Es galt Mahnmale - im wörtlichen und übertragenen Sinn - zu errichten: Gedenkstätten, die den nachfolgenden Generationen den Schrecken der Vergangenheit vor Augen führen sollte. Dieser notwendige Kampf gegen das Vergessen hat, das ist seine weniger thematisierte Schattenseite, eine Institutionalisierung von "Gedächtnis" zur Folge gehabt, die eben die entscheidende Dimension des "Erinnerns": die emotionale Repräsentanz von Vergangenem abgetragen hat. Etwas "gedacht" wird nicht zufällig häufig da, wo man sich eigentlich viel lieber auf ein sanftes Vergessen einigen möchte; hingegen erinnert man sich, schmerzlich oder lustvoll, an Dinge, Personen, Ereignisse, die deswegen noch "nicht erledigt" sind, weil sie in den Sperrbezirken unserer Seele weiter tätig - was nicht unbedingt heißt: lebendig - sind. Die Psychoanalyse kennt - auch darin unterscheidet sie sich von anderen Wissenschaften - den Zombie als psychische Realität. Der Umgang mit "Untoten" gehört zu ihrem Handwerk - und diese Qualität macht sie unersetzlich für jede Form des Überlegens, die sich auf Vergangenheiten richtet, die nicht aufhören, die Lebenden zu beschäftigen.

Erinnern gegen Gedächtnis zu setzen ist die Idee aller Kulturrevolution - ein Terminus, der gegen seine historisch geläufige Gestalt verteidigt gehört. Kulturrevolution lebt von der Vorstellung, eine aufrührerische Geschichte den nachfolgenden Generationen auf eine Weise zu vermitteln, die es ihnen erlaubt, sie nicht als museale und idealisierte Institution zu rezipieren, sondern sie als die bindenden Voraussetzungen aller ihrer eigenen Handlungsmöglichkeiten begreifen und fühlen zu können: Als Voraussetzungen, die subkutan wirken, nicht nur kühle Memorabilia, sondern gefühlsmächtige Agenda sind, die höchst wirksam den Horizont zukünftigen Verhaltens mitbestimmen; und zwar nicht nur auf dem Niveau der Geschichte als einem kollektiven - und das heißt prinzipiell auch immer: persönlich distanzierbaren - Prozeß, sondern im Rahmen des höchst persönlichen Entwurfs jedes Einzelnen, seiner Lebensgeschichte.
Der Transfer der affektiven und emotionalen Gehalte des Abstraktums Geschichte ist der Springpunkt aller "Überlieferung", und meine These ist, daß diese in vollem Umfang nur möglich ist, wenn ihre Form selber den Impuls enthält, das Kontinuum aufzusprengen, für das Geschichte als Institution steht. Deshalb rede ich von Kulturrevolution und nicht von Kultur, die eben jenes Kontinuum repräsentiert, das kaum anders denn als Alp auf die Nachgeborenen kommen kann.

Die Idee der Kulturrevolution ist insofern optimistisch, als sie davon ausgeht, jede Epoche, jeder geschichtliche Zeitabschnitt enthalte eine mitteilenswerte mentale und emotionale Verfaßtheit, die nicht in den interpretativen Modi der geschichtlichen Hermeneutik oder einer historistischen Gesinnung aufgeht, sondern tatsächlich für sich selber steht: eine Qualität ausmacht, die in ihrer Einzigartigkeit nachvollzogen werden will und muß, wenn sie nicht die Brutstätte von neuen "Untoten" werden soll. Diese Idee enthält in sich eine implizite Theorie des Generationsverhältnisses - ohne sie wäre sie überflüssig. Der sogenannte Generationenvertrag besteht im Kern genau darin: Daß die nachfolgende die Einzigartigkeit der vorhergegangenen Generation soll verstehen können, um aus diesem Verständnis die Textur ihres eigenen Handelns zu gewinnen. Der vorgezeichnete Konflikt ist dabei, daß das Verstehensdesiderat, das die ältere der jüngeren auferlegt, nach ihrem Bedarf an Legitimation oder Exkulpierung gemodelt ist: daß, mithin, der Wunsch als "einzigartig" wahrgenommen und beurteilt zu werden, bereits legitimatorisch verfälscht ist. Diese Fälschung hat etwas Kindliches: sie entspringt einer Umkehrung der infantilen Strafangst, die nicht nur in weniger komplex strukturierten Kulturen so heftig als Kennzeichen des Seniums hervortritt (Vgl. Devereux, 1967), sondern mittlerweile auch in den hochentwickelten westlichen Gesellschaften auffällig wird. Der Wunsch der vergehenden Generationen, "verstanden" zu werden, bewegt sich - je nach dem Stand der geschichtsphilosophischen Sonnenuhr stärker oder schwächer - prinzipiell im Bereich des terminologischen Doppelsinns. Ist das Resultat von Verstehen "Verständnis", so ist darin bereits der Wunsch aufgehoben: "Alles verstehen heißt alles verzeihen" ist die Stammformel eines erpresserischen Versöhnungswillens, der aus dem wichtigsten Mittel kommunikativen Handelns eine blinde Rechtfertigungsinstanz macht.
Tendiert die Verhaltenslogik einer Generation - aus welchen Gründen auch immer - dahin, diesem Wunsch regressiv zu folgen, dann hat sie den Vertrag mit der folgenden nachhaltig verletzt: Sie hat, so könnte man mit Erikson (1989) sagen, die Fähigkeit der Generativität eingebüßt.
Generativität bedeutet, das Verhältnis zu den Nachkommen im Bewußtsein der Differenz zu gestalten, d.h., für den Wunsch nach Fortführung eigener Intentionen einen Möglichkeitsraum zu schaffen, der nicht mehr der alleinigen Verfügung seiner Produzenten unterliegt. Verlust an Generativität ist gleichbedeutend mit Mangel an Geschichtssinn: Keine Differenz zulassen zu können, die Notwendigkeit der Variation zu leugnen, ist Ausdruck eines vorgeschichtlichen, rituellen und verräumlichten Denkens, das die Zeit nur als Modus der Wiederholung anerkennen kann: In ihm, dem Inbegriff des Zwangs, geht nicht nur das verloren, was unter dem gar nicht so verächtlichen Begriff des Fortschritts gedacht werden kann, sondern auch die Grundidee aller Entwicklung: auf gleichsam immanentem Wege ein "höheres Niveau", einen Zustand zu erreichen, der Erlösung vom Gesetz des Zwangs bewirken könnte. Die Idee der Entwicklung impliziert, obwohl das in den meisten Entwicklungskonzeptionen geleugnet oder nicht gedacht wird, eine Teleologie, einen - unmerklichen - Sprung, jedenfalls einen progressus ad finitum.

Vielleicht ist es kein Zufall, daß die schlichteste - und wahrscheinlich früheste literarische - Anerkennung der generationellen Differenz einem in den Mund gelegt wurde, der im Moment der Selbstauslöschung in der Lage war, einen "selbstlosen" Wunsch zu äußern - gleichsam als Dementi seines generativen Scheiterns. "Werde wie Dein Vater, nur glücklicher", sind die Worte, mit denen Homers "kleiner" Ajax vorm Freitod Abschied von seinem Söhnchen nimmt. Von dessen Schicksal schweigt der Sänger, und wir wissen nicht, ob er den Entschluß seines Vaters jemals hat "verstehen", ob er ihm hat verzeihen können.
Kinder kennen das Verzeihen sowenig wie die mit ihnen so gerne verglichenen Primitiven. Theodor Reik berichtet von einer Begebenheit auf einer der Forschungsreisen des Ethnologen Karl von den Steinens. Als dieser Anfang des vorigen Jahrhunderts zu einem südamerikanischen Indiostamm kam, erzählte er den Eingeborenen vom Verzeihen. Das Wort war in ihrer Sprache nicht bekannt. Der Forscher gab sich alle erdenkliche Mühe, das Gemeinte durch Umschreiben verständlich zu machen. Die Ältesten zogen sich zur Beratung zurück, was das in ihrer Sprache bedeuten könnte und präsentierten schließlich als Ergebnis: "Ich schlage zurück".
Über die Anekdote hinaus ist damit tatsächlich etwas wesentliches, nämlich die Kehrseite des Begriffs getroffen: der aggressive Gehalt, der als stummer Weggefährte den Wunsch nach "Verstehen = Verzeihen" begleitet. Apokryph, zu apokryph jedenfalls, daß es bislang Thema geworden wäre, ist diese Kehrseite bei der Generation, um die es im folgenden gehen wird. Unter  den Dutzenden von Untersuchungen, die mittlerweile zur NS-Generation, oder, genauer: zu den Generationen, die in ihn verstrickt waren, vorliegen, ist keine einzige, die auch nur mit einem Wort das - unbewußte - passive Strafbedürfnis, das sie kennzeichnet, zur Kenntnis nähme. Es gehört nicht dazu, im Doppelsinne: Nicht zum Selbstbild dieser Generationen; denn wie leicht wäre es doch als eine Art Schuldeingeständnis zu dechiffrieren. Und es gehört auch nicht zur Art, wie die Nachgeborenen ihre Eltern und Großeltern betrachten; denn wie leicht könnte man eine Blickweise, die dieses Strafbedürfnis registriert, als Anzeichen einer geheimen Komplizenschaft mißverstehen, den bloßen Tatbestand als Kennzeichen einer Unschuld nehmen, die aus guten Gründen nicht zugestanden werden kann.

Die primitive Übersetzung von Verzeihen: "Ich schlage zurück" ist der Schlüssel für das Verständnis der anderen Seite der Generationendynamik in Deutschland, die nicht im geläufigen Diskurs über den vermeintlich biologisch determinierten Generationskonflikt aufgeht.
Prinzipiell ist die andere Seite des Generationenvertrages dadurch bestimmt, daß der nachfolgenden Generation nicht nur die Zumutung zu verstehen auferlegt ist, sondern die komplementäre eines Überschreitens, die gemeinhin unter dem Begriff der "Chance" verhandelt wird. Wahrscheinlich wird nur in bestimmten historischen Konstellationen deutlich, daß es sich bei der Obligation des Überschreitens im strikten Sinne um eine Zumutung handelt. Es gibt kein Bewahren ohne die Idee einer Aktualisierung, die insgeheim immer mit der Vorstellung des Besseren, ja Wahreren spielt. Reden wir nicht von Fortschritt, sondern von Entwicklung, so ist das an das Vorhandensein einer Substanz gebunden, die bewahrend überboten wird, in dem Sinne, daß die in ihr liegenden Kraftlinien verfolgt und "ausgespielt" werden.
Fortschritt ist, wiewohl ähnlich klingend, von prinzipiell anderer Machart: Iterativ wie auch immer, ist ihm der Gedanke der Trennung inhärent: Wer fortschreitet verläßt auch immer etwas oder jemanden; wer sich entwickelt definiert seine Transzendenz hingegen als immanente: deswegen ist die Idee wie die Utopie der Entwicklung an sich apokryph und paradox, jedenfalls ganz anders als sich der common sense, dem die Entwicklung das Selbstverständliche ist, träumen läßt. Trennung und Bindung sind die jeweils korrelativen Prädikate von Fortschritt und Entwicklung; Verstehen als Verzeihen entspräche dieser, Verzeihen in der "primitiven" Übersetzung als Zurückschlagen jener.
Damit sind die Elemente genannt, die in der deutschen Generationendynamik wesentlich sind: in der Generationendynamik nach - ja wonach? Nach "Auschwitz", nach der "militärischen Niederlage Deutschlands", nach dem "Ende der Hitlerdiktatur", nach dem "Faschismus", nach dem "Sieg der roten Armee/der Alliierten/der westlichen Demokratien", nach dem "Zusammenbruch" gar? Ein makaberes A bis Z, in dem jede einzelne der von uns zitierten Formeln für eine bestimmte politische und psychologische Option bei der Verarbeitung dieser "Vergangenheit" steht.
Wie sollte man nach 1945 aus der Perspektive der Generationen, die nun ihren Teil des Vertrags erfüllen sollten, im Sinne der Entwicklungsidee an die vorherige(n) Generation(en) anknüpfen? Oder anders: Welche Entwicklung war überhaupt möglich? Welches Projekt sollte man - besser, wahrhaftiger - zuendeführen? Welche Substanz war wofür vorhanden? War man nicht am absoluten Nullpunkt - in jeder Hinsicht: moralisch, politisch, geschichtlich? Welche Bindungen sollten aufrechterhalten, welche mußten verworfen werden?
Und, im Sinne der anderen, komplementären Perspektive: welcher Fortschritt war denkbar? Also auch: welche Trennungen notwendig?
Ich mache einen Sprung, um an vorhin Gesagtes anknüpfen zu können: Ich habe oben die Generation von Antifaschisten angesprochen, die den Kampf gegen das Vergessen auf ihr politisches Panier geschrieben hat. Sie ist nicht meine - und ich denke, sie hat andere Trennungen vollzogen, ist andere Bindungen eingegangen als ich und meine Altersgenossen. Aus der Differenz zwischen uns lassen sich möglicherweise einige Aufschlüsse darüber gewinnen, wie der tiefere generationelle Bruch zwischen ihr und den "faschistischen Vätern" vonstatten gegangen ist.
Betrachtet man die politische Rhetorik dieser Generation, so fällt die "Wiederholungsphobie" ins Auge: "Wehret den Anfängen" ist Ausdruck einer Idiosynkrasie, die sich an die Vorstellung einer "Schneeballogik" heftet. Der Wunsch, gefährliche Tendenzen "im Keim zu ersticken" ist das Korrelat des mahnenden Gedenkens. Für unsere Frage, welche Trennungen für sie notwendig war, ist wichtig, daß sie selber eine zentrale Trennung weitgehend aufrechterhalten konnte: die zwischen dem affektiven und dem politischen Gehalt der "Vergangenheitsbearbeitung". Ich bin mir im Klaren darüber, daß diese Qualifizierung an eine Disqualifizierung heranreicht. Worauf es mir ankommt ist indes darzustellen, welche generativen Schritte innerhalb bestimmter Zeitabschnitte überhaupt vorstellbar sind und welcher Logik sie folgen. Wenn ich also sage, daß für meine Generation sich eine Aufhebung dieser Trennung als Möglichkeit abzeichnet, so enthält das kein Werturteil. Die Generation der in den 30er und 40er Jahren geborenen Kritiker des Nationalsozialismus hatte wahrscheinlich kaum eine andere Wahl als das politische Ziel einer "Prohibition" auf dem Hintergrund einer regelgeleiteten, von Emotionen möglichst freigehaltenen Verfahrensbasis zu verfolgen. Meines Erachtens besteht die Möglichkeit meiner Generation darin, diese Trennung als ein zeitgebundenes Syndrom dechiffrieren zu können: Als das generationelle Pendant jener Auftrennung von Vorstellung und Affekt, die der grundsätzliche Funktionsmechanismus der individuellen neurotischen Symptome ist. Wenn diese Vermutung zutrifft, dann ergibt sich daraus zwanglos die generationelle "Aufgabe", Vorstellung und Affekt wieder einander anzunähern. Die Vermutung, daß dies, ebenfalls wie in der individuellen Neurose, nicht schmerzlos und nicht unproblematisch geschehen kann, ist nicht von der Hand zu weisen.
Der Versuch, diese Annäherung zu erreichen, impliziert einen Verstehenstypus, der durch eben jene Vergangenheit, die "aufzuarbeiten" er sich vorsetzte, zugleich gründlich blockiert war. Im Folgenden will ich den Versuch machen, die selber generationsspezifisch verfaßten Verstehensmöglichkeiten und -blockaden, wenigstens für die eigene Generation grob zu skizzieren, in der Hoffnung, damit ein Modell für generationelle Verstehenspositionen zu gewinnen.

Margarete Mitscherlich hat in großzügiger Vereinfachung die psychologischen Konturen der deutschen Nachkriegsgenerationen zu skizzieren versucht:
 "Die jungen Menschen der 50er Jahre waren im allgemeinen bereit, sich mit den Wertvorstellungen, Erziehungsmethoden ihrer Eltern zu identifizieren. Das war erstaunlich. Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, daß es nach der »Stunde Null« 1945, als der Zweite Weltkrieg mit einer totalen militärischen und moralischen Niederlage Deutschlands zu Ende gegangen war, zu einer tiefgehenden Auseinandersetzung zwischen der älteren Generation, die in der Hitler-Zeit ihre wesentliche Prägung erhalten hatte, und ihren Kindern gekommen wäre. Das war aber kaum der Fall, gerade weil Eltern wie Kinder mit dem Verlust der bisherigen, unter Hitler hochgehaltenen Ideale konfrontiert waren. Da die 12-bis 18jährigen schon weitgehend in das Erziehungs- und Wertsystem der Nazizeit integriert worden waren, war von ihnen vorerst eher Ratlosigkeit als Widerstand und Kritik zu erwarten. Die noch Jüngeren waren in einem Alter, das kaum dazu befähigte, ihr Erstaunen und ihre Verwirrung über die Veränderungen im Verhalten der Eltern und deren Vorstellungen klar wahrzunehmen, geschweige denn auszudrücken." (Nachruf, 37)

Im Schatten des wirtschaftlichen Aufschwungs sei eine neue Generation herangewachsen, die nicht mehr auf den stabilisierenden Pakt mit den Eltern angewiesen gewesen sei: "In den 60er Jahren begann folglich ein heftiger Generationskonflikt zwischen den kritischen und politisch interessierten jungen Deutschen und ihren Eltern oder Elternfiguren. Eine oft gnadenlose Auseinandersetzung mit vergangenen und bisherigen Wertvorstellungen entbrannte." (39f) Dieser Konflikt verlief "zwischen einer Generation, die noch im Krieg oder davor geboren worden war, und der Generation, die die Hitler-Zeit und den Krieg als Erwachsene oder Jugendliche erlebt hatten." (41) Heute habe sich die Konfliktlinie noch einmal verschoben: "Der Identifikation mit den Eltern in den fünfziger Jahren, der Opposition gegen sie Ende der sechziger Jahre folgt eine Generation, die mit den verunsicherten Wohlstandseltern nur noch Leere verbindet." (42)

Folgt man dieser Diagnose, so käme der "zweiten" Generation eine ungeheure Bedeutung zu: Zwischen denen, die noch nicht und jenen, die nicht mehr zum Protest: dem Einklagen der historischen Verantwortung fähig waren oder sind, erscheint die rebellische "68er-Generation" gleichsam als der Statthalter einer möglichen historischen Kontinuität, die nicht auf Verdrängung und Ausgrenzung beruht - und damit zugleich als das einzig greifbare historische Beispiel einer deutschen Traditionsbildung von "zivilen" Verhaltensweisen nach dem 2. Weltkrieg.1 Man muß sich fragen, welche Idealisierungen in diese Einschätzung eingehen, sollte sie aber - entgegen den zeitgeistkonformen Entwertungen dieser Generation -  schließlich ernstnehmen.

Wenn M. Mitscherlichs Einschätzung zutrifft, daß der Identifikation, die die erste Nachkriegsgeneration noch eng an ihre Eltern band, eine weitgehende Desidentifikation in der nächsten folgte, so wäre, um diesen dramatischen Wechsel psychologisch verstehen zu können, nicht nur zu untersuchen, was diese Eltern de facto auszeichnete, sondern vor allem, was sie - in der Wahrnehmung ihrer Kinder - repräsentierten. Erst wenn es gelingt, die Differenz von objektivierender psychologischer Deskription und der für die Generation der Nachgeborenen praktisch wirksamen Repräsentanz zu bestimmen, ist es möglich, die Dynamik der Generationsspannung zu untersuchen. Dies wäre der erste Schritt, um die Logik des spezifisch deutschen Generationenkonflikts zu begreifen, von dem M. Mitscherlich redet. Die "Grammatik" von Generationenkonflikten ist - jedenfalls dann, wenn sie, wie das nach großen historischen Zäsuren der Fall zu sein pflegt, prononciert sich äußern - von einer geradezu bestechenden psychischen Mechanik, um nicht zu sagen Primitivität. Sie ist in vielem buchstäblich dem Verhältnis von Negativ und Positiv in der fotografischen Technik vergleichbar. Zur Bestimmung der Logik generationell ausgetragener Konflikte gehört jedoch mehr, als das Prinzip der Gestaltkonstanz bei Umkehrung der Kontrastrelation im historischen Material wiederzufinden: Ihr wesentliches Ziel besteht darin, den dynamischen Prozeß der - wir bleiben im Bild - Entwicklung vom Negativ zum Positiv und den damit verbundenen Gestaltwandel zu untersuchen, der dem schematisierenden Blick verborgen bleibt.

Die fotografische Analogie hat in der Geschichte der Psychoanalyse an prominenter Stelle eine Rolle gespielt. Freud hat bekanntlich die Neurose als "das Negativ der Perversion" bezeichnet. Dahinter steckt die seinerzeit skandalöse und heute nichts weniger als begriffene Idee davon, daß die kulturell nahezu durchschnittliche Form des Triebschicksals: die Neurose sich in ihrer Faktur immer in einer geheimen Nähe zu dem bewegt, was dem Selbstbewußtsein ausgeschlossen bleibt. Perversion ist eine Palastrevolution gegen die Normen der Hierarchie aus dem Fundus des Unbewußten. Sie verteidigt eine "ältere" Wahrheit des Erlebens gegen die angestrebte Norm der Integration und Reife, die zugleich den Schutz der "Normalität" liefert. Die Formulierung vom "Negativ" immerhin läßt durchscheinen, daß unter bestimmten kulturellen Bedingungen die Perversion durchaus selber als eine Norm vorstellbar ist, die für jede Entwicklung eine unhintergehbare Disposition der Möglichkeit darstellt, die nur um den Preis der Ausweglosigkeit suspendiert werden kann. Freuds berühmte Überlegung, daß ganze Kulturen "neurotisch" werden können, ist um den Gedanken zu ergänzen, daß sie - möglicherweise - auch dem Schicksal einer kollektiven Perversion erliegen können. Neurose ist die gesellschaftlich verfaßte Form psychischen Leidens schlechthin: deswegen, weil sie durch den Abwehrmechanismus der Verdrängung konstituiert ist, in dem sich focusartig die je spezifischen kulturellen Anforderungen und damit auch bis zu einem gewissen Grade die gesellschaftlichen Entwicklungslinien spiegeln. Die gesellschaftlich unmögliche Form par excellence dagegen stellt die Perversion deswegen dar, weil sie das Resultat einer Fixierung ist, die sich der Logik der Entwicklung entzieht. Als Archaismus ist sie der Sphäre des Gesellschaftlichen, die sich per definitionem durch die Überwindung oder den Ausschluß von Archaismen auszeichnet, schlechterdings fremd. Eine "perverse" Gesellschaft wäre also nicht nur eine, die sich kollektiv des Vermögens der Verdrängung entledigt hätte: die mit Verleugnung, Spaltung und anderen Mechanismen operiert, sondern auch eine, die sich selber auf einen Zustand fixiert, der die Entwicklung ausschließt: der ein wohl ein "Mehr", aber kein "Anders" akzeptiert. Eine Gesellschaft dieser Provenienz beruhte auf der zentralen Verleugnung der Differenz.
Nehmen wir dieses Bild für einen Augenblick ernst, dann wäre sein "Negativ", die Neurose, der Ausdruck einer Opposition im Sinne der Möglichkeit der Entwicklung - oder, das wird später zu entscheiden sein: des Fortschritts.

Ein fast vollständiges Bild der von mir angesprochenen Elterngeneration aus der Perspektive der kritischen Generation - gleichsam ihre Verdichtung in einem personalen Idealtypus - finden wir in folgender Darstellung:

 "Wesentlich für die Starrheit des totalitären Charakters ist dessen Autoritätsgebundenheit - die blinde, verbissene, insgeheim aufmuckende Anerkennung alles dessen, was ist, was Macht hat. Nachdruck wird gelegt auf jeweils geltende konventionelle Werte, wie äußerlich korrektes Benehmen, Erfolg, Fleiß, Tüchtigkeit, physische Sauberkeit, Gesundheit und konformistisches, unkritisches Verhalten. Durchweg denken und empfinden solche Menschen hierarchisch. Sie unterwerfen sich der idealisierten moralischen Autorität der Gruppe, zu der sie sich selbst rechnen (...) und stehen allemal auf dem Sprung, den, der nicht dazu gehört, oder von dem man glaubt, er stehe unter einem, unter allerhand Vorwänden zu verdammen." (Soz. Exkurse, p. 156f)

Es ist kaum ein Gran Übertreibung zu sagen, daß die Protestgeneration, die legendären "Achtundsechziger", sich an die Negation dieses Charakters mit geradezu buchhalterischer Genauigkeit gehalten hat
Nicht nur auf dem Höhepunkt der Revolte, sondern fast verstärkt noch in der seltsam geschichtslosen Transformationszeit der 70er Jahre, konnte man gleichsam einen "Gegentypus" zum autoritäten Charakter studieren, der alles daransetzte, an sich selber das aus der "Authoritarian Personality" gewonnene Schreckbild zu zerstören, das den eigenen Vater, Onkel oder Großvater als "Faschisten" zeichnete, auch wenn er dem in der NS-Vergangenheit möglicherweise nicht entsprochen hatte. Die "Authoritarian Personality" - und sie war einer der kanonischen Texte der Protestbewegung - hatte ihren maieutischen, ihren verstehenmachenden Wert nicht zuletzt darin, daß sie mit den Mitteln der Psychoanalyse in der Lage war, einen Begriff von Verhaltenspotentialität zu entfalten; daß sie es verstand, von der Potentialität auf mögliche Realitäten zu schließen und jene auf dem Hintergrund des real Geschehenen zu einem Bild zu verdichten, das Grauen machte. Der "autoritäre Charakter" war ein wissenschaftliches Schreckbild, eine soziopsychologische "Realabstraktion", die für das Geschichtsverstehen einer ganzen Generation eine ähnliche systematische Funktion gewann wie das "Schema der reinen Verstandesbegriffe" für die Kantische Philosophie: Dieses vermittelt bekanntlich zwischen Bild und Begriff, Anschauung und Kategorie und ist insofern der eigentliche Garant von "Erfahrung". Der autoritäre Charakter führte als Realabstraktion die Doppelexistenz eines Idealtyps und einer realen Verhaltenskonfiguration, die alltäglich begegnete. Er erlaubte ein "Wiedererkennen" von etwas, das man gar nicht gekannt haben mußte, sondern das einfach den schrecklichsten Phantasien entsprach, die sich jeder Angehörige der Protestgeneration mit gutem Grund von seinen Eltern und anderen "Autoritäten" einmal gemacht hatte. Das am autoritären Charakter gewonnene Bild von Potentialität bestimmte wie nichts anderes die Logik der 68er-Revolte und das Verhalten ihrer Akteure: An ihm orientiert gelangen Extrapolationen, die erstmals Realitäten in aller Schärfe benennen konnten, an ihm orientiert mußte aber in vielen entscheidenden Punkten die Realität verfehlt werden, gerade da, wo ihr mit nüchternem Handeln am besten zu begegenen gewesen wäre. Gemessen an den dramatischen Erwartungen erschien das, was sich als Realität gab, immer als zu scheinhaft, (ent)täuschend, kurz: in jeder Hinsicht "unter Niveau"; dem der Ängste ebenso wie dem der positiven Möglichkeiten. Im Begriff des "Faschistoiden" zog sich der doppelt besetzte Aspekt der Potentialität zusammen. Er bezeichnete als nahezu beliebigen Objekten anzuheftendes Attribut die permanente Anwesenheit des nicht beseitigten "Faschismus". Das Faschistoide an Menschen, Institutionen, Meinungen und Haltungen zu diagnostizieren und zu benennen, erwies sich nur allzu häufig als realitätshaltig. Weniger die Realitätsangemessenheit ist freilich das Entscheidende der in diesem Potentialitätsbegriff kristallisierten Haltung als vielmehr die Tatsache, daß er geeignet war, das "dramatische Bedürfnis" (H. Kunz) der Akteure zu befriedigen.

Das "Negativ", das die Protestbewegung vom Bild des autoritären Charakters abzog, hatte auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte mit einem - gerade für "Revolutionäre" schwierigen - Paradox zu tun: Es hatte im gleichen Atemzug die Potentialität zu beschwören und zu leugnen, weil sie überwertig mit der negativsten aller Konnotationen besetzt war. Das hatte weitreichende Konsequenzen insbesondere für den gerne hervorgehobenen utopischen Charakter der Revolte. Er war weitaus gebrochener als man heute wahrhaben möchte. Wohl gab es die Utopie als Vorschein eines "Anderen", aber dieses mußte quasi-transzendenten Charakter annehmen, wenn es nicht selber sich dem Verdacht aussetzen wollte, aus dem, was war, sich zu entwickeln und damit seine Abkunft aus dem "unmöglichen" Stoff der Potentialität zu bekennen.2
Die antiautoritäre Revolte (und der aus ihr hervorgehende Sozialcharakter des "Antiautoritären") litt unter der Paradoxie, daß sie unterm Eindruck einer diabolischen menschlichen Potentialität, ihre politischen Ziele sowohl aus der Logik der Entwicklung als auch der des Fortschritts herausnehmen mußte. Dem entsprach die zur Parole umgemodelte Philosophie der "Negativität", die, aus bitterster Geschichtserfahrung gewonnen, zum Schibboleth der Frankfurter Schule geworden war und den Kern ihrer Dechiffrierung der Moderne bildete. Dem entsprach aber, nur scheinbar widersprüchlich, auch die "schäbige Doktrin des Materialismus" (H.-J. Krahl) in der psychologischen Aufbereitung durch psychoanalytische Denker wie Wilhelm Reich, derzufolge nicht Sowjetmacht plus Elektrifizierung, sondern, sympathischer, aber nur unwesentlich luzider, die Verfügung über Ökonomie plus Sexualität die Welträtsel lösen und das Reich der Freiheit ermöglichen sollte. Die Koinzidenz der negativen Philosophie und des sexualökonomischen Vulgär-Materialismus aus der Sicht ihrer revoltierenden Rezipienten lag wohl darin, daß beide - überflüssig hinzuzufügen: auf gänzlich anderem Niveau - von einer totalen "Verschlingung" des Objektiven und Subjektiven unterm Primat des ersten zu reden schienen; ein Subjekt-Objekt-Verhältnis reflektierten, das Lesarten der Welt ermunterte (oder zumindest nicht ausschloß), die sie gleichsam im selben Atemzug als unveränderbar-überwältigend und im Handstreich aufhebbar ausgab. Hätte die Kritische Theorie eine Revolutionstheorie, sie wäre mit Notwendigkeit "anarchistisch". Während diese jedoch nicht recht die "Substanz" anzugeben wußte, aus der der Umschlag erfolgen könnte, hatte die neo-reichianische Position den Vorzug, eine inwendige menschliche Qualität ins Spiel bringen zu können, die aus allen revolutionären Verlegenheiten herauszuhelfen schien. Ihre Leistung bestand vor allem in der Rekonstruktion der Sexualität als einer "reinen" Substanz, die kontrafaktisch wirkte: Eine "materia prima", die ineins das allergesellschaftlichste wie das allernatürlichste war und in dieser Doppelbesetzung aus dem Dilemma der Entwicklung und der Potentialität herauszuführen versprach. Als allernatürlichste war sie die Substanz des Gegenentwurfs, der die Welt noch einmal - parthenogenetisch - neu fassen konnte. Hier vertrat sie das Andere der Gesellschaft: sprich: jener Gesellschaft, die "widernatürlich", pervers die Möglichkeiten der modernen Entwicklung vor Augen geführt hatte. Als allergesellschaftlichste bewahrte sie die Spur des Leidens, der Beschädigung der Individuen durch ihre gesellschaftliche Zurichtung und repräsentierte die Substanz möglichen Aufbegehrens, das allein den utopischen Entwurf in Realität überführen konnte. Nur aufgrund dieser Doppelbesetzung konnte sie zur, wie es damals hieß, "revolutionären Produktivkraft" avancieren. Eben damit büßte sie aber ihren wirklich "gesellschaftssprengenden" Charakter, ihr irreduzibles Intimitätsmoment ein. Im neo-reichianischen Denkmodell mußte man die Sexualität erobern wie die Betriebe: Es liefert ein Musterbeispiel für eine "Dialektik der Aufklärung", die auf einer Verwechselung der Valenzen von intimen und öffentlichen Prozessen beruht; und es liefert ein Beispiel für jene sekundäre "Naturalisierung durch Vergesellschaftlichung", die Adornos frühzeitig der "kulturistischen" Denkbewegung der Fromm-Horney-Schule bescheinigt hatte. Gleichwohl schien es wie kein anderes geeignet, die Paradoxie der Potentialität aufzuheben. Die scholastische Doppelbestimmung der Sexualität löste den doppelt paradoxen Anspruch, analog zum Gefährdungspotential des autoritären Charakters, das wie ein biologisches Schicksal wirkte, aber nie als solches deklariert werden durfte, einen "Gegenstoff" zu ersinnen, an dem die Hoffnung auf eine gänzlich andere Gesellschaft eine Festigkeit gewinnen konnte, wie sie nur die Natur gewähren kann.
Ging alle Anstrengung darauf, das Schreckbild einer "historischen Vererbung" zu widerlegen, so brauchte aber doch auch das Hoffnungsbild einer Kausalität aus Freiheit ein Substrat, das nicht aus der gesellschaftlichen Bewegung allein zu gewinnen war.3
Der praktische Garant für die Aufhebung des Schreckbilds, der erste Entwurf des "neuen Menschen" war der "antiautoritäre Charakter". Er hatte die schwere Bürde zu tragen, all jene oben zitierten "konventionellen Werte" gleichsam existenziell zu zertören und zugleich, als praktischer Träger einer Utopie, die sich der Realität einschreiben wollte, eine "Aufbauarbeit" zu leisten, die ohne einige dieser Werte kaum zu leisten war.
Die geforderte Mischung aus Zerstörer und Baumeister war freilich historisch nicht gänzlich neu. Die Protestgeneration teilt mit jener, auf die sich ihre Kritik richtete, bei aller Differenz des "Projekts", die Vorstellung, gleichzeitig etwas "aufbauen" und etwas zerstören zu müssen. Zu den unangetasteten Tabus der deutschen Generationengeschichte gehört eine irritierende formale Ähnlichkeit der Generationen, die 1968 konflikthaft aufeinandertrafen. Der Nationalsozialismus war in entscheidenden Dimensionen seiner psychosozialen Faktur - und nicht zuletzt in der Selbstwahrnehmung vieler seiner (ehemaligen) Anhänger - eine Jugendbewegung; eine Jugendrevolte, die das "epater le bourgeois" ebenso auf ihre Fahnen geschrieben hatte wie die bundesrepublikanische Protestbewegung der späten sechziger Jahre. Es ist, so meinen ich, hier nicht nötig, auf die Differenzen zwischen diesen beiden Ereigniszusammenhängen zu verweisen. Zu den Gemeinsamkeiten immerhin zählt, daß aus beiden Bewegungen ein Typus des "ewigen Jugendlichen" hervorgegangen ist, der hinsichtlich seiner psychischen Konstitution die Zeit der politischen Aktivität überdauert. Diesen Sachverhalt anzuerkennen,  bedeutet für Angehörige der Protestbewegungsgeneration, eine Ähnlichkeit wahrzunehmen, die sowohl schambesetzt als auch angstauslösend ist.
Für die Angehörigen der Protestbewegungsgeneration spielt der Wunsch nach einem "unschuldigen" Ursprung eine zentrale Rolle. Er fand Ausdruck im sorgfältig gehegten Mythos einer politischen Parthenogenese: Der Protest war der Versuch der Autopoiesis einer Generation, die mit der vorherigen bei aller Differenz den Wunsch nach einem Ungeschehenmachen der NS-Zeit teilte. Die schroffe Trennungsgebärde gegenüber den Eltern war der Statthalter dieses Wunsches. Auch er war noch am ehesten in jenem legendären Schweigen unterzubringen, das richtig, aber reduktiv als die intergenerationelle Abwehr zwischen der Täter- und der unmittelbaren Nachkriegsgeneration diagnostiziert wurde. An diesem Punkt berühren sich vielmehr die Strategien der nachgeborenen Teilgenerationen. Der stille Konsens der 50er und der lautstarke Dissens der 60er und 70er Jahre verhalten sich zueinander wie generationstypische Ausdrucksformen desselben Problems.
Aus dieser Perspektive ergibt sich ein neuer Blick auf das Problem der Generationen
in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Es gehört zu den Eigenheiten der Generationendynamik der alten Bundesrepublik, daß das charakteristische Schweigen über die Nazizeit keineswegs nur das Resultat eines Ausweichens der Alten vor den Fragen ihrer Kinder, sondern tatsächlich Ergebnis eines eigenartigen Pakts zwischen den Generationen war: Hat die Jugend der 50er Jahre im stillen Konsensus mit den Eltern wohl tatsächlich weitgehend aufs Fragen verzichtet, so fand die erste politisch artikulierte, rebellische Generation gegen Ende der 60er Jahre keine Form der Frage, die wirklich eine Antwort ermöglicht hätte. Das Schweigen wurde dadurch zementiert, daß der Wunsch nach politischer Aufklärung den Gestus der Anklage annahm. In der Protestbewegung von 1968 wurde der eine Generation vorher bürokratisch erstickte Prozeß der "Entnazifizierung" politisch wiederaufgelegt. Politisch und "persönlich": In vielen Familien entstand die Atmosphäre eines Tribunals, in der die jugendlichen Ankläger Fragen stellten, die der Überführung dienen sollten und deshalb in die Falle des forensischen Leerlaufs gerieten. Es geht hier nicht darum, diesen Vorgang politisch oder psychologisch zu bewerten. Jedoch bleibt festzuhalten, daß sich in diesem Klima keine kommunikative Rationalität zwischen den Generationen entwickeln konnte. Der aggressiven "Aussageverweigerung" der einen entsprach eine verzweifelte Radikalität der anderen Seite, für die die Vorstellung einer Versöhnung mit den schuldbeladenen Eltern unmöglich war. Insofern gab es keinen Anlaß, eine "Kunst des Fragens" zu entwickeln, die das Schweigen hätte brechen können. Noch weniger wohl gab es einen Grund: Womöglich wären die hervorgelockten "Geständnisse" unerträglich gewesen... .
Heute, aus dem Abstand einer weiteren Generation, stellt sich die Frage nach Anlaß und Grund neu. Wie die vielfältigen, z.T. stark emotional gefärbten Reaktionen auf die Wehrmachtsausstellung oder Goldhagens Buch zeigen, gibt es hinreichend Anlässe, sich über das Erbe des Nationalsozialismus zu verständigen. Allein das ist Grund genug für die Nachgeborenen, sich Gedanken darüber zu machen, ob es nicht an der Zeit ist, jetzt eine Kunst des Fragens zu entwickeln, die die Vermeidungsgrenze unterläuft, die davor schützen soll, sich die eigene Biographie von einer möglichen "historischen Kontaktschuld" freizuhalten. Die Wehrmachtsausstellung bietet dafür eine Chance. Um sie nutzen zu können, ist es freilich gerade für die zweite Generation notwendig, ihre eigenen biographischen Bindungen, ihre Trennungswünsche und Ängste zu reflektieren und zum Ausgangspunkt einer möglichen Neuauflage des Dialogs zwischen den Generationen zu machen.

Fußnoten:
1 Damit es nicht durcheinandergeht: "Zweite" Generation ist hier - im Sinne der Mitscherlichschen Periodisierung - als Bezeichnung der nicht mehr an die Eltern Angepaßten zu verstehen. Bezogen auf das Generationsverhältnis hinsichtlich der NS-Verwicklung der Eltern gehören sowohl die Jugendlichen der 50er wie die der 60er Jahre der zweiten Generation an.
2 Dieser Stoff entspricht dem, was Z. Bauman als "Ambivalenz" bezeichnet. Für das schwierige Verhältnis zur Utopie innerhalb der PB ist die Rezeption und die Bedeutung Blochs kennzeichnend: Nicht er, der utopische Denker par excellence, sondern der aus der "negativen" Denkbewegung der Frankfurter Schule stammende Marcuse war der wichtigste Produzent utopischer Elemente im politischen Denken der PB.
3 Aus dieser schwierigen Paradoxie heraus ist u. a. zu erklären, warum die PB nichts mit dem wirklich radikalen Freudschen Konzept des Todestriebes anzufangen wußte.
 

Literatur:
Baumann, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Hamburg 1992
Devereux, Georges: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt/M. 1984
Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/M. 1989
Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt/M. 1970
Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse. Frankfurt/M. 1956
Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967
Mitscherlich-Nielsen, Margarete: Nachruf auf einen Generationskonflikt. In: Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern. Frankfurt/M. 1987
Reik, Theodor: Hören mit dem Dritten Ohr. Frankfurt/M. 1983

Christian Schneider
Sigmund Freud Institut
Myliusstr. 20
D-60323 Frankfurt
e-mail an Christian Schneider

Veröffentlicht in: Werkblatt Nr. 39, 2/1997: 75-93.