Nr. 36, 1/1996: 108-127 Werkblatt - Zeitschrift für 
Psychoanalyse und Gesellschaftskritik

von Zvi Lothane

Übersetzung aus dem Englischen: Ludwig Janus, Heidelberg
Die Verknüpfung von Sohn und Vater Schreber mit Hitler: 
Ein Fall von historischem Rufmord 
Selbstdarstellung von Prof.Dr.med. Zvi Lothane:
Ich bin am 21.Mai 1934 in Lublin in Polen geboren. Meine Eltern waren Juden und ich bin Jude geblieben. 1941 habe ich Polen verlassen und bis 1946 in Rußland gelebt, um dann nach Polen zurückzukehren. Vier Jahre später war ich in Israel eingebürgert, wo ich Medizin studiert und geheiratet habe. Seit 1963 lebe und arbeite ich in den USA, wo ich mich auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychoanalyse spezialisiert habe. Ich habe Arbeiten über die Methodologie der Psychoanalyse und Psychotherapie veröffentlicht, darunter das Buch „In Defense of Schreber: Soul Murder and Psychiatry“ (1992). Eine Besprechung dieses Buches erscheint in der Zeitschrift „Luzifer-Amor“ Nr. 18/1996. Ich bin Clinical Associate Professor of Psychiatry an der Mount Sinai School of Medicine in New York, Fellow der American Psychiatric Association und Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Originalfassung dieses Artikels: 23. Juli 1994.
Zum Gebrauch des Textes: 
- Zahlen in eckigen Klammern bezeichnen das Ende der jeweiligen Seite im Original.
- Zwischen der jeweiligen Fußnote (Zahlen in runden Klammern) und dem Text kann per Mausklick gewechselt werden.
- Mit dem Befehl "Datei - Speichern unter" kann der Artikel als html-Datei (mit Internetprogramm lesbar) oder als Textdatei (unter Dateityp einstellen) auf der Festplatte abgespeichert werden.

Vorbemerkung

In meiner ersten Besprechung von Paul Schreber 1982 sah ich ihn noch als „eine paranoide Persönlichkeit“, getreu den Interpretationen Freuds (1911) von Schrebers berühmten Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Zu der Zeit sah ich noch nicht die innere Widersprüchlichkeit in Freuds Formulierungen: Da ist zum ersten die Diagnose und sein Schwanken zwischen Paranoia, paranoider Demenz (paranoider Schizophrenie) und [108] Paraphrenie und dann zum zweiten die Interpretationen der Paranoia als ursächlich mit dem homosexuellen Wunsch verbunden: „...der paranoische Charakter liegt darin,“ verallgemeinert Freud, „daß zur Abwehr einer homosexuellen Wunschphantasie gerade mit einem Verfolgungswahn reagiert wird“ (Freud 1911, S.295), und zwar mit den Mitteln der Projektion, um seine unwahrscheinliche Hypothese zu begründen, daß Schreber im Sommer 1893 von leidenschaftlichen Wünschen und Sehnsüchten gegenüber Flechsig erfüllt war, „der Kern des Konfliktes bei der Paranoia des Mannes“ (Freud 1911, S.299).
Jung (1911) und Bleuler (1912) waren die allerersten, die diese Verallgemeinerung Freuds im Sinne der Libidotheorie in Frage gestellt haben und viele andere Autoren folgten (Lothane 1989, 1992), obwohl diese Dynamik in manchen Fällen gelten kann. Freud hat sich dieser Theorie bedient, um den folgenden unwahrscheinlichen Mythos über Senatspräsident Schreber zu konstruieren. Was Paul Schreber laut Freud schon im Sommer 1893 bewegte, also bevor er Flechsig im Herbst 1893 nach acht Jahren wiedersah, war nicht die Furcht, daß seine „frühere Nervenkrankheit wieder zurückgekehrt sei“ (Schreber 1903, S.34), nicht die „ungewöhnliche Arbeitslast bei Antritt des (ihm) neu übertragenen Amtes eines Senatspräsidenten beim Oberlandesgericht Dresden“ (S.34), nicht die „mehrmalige Vereitelung der Hoffnung auf Kindersegen“ (S.36), sondern der angeblich heiße, vollbewußte Wunsch von Flechsig, im After koitiert zu werden. „In der Inkubationszeit der Krankheit (zwischen seiner Ernennung und seinem Amtsantritt zwischen Juni und Oktober 1893)“, so Freud, „mit der Erinnerung an die Krankheit wurde auch die an den Arzt geweckt, und die feminine Einstellung der Phantasie galt von Anfang an dem Arzte“ ... (Es war) ... eine zärtliche Anhänglichkeit an den Arzt übriggeblieben, die jetzt, aus unbekannten Gründen, eine Verstärkung zur Höhe einer erotischen Zuneigung gewann ... Ein Vorstoß  homosexueller Libido war also die Veranlassung dieser Erkrankung, das Objekt desselben war wahrscheinlich von Anfang an der Arzt Flechsig, und das Sträuben gegen diese libidinöse Regung erzeugte den Konflikt, aus dem die Krankheitserscheinungen entsprangen“ (Freud 1911, S.277-278) ... „Ich denke, wir sträuben uns nicht weiter gegen die Annahme, daß der Anlaß der Erkrankung das Auftreten einer femininen (passiv homosexuellen) Wunschphantasie war“ (Freud 1911, S.283). Das ist Freuds freie Phantasie über Schreber. Das ist Mythenbildung und Mythendeutung (Lothane 1989a, 1994a, 1995d, 1995e). [109]
Entlang dieser Linie argumentiert Freud, daß Schrebers wahnhafte Überzeugung einer Weltkatastrophe, eines Weltunterganges“ (Freud 1911, S.305) „die Folge des zwischen ihm und Flechsig ausgebrochenen Konfliktes“ (Freud 1911, S.306) war. Jedoch nahm Freud auch an, daß  die Weltuntergangsphantasie weit über einen libidinösen Konflikt hinausging; „eine solche Weltkatastrophe während des stürmischen Stadiums der Paranoia“ bedeutete, „der Weltuntergang ist die Projektion dieser innerlichen Katastrophe; seine subjektive Welt ist untergegangen, seit er ihr seine Liebe entzogen hat“ (Freud 1911, S.307).
Eine solche Argumentation verfolgte mehr die Linie der gerade entstehenden Ich-Psychologie als der damals noch herrschenden Triebpsychologie. Freud zog dabei zum einen nicht in Betracht, daß Weltuntergangsphantasien auch für Depression typisch sind (Jaspers 1963), Schrebers wahre Erkrankung, und zum anderen, daß Paranoia und Liebe viel weitreichendere Konzepte sind als verdrängte sexuelle Wünsche. Diese Konzeption wurde später sowohl von C. G. Jung wie auch von Melanie Klein verfolgt. Freud übernahm und bestätigte die Diagnose einer Paranoia von Guido Weber und zog eine Differentialdiagnose nicht in Betracht. Obwohl ihn die Depression als Erkrankung vertraut war, und Abraham gerade seinen Beitrag zur Depression veröffentlicht hatte, lag die Abfassung seiner eigenen klassischen Arbeit hierzu „Trauer und Melancholie“ noch Jahre in der Zukunft. [110]
Trotz dieser Einschränkungen muß man Freuds Verdienst anerkennen: Seiner zentralen Einsicht folgend, daß Verrücktheit Bedeutung hat, was in der statischen und organisch orientierten Psychiatrie seiner Zeit undenkbar war, ordnete Freud der Phantasie eine wichtige lebenserhaltende Funktion zu: „... der Paranoiker baut sie (die zerstörte Welt, Z. L.) wieder auf ... Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung, ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion“ (Freud 1911, S.308; Hervorhebung von Freud). In einer späteren Passage, wo er über die „stürmischen Halluzinationen“ bei der Schizophrenie spricht, formuliert Freud, „dieser ... Heilungsversuch bedient sich aber nicht wie bei der Paranoia der Projektion, sondern des halluzinatorischen (hysterischen) Mechanismus“ (Freud 1911, S.313).
Im Jahre 1987 kehrte ich wieder zur Beschäftigung mit Schreber zurück, aber folgte diesmal Freuds zweifachem Rat, die Meinung anderer Leute über einen Fall zunächst einmal nur als Behauptung zu nehmen und sich ganz auf den eigenen Eindruck zu stützen, um dann, vor einer erneuten Lektüre von Freuds Darstellung von Schreber, „sich vorher mit dem Buche (Schrebers) wenigstens durch einmalige Lektüre vertraut zu machen“ (Freud 1911, S.242). Indem ich gerade das tat und Freuds Aussagen über Paul Schreber mit dem verglich, was Schreber selbst sagte, war für mich der Schluß  unausweichlich, daß Freud und später andere nicht wirklich auf Schreber hörten, sondern eigenen Vorannahmen folgten. Es ist anzumerken, daß Freuds klinische Fälle, die die Dynamik von Homosexualität und Paranoia illustrieren sollten, vornehmlich Frauen waren und erst sehr viel später auch Männer (Freud 1922b). So war Freuds Analyse von Schreber ein Beispiel für angewandte Psychoanalyse und Schrebers Text wurde als Paradigma verwandt, als eine Illustration für eine bereits bestehende klinische Theorie (Lothane 1996a, 1997a). Dabei ging jedoch die historische Person Schreber in der Fülle der Interpretationen verloren.
In zwei aufeinander folgenden Artikeln (1989a, 1989b) stellte ich eine erste Neubewertung der deskriptiven, diagnostischen, dynamischen und dialektischen Aspekte von Paul Schrebers Geschichte dar. Es stellte sich mehr und mehr heraus, daß Schreber als Patient falsch beschrieben, falsch diagnostiziert, mißverstanden und falsch behandelt worden war. Die historische Überlieferung mußte korrigiert werden. Aufbauend auf der Forschung meiner Vorgänger entwickelte ich meine eigenen Befunde in meinem Buch „In Defence of Schreber: Soul Murder and Psychiatry“ und das [111] Thema entwickelt sich immer noch weiter (Lothane 1993a, 1993b, 1993c, 1993d; 1994a, 1994b, 1994c, 1994d, 1994e; 1995a, 1995b, 1995c, 1995d, 1995e).
Paul Schrebers Geschichte wurde nicht in der Weise aufgenommen, wie er sie erzählte und ausdrückte. So wurde nicht der ganze Titel und Text der „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ (1903) in Betracht gezogen, der die ganz entscheidenden Berufungsbegründungen enthält, wie sie von Schreber selbst verfaßt wurden, und ebenso nicht ein Anhang über forensische Psychiatrie. Dies aber ist eine grundlegende Voraussetzung für jede Betrachtung von Unterlagen, die bei posthumer Forschung entdeckt wurden. Diese Forschung hat unser Wissen über Einzelheiten von Schrebers Biographie erweitert, hat aber Schrebers Selbstbeschreibung nicht substantiell verändert. Darüberhinaus erbrachte meine Richtigstellung zweier weit verbreiteter Mythen über Vater und Sohn einen ethischen Ertrag: Sie stellten eine posthume Rehabilitation von Moritz und Paul Schreber dar, die in verschiedener Weise entstellt dargestellt worden waren. So war der angebliche Sadismus von Moritz Schreber keineswegs belegbar und sein Sohn Paul litt unter einer stärkeren Depression, zeigte aber kein homosexuelles Verhalten oder homosexuelle Konflikte. Schreber spielte mit Phantasien einer Geschlechtsverwandlung und hat in privatem Kreis auch Frauenkleider ausprobiert, was Freud in seiner dynamischen Bedeutung nicht ausreichend würdigte.

Posthume Verleumdung oder historischer Rufmord (Seelenmord)

Zu seinen Lebzeiten wurde Paul Schreber als psychotischer Paranoiker verleumdet, ein Fall von Rufmord, gegen den Paul Schreber sich sehr heftig selbst verteidigte, während posthum diese vermeintliche Paranoia als ein Modell genommen wurde, um Hitlers angebliche Paranoia zu erklären. In diesem Beitrag möchte ich abschließend die verleumderische Verknüpfung von Vater und Sohn Schreber mit Adolf Hitler und dem Nazi-Totalitarismus untersuchen (Lothane 1989b, 1992, 1996b), der immer noch einige Intellektuelle anhängen (Dinnage 1994), die ich in meiner Antwort auf Dinnage (Lothane 1994e) widerlegte und kürzlich noch einmal in meinem Artikel in „Die Zeit“ (1995a) diskutierte. Ich verwende zur Bezeichnung einer solchen Verknüpfung absichtlich das Wort Seelenmord, das Paul Schreber in den „Denkwürdigkeiten“ benutzte. Es ist ein alter Rechtsausdruck, [112] nicht ein schizophrener Neologismus, durch den er seiner Klage Ausdruck gab, daß er als Insasse einer Anstalt für geistig Kranke entehrt war, Opfer einer seelenmordenden Grausamkeit war und seiner bürgerlichen Rechte beraubt war, all das als Konsequenz eines ärztlichen Kunstfehlers in seiner Behandlung, der gegen seinen erklärten Willen seinen Aufenthalt im Krankenhaus der Universität Leipzig beendete und seine zwangsweise Aufnahme in einer öffentlichen Irrenanstalt durchsetzte, ein beschämendes Ende für einen hochrangigen Juristen. Ich sehe in der Verknüpfung von Schreber mit Hitler den neuerlichen Fall einer Art Kunstfehler im weiteren Sinne: Eines historischen Kunstfehlers oder historischen Seelenmordes. Ich habe das entehrende einer solchen Verknüpfung anläßlich der Pathographie von Wolfgang Dreher „Schreber, Steiner und Hitler“ ausgeführt (Lothane 1989b). Ich setzte mich dabei auch mit Annahmen von Schatzman und Niederland auseinander. Doch haben sich neue Fakten seit damals ergeben.
Durch Sander Gilman wurde mir bekannt, daß die erste Verknüpfung zwischen Schreber und Hitler von dem österreichisch-jüdischen Schriftsteller, Essayisten, Humanisten und Pazifisten Arnold Zweig (1887-1968) stammte (Lothane 1994c). Zweig war ein Freund der Ostjuden und von Martin Buber, der nach dem Ersten Weltkrieg das Gewissen der Welt mit dem Portrait des Sergeanten Grischa erschütterte. Er lebte später in Palästina und kehrte nach einer Reihe von Enttäuschungen nach dem Zweiten Weltkrieg in das frühere kommunistische Ostdeutschland zurück, wo er starb.
Als Bewunderer und Briefpartner von Freud (Freud-Zweig-Briefwechsel 1968), las Arnold Zweig Freuds epochale Analyse von Schrebers „Denkwürdigkeiten“ von 1911. In einem 1933 nach Hitlers Machtergreifung geschriebenen Buch „Bilanz der deutschen Judenheit“ (1991) machte Zweig den mutigen Versuch, den Aufstieg der nationalsozialistischen Tyrannei, die Unterwerfung Deutschlands unter den Totalitarismus und die schwarze Flut des Antisemitismus gedanklich in den Griff zu bekommen. Er hatte den Anspruch, diese Entwicklungen durch Hitlers Pathologie erklären zu können, und zwar über Schrebers Pathologie. Ein solches Vorgehen wirft ernste methodologische Fragen für Historiker, Psychohistoriker, Psychoanalytiker und Psychiater auf: Welche Rolle spielt die Pathologie einer Person für das Verhalten des Führers und seiner Anhänger im Zusammenhang einer Gesellschaft und einer politischen Vereinigung; wie ethisch [113] ist es, lebende Personen ohne deren Zustimmung zu analysieren; ist es legitim, sich auf Psychoanalyse und Psychohistorie in einer Biographie zu stützen, ohne die Aussagen mit der historischen Forschung in Zusammenhang zu bringen?
Lassen Sie mich meine eigene Position darstellen. Zum Ersten reicht die individuelle Pathologie eines Führers für sich allein nicht aus, um die Beziehung zwischen dem Verhalten des Führers und der Gruppe oder den Massen, die ihm folgen zu erklären, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil kein Führer in einem sozialen und politischen Vakuum handelt. Die überwältigende Masse der Schriften Freuds beschäftigt sich mit der Psychologie des Individuums, und nur eine mit der Psychologie von Gruppen und Massen, die die Dynamik zwischen dem Führer und seinen Anhängern zu erforschen sucht (Freud 1921), was viele, nicht nur Zweig, übersehen haben. Ich habe diese Thematik in einem kürzlich erschienen Artikel beschrieben (Lothane 1997b). Zum Zweiten sollte man sich bei der psychologischen Beschreibung von lebenden Personen vor generalisierenden Feststellungen nach allgemeinen Schemata hüten. Es scheint mir riskant und ethisch fragwürdig zu behaupten, man könne jemanden ohne seine Zustimmung und Bestätigung analysieren. Zum Dritten ist es meiner Meinung nach notwendig, Hermeneutik und Geschichtswissenschaft miteinander zu verbinden, denn, nach dem Vorbild Kants formuliert, Hermeneutik ohne Geschichte ist leer und Geschichte ohne Hermeneutik ist blind.
Ohne viel von der Lebenswirklichkeit von Schreber zu wissen, aber großzügig mit hermeneutischen Schlußbildungen arbeitend, fand Zweig eine Parallelität, eine Identität und eine „klinische Entsprechung“ zwischen dem „paranoiden“, antisemitischen, nationalsozialistischen „Phänomen eines Massenwahns“ und „dem klassischen Zeugnis der wahrhaft genialen Selbstbeschreibung, die der geisteskranke, entmündigte und ungewöhnlich scharfsinnige Dresdner Senatspräsident Dr. Daniel Paul Schreber seiner eigenen Person gewidmet hat: „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“. Ich kritisiere nicht Zweigs Analyse der Irrationalität der „völkischen Naziideologie“, aber ich kritisiere sehr wohl die Verwendung der „Denkwürdigkeiten“ als Erklärung dieser Ideologie und seine negative Einstellung zu Schreber.
Ich erwarte nicht, daß Zweig die Diskussionen über Schreber in der deutschen psychiatrischen Literatur gelesen hat, oder auch die positiven [114] Besprechungen seines Buches in den Fachzeitschriften, da die meisten dieser Veröffentlichungen unbeachtet blieben und bis heute vergessen sind. Die erste Diskussion des Falles Schreber in der Literatur stammte von dem bemerkenswerten Otto Groß  (1904), ein Jahr vor der anonymen Diskussion über Schreber durch seinen Psychiater Guido Weber (1905). Während Weber diagnostizierte, daß Schreber an einer Paranoia litt, einer chronischen Hirnerkrankung, war Groß der erste, der eine Differentialdiagnose durchführte und daraufhin für das Vorliegen einer Schizophrenie argumentierte. Der Artikel von Groß und seine Diagnose einer Schizophrenie wurden von Jung (1907) und Bleuler (1911) zitiert aber nicht von Freud. Schreber wurde auch von Kraepelin zitiert und ausführlich von Jaspers (1913). Keiner der genannten Autoren führte jedoch eine wirkliche Differentialdiagnose durch oder zog die rechtlichen Aspekte des Falles in Betracht.
Aus einer feindseligen Einstellung gegenüber Paul Schreber dämonisierte Zweig ihn in einer sarkastischen Weise und verdrehte den Sinn seiner Worte in dem Buch „Das Beil von Wandsbek“, das zuerst 1944 veröffentlicht [115] wurde: „Das Buch (Schrebers) enthielt den zumeist sehr freimütigen Bericht eines hohen Juristen, ... über seinen Zusammenstoß mit der Außenwelt bei der Erfüllung einer einmaligen Mission, die Gott der Herr ihm, und keinem anderen, auferlegte ... die Welt zu erlösen. Dies sollte dadurch geschehen, daß er den Messias gebar und zu diesem Zweck in ein Weib verwandelt wurde, welches dem Beischlaf unterlag ... Aber eine Weltverschwörung hatte sich gegen diesen Erlösungsplan erhoben, entschlossen, dem Dr. Schreber diese Auszeichnung nicht zu gönnen, ihm seine Mitwirkung vielmehr kräftig zu versalzen. Die teuflischsten Mächte ... gehörten vor allem der Studentenverbindung Saxonia ... die bedienten sich dazu des Anstaltsarztes Dr. Flechsig ... Nun aber kam das Überraschende, da  es dem Dr. Schreber ... gelungen war, sich durch nichts als den eigenen Scharfsinn, die Logik und Beweiskraft seiner Eingaben und Schriftstücke aus dieser Internierung zu befreien und sogar die Entmündigung aufzuheben“ (Zweig 1979, S.250-251). Paul Schreber hat nicht gesagt, er würde einen Messias gebären. Er hat nicht gesagt, es gebe eine Weltverschwörung gegen diesen Plan, oder daß Studenten des Corps Saxonia Flechsig gegen ihn aufhetzten. Seine Phantasien, eine Frau zu werden, hatten eine ganz andere Bedeutung (Lothane 1992, 1993c).
Das gewichtigere von Zweigs Problemen war seine ungerechtfertigte Gleichsetzung von Massenpsychose und individueller Pathologie, das weniger bedeutsame seine schroffe und voreingenommene Einstellung gegenüber Paul Schreber. Der Zusammenhang in der Beziehung zwischen Führer und Masse war schon vor Freud hergestellt worden, z.B. in Tolstois „Krieg und Frieden“ in bezug auf Napoleon.
Zweig zitierte nicht Freuds These, daß Paranoia durch unterdrückte und projizierte Homosexualität verursacht ist. Doch war Zweig fähig, allen Ernstes festzustellen, daß der „maßlose Uniformtrieb des Deutschnationalismus“ sich widerspiegelte „im Falle des Dr. Schreber durch Verwandlungen, die an seinem Körper vor sich gehen werden“ (Zweig 1979, S.77), und dies, obwohl auch nicht die Spur einer Ähnlichkeit und Analogie zwischen solchem Massenverhalten und Schrebers Vorstellungen über seinen Körper bestehen, wie etwa die Wunder, mit denen Gott ihn verfolgte, oder seine Phantasien, daß er sich in eine Frau verwandele oder da  er sich mit Bändern schmückte, ganz abgesehen von den Ursachen und Absichten solcher Vorstellungen und Inszenierungen. Im Bann solcher Vergleiche glaubte Zweig, er könne „vertauschen ... den unglücklichen Dr. Schreber [116] mit den völkischen Agitatoren und Gläubigen“ (Zweig 1979, S.79-80). Hier übertreibt und simplifiziert Zweig wiederum. Einerseits bauten die Ideologen von Hitlers Drittem Reich bewußt und absichtlich ihre Innen- und Außenpolitik auf einem Fundament von Rassismus und antisemitischer Propaganda auf, indem sie die Juden zu ihren Feinden erklärten. Auf der anderen Seite nannte Schreber nur einen wesentlichen Verfolger in seiner Lebenssituation, und zwar seinen Psychiater Professor Flechsig, der wie Satan im Fall von Hiob den allmächtigen Gott dazu verführte, den armen Schreber in den verschiedensten Weisen zu quälen, was in bezug auf Flechsig eine Einbildung war, aber einen Kern von Wahrheit enthielt. Hitler andererseits war der Führer eines totalitaristischen Staates, der durch die Macht der Armee, der Polizei und des Rechtssystems unterstützt wurde. Wie der nationalsozialistische Rechtsprofessor Carl Schmitt feststellte, „durchdringen und erfassen (die Nürnberger antijüdischen Rassengesetze) unsere ganze Auffassung vom Recht. Auf sie wird sich in Zukunft Moralität, Ordnung, Anstand und öffentliche Moral beziehen. Sie sind der Grund für Freiheit, das Kernstück modernen germanischen Rechtswesens“ (zit. n. Tenenbaum 1956, S.4). Diese Position wurde in die nationalsozialistische Verfassung aufgenommen (Huber 1937). Andererseits ist wahr, daß in dem Schrecken des Zusammenbruchs der Weimarer Republik die verunsicherten Massen durch Erlösungsversprechen eines Rattenfängers verführbar waren, wie sie von den Ideologen und Propagandisten angeboten wurden. Zweig vermengte die vielen Wurzeln von Haß, Vorurteilshaftigkeit und Verfolgung des fundamentalen Bösen, um Kants Ausdruck zu verwenden, mit einer schnell getroffenen psychiatrischen Diagnose und den Machenschaften eines einzelnen Agitators.
Der Gipfel von Zweigs Verleumdung von Schreber war die Gleichsetzung von Hitlers haßerfülltem „Mein Kampf“ mit den so achtbaren „Denkwürdigkeiten“. Dabei parallelisiert Zweig Hitlers „Mischung von besessener Propaganda, abgestandenen Brocken einer kümmerlichen Autodidaktenbildung, schlagkräftig falschen Bildern“ und „die unheimliche Geschwätzigkeit, den affektgedrängten Vortrag und von Gedankenflucht zeugenden Schachtelsätze“ mit „das unheimliche Durch- und Nebeneinander von Wahn und geistiger Schlagkraft ... (von) Dr. Schreber, ... (der) etwa vermochte sich durch die verstandhafte Schärfe seiner Schriftsätze aus der Entmündigung sich zu befreien“ (Zweig 1979, S.87). Er setzte diese Vergleiche in „Das Beil von Wandsbek“ fort. In Wirklichkeit war das Verhältnis zwischen Schreber, seinen Ärzten und seinen Pflegern ganz [117] anders. Schreber mag nicht einfach zu verstehen gewesen sein, aber während seines Aufenthaltes bei Flechsig hatte der junge Dr. Teuscher keine Schwierigkeit, zu ihm eine verstehende und herzliche Beziehung zu haben, was Schreber dankbar anerkennt. Von den anderen Ärzten, Flechsig, Pierson und Weber, kann man nicht sagen, daß sie aus ihrer Berufsrolle herausgingen, um besondere Sympathie für Schreber zu zeigen. Doch, wie ich an anderer Stelle feststellte: „Der Fehler dieser Analogieschlüsse bei Zweig ist nur zu offensichtlich ... Antisemitische Vorurteile Paranoia zu nennen ist genauso, wie wenn man den katholischen Glauben an die unbefleckte Empfängnis einen Wahn nennen würde, und nichts als ein Spiel mit Worten. Die Anwendung des Begriffes Paranoia auf die Massenmörder des Holocaust ist eine Entwürdigung der Toten und Gequälten. Im gleichen Atemzug die unschuldigen Träume eines Mannes, der Opfer eines psychiatrischen und rechtlichen Systems war, mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vergleichen ist mehr als ein Mißverständnis - es ist eine Entstellung der Wahrheit und ein Bruch ethischer Grundwerte“ (Lothane 1994c).
Zweigs voreingenommene Einstellung gegenüber Schreber steht in starkem Kontrast zu der der Richter am Oberlandesgericht Dresden, an dem Schreber vor seiner Erkrankung arbeitete, die ihm Respekt zeigten und seine Entmündigung aufhoben. Man vergleiche dies auch mit Freuds Bezeichnung von Schrebers rechtlichem Erfolg als „Triumph“ - da ist nicht zweifelhaft, auf welcher Seite Freud steht. Andererseits reagierte Freud nicht auf die Kernaussagen des Buches von Zweig oder auf Zweigs Bemerkungen über Schreber und Hitler, als er die Fahnenabzüge der „Bilanz“ von Zweig erhielt (Freud/Zweig 1968).
1960 wurde Zweigs Mythos ohne irgendeine Erwähnung der Quelle von dem bis heute noch einflußreichen deutschen Essayisten Elias Canetti, einem ursprünglich bulgarischen Juden, in einem Essaybuch „Masse und Macht“ wiederentdeckt (Santner 1996). Entgegen dem Versprechen im Titel behandelt Canetti in seinem Buch nicht die Dynamik zwischen dem Führer und den Massen, wie sie von Freud (1921) diskutiert wurde, sondern nur die Anwendung der Psychologie einer geisteskranken Person auf einen geistig gestörten Führer, wobei er die Argumente Zweigs kopiert. Ich habe bereits an anderer Stelle Canetti für seinen verleumderischen Seelenmord an Schreber kritisiert. „Paul Schrebers Paranoia - seine Verfolgungsgefühle gegenüber Flechsig und seine phantastischen Wahnvorstellungen [118] von Seelenarmeen - wurden (von Canetti) gleichgesetzt mit der Paranoia, der Machtgier und den Taten solch grausamer Eroberer wie Dschingis Khan, Tamerlan und Hitler. Die Paranoia von Schreber wurde dabei als ein Erklärungsparadigma genommen. Abgesehen davon, daß die ersten beiden im Gegensatz zu Hitler noch nicht als paranoid bezeichnet waren, ging es Canetti vor allem um die Paranoia Hitlers, die er durch lange Zitate aus den „Denkwürdigkeiten“ zu erklären versuchte. Diese Vorstellung ist nicht nur falsch und widersinnig: sie ist ein Mißbrauch einer psychiatrischen Diagnose und ein Angriff auf das Andenken Paul Schrebers“ (Lothane 1992, S.353).
Nach Canetti wurde die Verleumdung der Schrebers von Kohut (1971) fortgesetzt, der nun die angenommene Psychose Hitlers mit der angenommenen Psychose von Paul Schrebers Vater, Moritz Schreber, gleichsetzte, was eine neuerliche Verdrehung ist. Von den Schriften Niederlands ausgehend nahm er beim Vater Schreber an, daß er „eine besondere Art von psychotischer Charakterstruktur habe - wahrscheinlich eine Art postpsychotischer Charakterveränderung, ähnlich der vielleicht von Hitler ..., die sich aus einer hypochondrischen Phase heraus mit der fixen Idee entwickelte, daß die Juden den Körper Deutschlands infiltrierten und deshalb ausgelöscht werden müßten“ (Lothane 1992). Dies ist ein diagnostischer Mischmasch, wo alles möglich ist, denn sicher muß man nicht eine Psychose oder psychotische Charakterveränderung haben, um Juden zu hassen, oder um - wie es der antisemitische Historiker Treitschke tat - die Juden als Unglück Deutschlands anzusehen oder um zu fordern, und dies auch schon lange vor Hitler, daß Deutschland judenrein werden müsse. Kohut sah in der revidierten Ausgabe von 1891 von Moritz Schrebers ursprünglichem Buch von 1858 über Kindererziehung „Kallipädie“, das von dem Herausgeber Hennig 1891 den neuen Titel „Das Buch der Erziehung an Leib und Seele“ erhielt, den „Ausdruck eines verborgenen psychotischen Systems“ (Lothane 1992, S.353). Soviel zu der globalen Diffamierung des Vaters.
Den nächsten Schritt machte Schatzman, der die Behauptung aufstellte, daß sowohl die psychotischen „Offenbarungen“ des Sohnes wie auch die Erziehungsmethoden des Vaters, wie er sie der „Kallipädie“ entnahm, Vorläufer von Hitlers Antisemitismus und seinem von Haß durchtränkten „Mein Kampf“ seien, einem Buch, das heutzutage in Deutschland verboten ist. „Ich bin nicht der einzige", meinte Schatzman, „der eine mögliche Verbindung zwischen der mikrosozialen Despotie in der Familie Schreber und [119] der makrosozialen Despotie des Nazi-Deutschland vermutet. Auch der Romancier und Soziologe Elias Canetti stellt in seiner Abhandlung über Masse und Macht (1960) ähnliche Überlegungen an“ (Schatzman 1978, S.141).
Aber Elias Canetti konnte keineswegs so der gleichen Meinung gewesen sein, weil er weder von der Familie Schreber wußte noch darüber schrieb. Canetti hat keinen Vergleich zwischen Moritz Schreber und Hitler gemacht, Canetti hat nur Paul Schreber und Hitler verglichen! Doch es stört Schatzman nicht, im gleichen Atemzug hinzuzufügen: „Er (Canetti) erwähnt Schrebers Vater nicht; lediglich auf Grund der Denkwürdigkeiten weist er auf den Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus hin. Über die Auffassung des Sohnes über Gottes Machtsystem stellt er (Canetti) fest:  'Wir  werden bei Schreber ein politisches System von beunruhigender Vertrautheit finden'" (Canetti 1960, S.511, Schatzman 1978, S.141).
Welche „Fesstellung“ ist das? Offensichtlich hat Schatzman jeden Anspruch auf eine konsistente Darstellung über Bord gehen lassen. Freilich hat Canetti den Vater nicht erwähnt, aber darum die „Denkwürdigkeiten“ als „Ausgangsdaten“ zu verwenden, gleicht der Logik des Wolfes, der die flußabwärts trinkenden Schafe anklagte, das Wasser zu verschmutzen.
Schatzman zitiert Canetti in folgender Weise:
„Und wiederum mit Blick auf die Offenbarungen des Sohnes sagt Canetti: 'Man wird nicht leugnen können, daß sein (Schrebers, des Sohnes - Morton Schatzman, Z. L.) politisches System es einige Jahrzehnte später zu hohen Ehren gebracht hat. Es wurde in etwas roher und weniger 'gebildeter' Fassung zum Credo eines großen Volkes. Es hat ... zur Eroberung des europäischen Kontinents und um ein Haar bis zur Weltherrschaft geführt. Schrebers Ansprüche sind damit von seinen ahnungslosen Jüngern nachträglich anerkannt worden. Von uns läßt sich dasselbe nicht gut erwarten. Wohl aber soll die unwiderlegbare Tatsache einer weitgehenden Koinzidenz der beiden Systeme als Rechtfertigung dafür dienen, daß hier aus einem einzigen Fall von Paranoia so viel Wesens gemacht wird'" (Canetti 1960, S.515, Schatzman 1978, S.141f).
Aber der arme, unschuldige Paul Schreber hat kein politisches Machtsystem beschrieben, sondern nur die Macht seiner Psychiater und des Entmündigungsgesetzes, wodurch er auf dem Sonnenstein gegen seinen [120] erklärten Willen festgehalten wurde. Es gibt also keine Koinzidenz und die angebliche Paranoia eines Individuums hat keinen Erklärungswert für die Massenparanoia des Nationalsozialismus (s. Rauschning 1938). Man mag nun Paul Schreber und seine „Denkwürdigkeiten“ als schiere Verrücktheit ansehen, obwohl das nicht richtig ist, aber die Behauptung, Schreber habe ein politisches System zur Eroberung der Welt gehabt oder die Nazis seien seine unwissenden Schüler gewesen, ist noch wesentlich verrückter. Warum nicht dann auch behaupten, daß die „Denkwürdigkeiten“, von denen nur wenige die Vernichtung durch ein Famlienmitglied überlebten, regelmäßig an die Naziführer zusammen mit „Mein Kampf“ verteilt wurden? Und was den Vater angeht sagt Schatzman warnend: „Wir erinnernuns: Hitler und seinesgleichen wuchsen in einer Zeit auf, als Dr. Schrebers den Familientotalitarismus predigende Bücher populär waren“ (Schatzman 1978, S.141).
Zum ersten ist die Anwendung des Ausdruckes Totalitarismus auf Schrebers Familie, wie negativ man auch immer über Moritz Schreber denken will, eine Verleumdung und Verunglimpfung, wenn man das politische Phänomen des Totalitarismus ernst nimmt. Zum zweiten wurde Hitler 1889 geboren und wuchs in dem kleinen österreichischen Ort Braunau, in der Nähe von Salzburg, auf, wo Schreber wohl kaum bekannt gewesen sein dürfte. Zum dritten waren Schrebers Bücher über Erziehung, in denen er sich gegen die körperliche Züchtigung von Jugendlichen wandte, am Ende des Jahrhunderts vergessen, während die Generation, die um 1910 und später geboren wurde, die Söhne der geschlagenen Väter, die aus dem Ersten Weltkrieg zurückkamen, in einer Atmosphäre deutlich erhöhter körperlicher Gewalttätigkeit aufwuchsen (Hävernick 1964). Es ist diese Generation, die im Geiste eines Nazi-Militarismus und einer Nazi-Ideologie aufwuchs, die zusammen mit der früheren Generation von Hitler und der Parteihierarchie die Grundlagen für die Nazityrannei legte.
In bezug auf den Vater Schreber behauptet Schatzman weiter: „In Hitlers „Mein Kampf“ gibt es viele Stellen, die den Ansichten Dr. Schrebers gleichen. Wie Dr. Schreber verabscheut Hitler das, was er als Schwäche, Faulheit, Weichlichkeit und Trägheit bezeichnet ... Hitlers Haltung gegenüber den „Massen“ gleicht den offensichtlichen Gefühlen Dr. Schrebers gegenüber Kindern, sie ist jedoch viel zynischer: „Die Psyche der breiten Masse ist nicht empfänglich für alles Halbe und Schwache. Gleich dem Weibe, [121] dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird, als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmäßigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem Starken beugt, als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden, und fühlt sich im Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiß mit ihr auch meist nur wenig anzufangen und fühlt sich sogar leicht verlassen. Die Unverschämtheit ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewußtsein, wie die empörende Mißhandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise. So sieht sie nur die rücksichtslose Kraft und Brutalität ihrer zielbewußten Äußerungen, der sie sich endlich immer beugt.“ (Schatzman 197`8, S.142).
Wieder dieser empörende Vergleich zwischen Schreber und Hitler. Die historische Wahrheit ist, daß Weichheit ebenso von dem großen medizinischen Vorgänger von Moritz Schreber, dem aufgeklärten preußischen Arzt C. W. Hufeland „verabscheut“ wurde (Lothane 1992). Doch können wir ebensowenig Hufeland für den deutschen Militarismus der Wilhelminischen Epoche, der zum Ersten Weltkrieg beitrug, oder für den Militarismus des Dritten Reiches, der zum Zweiten Weltkrieg führte, verantwortlich machen, wie Moritz Schreber, einen Antimilitaristen, der den Regierungen empfahl, weniger Geld für Munition auszugeben und mehr für Schulen. Diesmal überlasse ich es der Wahl des Lesers, die Worte zu finden, die einen solchen Vergleich von den integeren Schriften von Moritz Schreber und seinem Sohn mit den haßerfüllten Botschaften Hitlers, die zur Zeit in Deutschland verboten sind, charakterisieren könnten.
Der Vorgänger von Schatzman in der Schreber-Forschung Niederland ging auf dieser Linie noch einen Schritt weiter, wobei er wohl mehr Kohut als Schatzman folgte. Aufgebracht durch die Tatsache, daß Schatzmans Buch in nur einem Jahr ein Bestseller wurde, was ihn sehr schmerzte, rediagnostizierte Niederland (1974) Paul Schreber als eine paranoide Persönlichkeit. Doch hatte er keinerlei klinische Basis für eine solche Diagnose. Zum Vater sagte er dies: „Mit dem missionarischen Eifer des Reformers scheint er (Moritz Schreber) diese ursprünglich auf orthopädische Methoden begrenzten Ideen zu einem allgemeinen System der Körperertüchtigung ausgeweitet zu haben, als sein Mittel zur Förderung der [122] Gesundheit durch die landesweite Übernahme solcher Übungen. Seinen hygienisch-therapeutischen Prinzipien fügte er noch weitere Ideen über Disziplin, Moral und Religion hinzu und fügte dies alles zu einem reglementierten Erziehungssystem für Eltern und Lehrer zusammen, so daß daraus eine praktische Lebensanweisung wurde. Es überrascht vielleicht nicht, daß Schrebers Biograph Ritter, der sowohl Schreber wie auch Hitler bewunderte, im ersteren eine Art geistiger Vorläufer des Nazismus sah“ (Niederland 1974, S.65).
Hier wimmelt es wieder von beziehungsreichen Beiworten und ausschweifenden Generalisierungen - missionarischer Eifer, allgemeines System, landesweite Annahme, reglementiertes System - worin sich eine übertreibende und verzerrende Rezeption von Moritz Schrebers Werken spiegelt, die ich in meinem Buch in einer historischen Weise würdige (Lothane 1992). Tatsache ist, daß Moritz Schrebers konservative (nicht operative) orthopädischen Methoden spezifische orthopädische Probleme betrafen, während seine Ideen über Körperhaltung und Körperübung noch heute Gültigkeit haben und eine Grundlage für moderne Rehabilitationsmedizin bilden (Brauchle 1971, Lothane 1994e). [123]
Zudem waren, wie oben angemerkt, seine Erziehungsmethoden und seine Schriften, die zum großen Teil ausgesprochen menschlich waren und milder als jene anderen, die unter die Rubrik der Schwarzen Pädagogik fielen, in Deutschland nicht weit verbreitet oder weithin angenommen. Sie wurden am Ende des Jahrhunderts vergessen, wie dies Alfons Ritter dokumentiert hat. Entgegen den Angaben von Niederland hat Ritter nichts über die Erziehungsmethoden von Schreber und die Erziehung im Nazi-Staat gesagt, noch hat er gesagt, daß Moritz Schreber ein Vorläufer der Nazis gewesen sei: Lediglich im Vorwort seiner Doktorarbeit von 1935/36 hatte Ritter eine Verbindung zwischen dem Naziideal von Blut und Boden mit den Schrebergärten hergestellt, die tatsächlich von ihm nicht gegründet wurden und nur nach seinem Tod nach ihm den Namen erhielten. Ritter tat nicht mehr, als der herrschenden Ideologie der Nazi-Partei seine Referenz zu erweisen, die zu dieser Zeit die Universitäten kontrollierte und eine solche Referenz verlangte. [124]

Zusammenfassung

Die Geschichte von Unmenschlichkeit von Menschen gegenüber Menschen ist so lang wie die Geschichte der Menschheit selbst und besteht noch heute fort; und wir haben es noch mehr als früher nötig, aus der Geschichte moralische Lehren zu ziehen. Es ist aber auch eine Erfahrung, die soweit reicht wie die Geschichte selbst, da  solche Lehren immer ignoriert werden.
Die Schrebers, Vater und Sohn, kamen aus einer an der Bibel orientierten Tradition eines deutschen Pietismus und den humanistischen Ideen Immanuel Kants u. a., wobei jeder in seiner Weise den Anspruch hatte, ein Lehrer der Menschheit zu sein. Sie waren nicht vollkommen, aber sie waren integer. Von den beiden war der Sohn noch tiefschürfender als der Vater, denn er verstand die befreiende Macht der Wahrheit und die rohe brutale Gewalt der Unterdrückung besser, da er beides am eigenen Leibe erfahren hatte. Sein Buch war ein Werk der Selbstrechtfertigung und Befreiung und eine Botschaft über die Bewahrung der individuellen Freiheit gegenüber den Ansprüchen totalitärer Macht sowohl für seine Zeit wie auch für die Zukunft.
Es ist ein alter jüdischer Glaube, daß der, der eine Seele rettet, die ganze Welt rettet und die Ankunft des Messias näher bringt. Darin ist die Mahnung an den Einzelnen ausgedrückt, Unrecht auch als Unrecht zu benennen. Das ist der Grund, weshalb ich meine Energie dafür eingesetzt habe, die falschen Mythen zu zerstören, die um die Schrebers geschaffen wurden, um dadurch ihren guten Namen wiederherzustellen.

Literatur

Bleuler, E. (1911) Dementia Praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Leipzig: Deuticke.
Bleuler, E. (1912) Rezension von Freuds „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides)“ Zentralblatt Psychoanal. und Psychother. 2:343-348.
Brauchle, A. (1971) Zur Geschichte der Physiotherapie. In: W. Groh (Hrsg.) Naturheilkunde in Lebensbildern. Heidelberg: Karl F. Haug.
Canetti, E. (1960) Masse und Macht. Hamburg: Claassen.
Jung, C. G. (1911) Brief J 282. In: W. McGuire (Hrsg.) The Freud/Jung Letters. Princeton: Princeton United Press, 1974.
Dinnage, R. (1994) The grand delusion. Review of Lothane (1992). The New York Review of Books, March 3.
[125]
Freud, S. (1911) Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides), Gesammelte Werke, 8: 240-320.
Freud, S. (1918) Massenpsychologie und Ich-Analyse. Gesammelte Werke, Band 13.
Freud, S. (1922) Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität. Gesammelte Werke, 13:195-307.
Freud, Sigmund/Zweig, Arnold (1968) Briefwechsel. Herausgegeben von Ernst L. Freud. Frankfurt: Fischer.
Gross, 0. (1904) Über Bewußtseinszerfall. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, 15:45-51 (source: Martin Stingelin).
Hävernick, W. (1964) „Schläge als Strafe“ Ein Bestandteil der heutigen Familiensitte in volkskundlicher Sicht. Hamburg: Museum für Hamburgische Geschichte.
Huber, E. R. (1937) Verfassung. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt.
Jaspers, K (1913) Allgemeine Psychopathologie. Heidelberg: Springer, 1973.
Jung, C. G. (1907) Über die Psychologie der Dementia Praecox. Halle: Marhold.
Canetti, E. (1960) Masse und Macht. Hamburg: Classen.
Kraepehn, E. (1913) Lehrbuch der Psychiatrie. Leipzig: Barth.
Lothane, Z. (1982) The psychopathology of hallucinations - a methodological analysis. British Journal of Medical Psychology, 55:335-348.
Lothane, Z. (1989a) 1989 Schreber, Freud, Flechsig and Weber revisited: an inquiry into methods of interpretation. Psychoanalytic Review, 79:203-262.
Lothane, Z. (1989b) Vindicating Schreber's father: neither sadist nor child abuser. Journal of Psychohistory, 16:263-285.
Lothane, Z. (1992) In Defense of Schreber: Soul Murder and Psychiatry. Hillsdale, NJ: The Analytic Press.
Lothane, Z. (1993a) Schreber's soul murder: a case of psychiatiic persecution. In: De Goei, L. & Vijselaar, J., eds. Proceedings 1st European Congress on the History of Psychiatry and Mental Health Care, 's-Hertogenbosch, Holland, 1990. Rotterdam: Erasmus, pp. 96-103.
Lothane, Z. (1993b), L'assassinio dell'anima di Schreber: un caso di persecuzione psichiatrica. Giornale storico di psicologia dinamica, 34:61-75.
Lothane, Z. (1993c), Schreber's feminine identification: paranoid illness or profound insight? International Forum of Psychoanalysis, 2:131-138.
Lothane, Z. (1993d) The Schreber Case Revisited, poster paper presented at the International Congress of Psychoanalysis, Amsterdam, July 27.
Lothane, Z. (1994a) Der Fall Schreber. Vortrag gehalten am 22.02.1994 an der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung.
Lothane, Z. (1994b) Pour une defense de Schreber: postscriptum 1993. Presented at the symposium „Schreber Revisit',“ C'risy-la-Salle, August 1993. In: Devreese, D., Lothane, Z., & Schotte, J., Schreber Revisit'.
Lothane, Z. (1994c) Review of S. Gilman's Hysteria Beyond Freud. The Case of Sigmund Freud, and Freud, Race and Gender. Psychoanalytic Books, 6:74- 87.
Lothane, Z. (1994d) Review of L. Sass's Paradoxes of Delusion: Wittgenstein, Schreber, and the Schizophrenic Mind. Psychoanalytic Books, 6:251-257.
Lothane, Z. (1994e) Letter to the Editor. New York Review of Books, November 3.
Lothane, Z. (1995a) „Freudsche Fehlleistung,“ Die Zeit, 418, April 28, p. 44.
Lothane, Z. (1995b) „EI caso Schreber: una revision.“ Revista Espanola de Neropsiquiatiia, 15:255-273.
Lothane, Z. (1995c) Rejoinder to David B. Allison and Mark S. Roberts, „Missing Schreber yet again“. Review of Existential Psychology and Pschiatry, 22:49-55.
Lothane, Z. (1995d) Der Mann Schreber: Ein Leben - Neue Sicht und Einsicht. Psychoanalyse im Widerspruch. 14:5-15.
Lothane, Z. (1995e) Die Wahrheit über Schreber: Ein Leben - Neue Sicht und Einsicht. In: Deutsche Psychoanalytische Vereinigung, Herbsttagung 1995, S. 95- 101.
Lothane, Z. (1996a) Le meurtre d'Ÿme de Schreber: un cas de pers'cution psychiatrique. In: L.-E. Prado de Oliveira (eds) Le Cas Schreber, la Paranoia et la Culture. Paris: L'Harmattan, in press.
Lothane, Z. (1996b) In defense of Sabina Spielrein. International Forum of Psychoanalysis, in press.
Lothane, Z. (1997a) The schism between Freud and Jung over Schreber: its implications for method and doctrine. International Forum of Psychoanalysis, in press.
Lothane, Z. (1997b) Ominipotence, or the delusional aspects of ideology, in relation to love and power. American Journal of Psychoanalysis, in press.
Niederland, W. G. (1974) The Schreber Case - Psychoanalytic Profile of a Paranoid Personality. New York: Quadrangle.
Rauschning, H. (1938) Die Revolution des Nihilismus. Zürich: Europa Verlag.
Santner, E. L. (1996) My Own Private Gen Daniel Paul Schreber's Secret History of Modernity. Princenton, NJ: Princenton University Press.
Schatzman, M. (1978) Die Angst vor dem Vater. Langzeitwirkungen einer Erziehungsmethode. Eine Analyse am Fall Schreber. Reibek b.H.: Rowohlt.
Schreber, D. P. (1903) Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage: „Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?“. Leipzig: Mutze.
Tenenbaum J. (1956) Race and Reich - The Story of an Epoch. New York: Twayne.
Weber, G. (1905) Ein interessanter Entmündigungsfall. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 62:402-406.
Zweig, A. (1979) Das Beil von Wandsbek. Königstein: Athenäum Verlag. Originally published in 1944.
Zweig, A. (1991) Bilanz der deutschen Judenheit. Leipzig: Reclam 1991. Originaly published in 1934, in Amsterdam by Querido.

Prof. Dr. Zvi Lothane
1435 Lexington Avenue
New York, N.J. 10128
USA
e-mail: e-mail an Zvi Lothane

Veröffentlicht in: Werkblatt Nr. 36, 1/1996: 108-127.